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ARMUT/166: Arm, ärmer, am ärmsten (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 134/Dezember 2011
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Arm, ärmer, am ärmsten

Menschen mit niedrigem Einkommen steigen immer häufiger ab

von Martin Ehlert und Jan Paul Heisig


Die soziale Ungleichheit in Deutschland nimmt zu, auch der Mittelstand befürchtet den Abstieg. Doch in den verschiedenen Einkommensschichten hat sich die Wahrscheinlichkeit zu verarmen über die letzten 25 Jahre sehr unterschiedlich entwickelt. Die Verarmungsquote stieg in den unteren Einkommensschichten von ca. 10 auf ca. 15 Prozent, während sie für die mittlere und die obere Einkommensschicht gleichmäßig niedrig geblieben ist.


Seit einigen Jahren beobachten Forscher einen stetigen Anstieg der sozialen Ungleichheit in Deutschland - ein Trend, der sich in einer wachsenden Armutsquote manifestiert. Auch in der Mittelschicht nimmt - ausgelöst durch die sozialpolitischen Reformen der letzten Jahre - die Angst vor dem Abstieg zu. Weil andauernde Arbeitslosigkeit heute schnell zum Arbeitslosengeld-II-Bezug führen kann, ist der Abstieg für die Mittelschicht ein realistisches Szenario und ein wichtiges Thema in öffentlichen wie wissenschaftlichen Diskussionen geworden.

Die Auseinandersetzung über das potenzielle Abrutschen der Mittelschicht gehört aber auch zu einer allgemeinen Debatte über die Verteilung von Risiken in westlichen Gesellschaften. Deren Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass tiefgreifende Veränderungen in allen Industrienationen zu einer Destabilisierung individueller (Erwerbs-)Biographien geführt haben: der Wertewandel, die wirtschaftliche und kulturelle Globalisierung, die Deindustrialisierung, der Anstieg der Beschäftigung im Dienstleistungssektor und wohlfahrtstaatliche Reformen.

Uneinigkeit herrscht in der Frage, wie sich diese Entwicklungen auf verschiedene Bevölkerungsgruppen ausgewirkt haben. Die eine Seite ist der Auffassung, dass Risiken heute in stärkerem Maße alle Gesellschaftsmitglieder gleich treffen. So hat beispielsweise Ulrich Beck bereits in seinem 1986 erschienenen Band "Risikogesellschaft" eine Auflösung der klassischen sozialen Schichtung durch die "Demokratisierung von Risiken" konstatiert. Auch die Vorstellung einer zunehmenden Prekarisierung der Gesellschaft folgt dieser Argumentationslinie: Kaum jemand in der heutigen Gesellschaft sei mehr vor unsicheren Verhältnissen geschützt. Dem gegenüber steht die Vorstellung, dass die Entwicklungen eher noch zu einer Verstärkung sozialer Ungleichheiten geführt haben, da sich die Risiken auf kleinere, benachteiligte Bevölkerungsgruppen konzentrieren. Dieser Auffassung zufolge ist eher von einer Kumulation von Nachteilen und einer Verfestigung der Sozialstruktur auszugehen.

Einen Beitrag zur empirischen Fundierung der Diskussion kann eine Untersuchung der Verarmungsrisiken verschiedener Einkommensschichten seit den 1980er Jahren leisten. Dazu wurden in der WZB-Abteilung Ungleichheit und soziale Integration Daten von Längsschnittstudien wie dem Sozio-oekonomischen Panel (SOEP) ausgewertet, die eine große Zahl individueller Einkommensverläufe enthalten.

Zunächst stellt sich die Frage, wie sich Mittelschicht und andere Schichten voneinander abgrenzen lassen. Einen Anhaltspunkt bietet das bedarfsgewichtete Nettohaushaltseinkommen. Durch die Bedarfsgewichtung soll das Einkommen von Mehrpersonenhaushalten mit dem von Einpersonenhaushalten vergleichbar gemacht und damit zumindest annähernd der Lebensstandard der Haushaltsmitglieder abgebildet werden.

Die Zuordnung zu den Einkommensschichten basiert auf dem Median der Einkommensverteilung. Medianeinkommen bedeutet: Eine Hälfte der Bevölkerung hat ein Einkommen zur Verfügung, das kleiner, die andere Hälfte ein Einkommen, das größer als das Medianeinkommen ist. Zur Mittelschicht gehören Menschen, deren Einkommen zwischen 80 und 150 Prozent des Medianeinkommens liegt. In den letzten Jahren betrug das bedarfsgewichtete Medianeinkommens etwa 1.500 Euro im Monat. Dementsprechend werden Beschäftigte mit einem Einkommen zwischen etwa 1.200 und 2.250 Euro der Mittelschicht zugerechnet. Menschen mit einem Einkommen unterhalb von 80 Prozent des Medians gehören zur unteren Einkommensschicht; wer ein Einkommen von mehr als 150 Prozent des Medians hat, wird zur oberen Einkommensschicht gezählt. Nach dieser Definition gehört etwa die Hälfte der Bevölkerung der Mittelschicht an. Die andere Hälfte verteilt sich in etwa zu 30 Prozent auf die untere Schicht und zu 20 Prozent auf die obere Schicht.

Der Begriff "Schicht" schließt etwas Dauerhaftes mit ein. Daher werden in der Analyse nur die Menschen berücksichtigt, die zwei Jahre hintereinander in derselben Einkommensschicht waren. Abstiege werden ebenfalls anhand des bedarfsgewichteten Haushaltseinkommens definiert: Ein Abstieg liegt vor, wenn das Einkommen die Armutsrisikoschwelle in Höhe von 60 Prozent des Medianeinkommens unterschreitet. Für einen Teil der unteren Einkommensschicht ist ein weiterer Abstieg nicht mehr möglich, weil ihr Einkommen bereits unterhalb der Armutsrisikoschwelle liegt. Menschen aus der unteren Einkommensschicht werden in der Analyse daher nur berücksichtigt, wenn sie zwei Jahre oberhalb der Armutsrisikoschwelle gelebt haben, ihr Einkommen also zwischen 60 und 80 Prozent des Medians betrug. Das trifft im Schnitt auf ungefähr 40 Prozent aus dieser Schicht zu.

Betrachtet man, wie sich der Abstieg in die Armut in den verschiedenen Einkommensschichten über die Zeit entwickelt hat, wird deutlich, dass Menschen in der untersten Einkommensschicht deutlich häufiger unter die Armutsschwelle geraten als diejenigen in den anderen Einkommensschichten. Über 10 Prozent der Beschäftigten mit niedrigem Einkommen werden im Schnitt innerhalb eines Jahres arm; sie haben also weniger als ca. 900 Euro zur Verfügung. Aus der Mittelschicht steigen dagegen durchschnittlich nur ungefähr 2 Prozent ab; wer ein höheres Einkommen hat, ist so gut wie nie betroffen. Dies ist zunächst nicht verwunderlich, da die untere Schicht schon sehr viel näher an der Armutsschwelle ist und schon geringe Einkommensverluste einen Abstieg hervorrufen können. Um auszuschließen, dass die Ergebnisse von kleinen Einkommensschwankungen beeinflusst werden, wird ein Abstieg nur dann miteinbezogen, wenn er mit einem substanziellen Einkommensverlust von mindestens 10 Prozent einhergeht. Diese erste Betrachtung macht bereits deutlich, dass Abstiegsrisiken deutlich ungleich verteilt sind: Die Mittelschicht und die Oberschicht sind nur äußerst selten betroffen.

Das Abstiegsrisiko der unteren Einkommensschicht unterliegt zudem deutlichen Schwankungen, die grob den Konjunkturverlauf spiegeln. Dies dürfte vor allem darauf zurückzuführen sein, dass sich in dieser Gruppe besonders viele niedrig Gebildete und atypisch Beschäftigte finden, deren Entlassungsrisiko stark von der konjunkturellen Lage abhängt. Für die eingangs skizzierte Debatte wichtiger ist allerdings die Frage, ob - und wenn ja, für welche Einkommensschichten - eine Zunahme von Abstiegsrisiken erkennbar ist, die über vorübergehende konjunkturbedingte Schwankungen hinausgeht. Hier zeigt die Analyse, dass das Verarmungsrisiko nur für die untere Einkommensschicht klar angestiegen ist. Bis zum Ende der 1990er Jahre schwankte die Verarmungsquote dort konjunkturabhängig um etwa 10 Prozent. Danach allerdings ist eine deutliche Steigerung auf zuletzt etwa 15 Prozent festzustellen. In den anderen Schichten hingegen gibt es keine Veränderungen.

Die Befunde stützen die These vom Abrutschen der Mittelschicht in die Armut nicht: Das Abstiegsrisiko hat in den letzten 25 Jahren ausschließlich für Haushalte mit einem niedrigen Einkommen zugenommen. Deren Lage ist deutlich unsicherer geworden, während die Mittelschicht über den gesamten Zeitraum annähernd in gleich sicheren Verhältnissen leben konnte. Der Anstieg der Armutsquote speist sich also vor allem aus niedrigen Einkommensschichten. Zusammen mit dem Ergebnis des Datenreports 2011, dass tendenziell immer weniger Personen der Armut entkommen, ergibt sich eine Verfestigung von Einkommensarmut.

Wie kann diese Entwicklung erklärt werden? Eine erste Vermutung ist, dass diese Muster mit Veränderungen in der Sozialpolitik zusammenhängen. Allerdings fällt der Anstieg der Abstiegsquote von Niedrigeinkommenbeziehern nicht mit der vierten Hartz-Reform von 2005 zusammen. Zudem trifft die in dieser Reform durchgesetzte Entkopplung der Leistungen für Langzeitarbeitslose vom bisherigen Lohn eher Beschäftigte mit einem mittleren Einkommen als solche mit geringem Einkommen. Nun könnte man einwenden, dass die Abstiegsprozesse schrittweise von der Mittelschicht in die untere Schicht und dann in Armut verlaufen. Doch da sich die Analyse auf Beschäftigte bezieht, die sich seit mindestens zwei Jahren in einer Einkommensschicht befinden, tauchen solche Abstiegszenarien in der Analyse nicht auf. Weitere Analysen zeigen allerdings, dass auch verzögerte Abstiege aus der Mittelschicht nach den Reformen nicht häufiger vorkommen als vorher.

Eine plausiblere Erklärung scheint die Veränderung der Arbeitsmarktstruktur in Deutschland zu sein. Studien zu den bildungsspezifischen Arbeitsmarktchancen zeigen, dass sich diese in den letzten 20 bis 30 Jahren vor allem für Beschäftigte ohne berufsqualifizierenden Abschluss verschlechtert haben. Sie müssen häufiger als früher den Arbeitgeber wechseln und sind auch öfter von Arbeitslosigkeit betroffen. Hinzu kommt, dass die Lohnungleichheit im Zeitverlauf deutlich zugenommen hat. Während Löhne am oberen Ende der Verteilung stiegen, gingen die Reallöhne im unteren Bereich sogar deutlich zurück. Während Geringqualifizierte in den 1980er Jahren also noch häufig ein vergleichsweise risikoarmes Leben im unteren Einkommensbereich führen konnten, sind sie heute stärker abstiegsgefährdet.

Die Ergebnisse der Analyse deuten darauf hin, dass es eher eine Kumulation von Risiken in den unteren Schichten gibt als eine allgemeine Prekarisierung großer Teile der Gesellschaft. Der Blick sollte also eher auf bereits benachteiligte Schichten der Gesellschaft als auf die Mittelschicht gerichtet werden. Hier vollziehen sich offenkundig Prozesse, die ein weiteres Auseinanderdriften der Gesellschaft hervorrufen.


Martin Ehlert studierte Sozialwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin, in Osnabrück und Örebro (Schweden). Seit April 2009 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Ungleichheit und soziale Integration. Er forscht über die finanziellen Folgen von Arbeitsplatzverlusten im deutschamerikanischen Vergleich.
ehlert@wzb.eu

Jan Paul Heisig studierte Soziologie, Philosophie und Volkswirtschaftslehre an der FU Berlin und an der Universität Stanford (USA). Seit September 2007 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung Ungleichheit und soziale Integration. In seiner Dissertation untersucht er die späte Erwerbskarriere und die finanziellen Konsequenzen des Renteneintritts im deutsch-amerikanischen Vergleich.
heisig@wzb.eu


Literatur

Statistisches Bundesamt/Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (Hg): Datenreport 2011. Ein Sozialbericht für die Bundesrepublik Deutschland. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2011.

Dustmann, Christian/Ludsteck, Johannes/Schönberg, Uta: "Revisiting the German Wage Structure". In: The Quarterly Journal of Economics, Vol. 124, No. 2, 2009, S. 843-881.

Giesecke, Johannes/Heisig, Jan Paul: "Destabilisierung und Destandardisierung, aber für wen? Die Entwicklung der westdeutschen Arbeitsplatzmobilität seit 1984". In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Jg. 62, Heft 3, 2010, S. 403-435.

Giesecke, Johannes/Wotschack, Philip: Flexibilisierung in Zeiten der Krise: Verlierer sind junge und gering qualifizierte Beschäftigte. WZBrief Arbeit 01 / Juni 2009. Berlin: WZB 2009. Lengfeld, Holger/Hirschle, Jochen: "Die Angst der

Mittelschicht vor dem sozialen Abstieg". In: Zeitschrift für Soziologie, Jg. 38, Heft 5, 2009, S. 379-398.


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Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 134, Dezember 2011, Seite 7-9
Herausgeber:
Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
Professorin Jutta Allmendinger Ph.D.
10785 Berlin, Reichpietschufer 50
Tel.: 030/25 49 10, Fax: 030/25 49 16 84
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. Januar 2012