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ARMUT/208: Indien - Schwellenland mit weltweit größter Zahl von Armen, Zensus zeichnet düsteres Bild (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 16. Juli 2015

Indien: Schwellenland mit weltweit größter Zahl von Armen - Zensus zeichnet düsteres Bild

von Neeta Lal


Bild: © Neeta Lal/IPS

Ein älteres indisches Ehepaar vor seinem 'Zuhause', einem aus Plastikfolie und Abfallmaterialien errichteten Unterschlupf
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NEU-DELHI (IPS) - Indien ist zwar die drittgrößte Volkswirtschaft Asiens und unter seiner neuen nationalistisch ausgerichteten Regierung ein wichtiger geopolitischer Akteur. Der erste sozioökonomische Zensus auf dem Subkontinent zeigt jedoch, dass ein Großteil der mehr als 1,2 Milliarden Einwohner im Elend lebt, obwohl Milliarden US-Dollar in die Sozialsysteme fließen.

Die in 640 Distrikten unter Aufsicht des Ministeriums für ländliche Entwicklung durchgeführte Untersuchung hat ergeben, dass die Hälfte der 179 Millionen befragten Familien in ländlichen Gebieten leben und 21,53 Prozent der Haushalte einer amtlich registrierten Kaste ('Scheduled Caste' - SC) oder einer amtlich registrierten Volksgruppe ('Scheduled Tribe' - ST) angehören. Diese traditionell unterdrückten Gesellschaftsgruppen werden in der indischen Staatsverfassung gesondert berücksichtigt, damit ihre Sozial-, Bildungs- und Wirtschaftsinteressen gewahrt bleiben.

Mehr als 60 Prozent der untersuchten ländlichen Haushalte werden in dem Zensus als 'sozial schwach' eingestuft. In mehr als der Hälfte der Fälle reicht das Einkommen des Hauptverdieners kaum aus, um die Familie zu ernähren. Der Verdienst beläuft sich auf durchschnittlich weniger als 80 US-Dollar im Monat (etwa vier Dollar pro Tag). Nur 20 Prozent dieser Familien verfügen über ein Fahrzeug und nur elf Prozent über grundlegende Haushaltsgeräte wie etwa einen Kühlschrank.


Mehr als die Hälfte der Bevölkerung landlos

Die Bevölkerung in ländlichen Regionen wird durch den Mangel an eigenen Grundstücken und an Arbeitsmöglichkeiten benachteiligt. In ganz Indien beträgt der Anteil der Landlosen laut dem Zensus 56 Prozent. Wenige Menschen haben feste Jobs. Nur in 7,3 Prozent der den SCs zugerechneten Haushalten und in 9,7 Prozent aller ruralen Haushalte findet sich ein Familienmitglied, das regelmäßig einer bezahlten Erwerbstätigkeit nachgeht. Etwa 30 Prozent bezeichnen sich selbst als Bauern. Gelegenheitsarbeiten sind demnach für mehr als 51,14 Prozent der Haushalte die Haupteinkommensquelle.


Bild: © Neeta Lal/IPS

Hohe Geschäftsgebäude thronen über den Elendssiedlungen der großen Städte Indiens
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Nur etwa 14 Prozent der untersuchten Personen sind nicht im Agrarsektor beschäftigt, sondern in Behörden, Staatsunternehmen oder im Privatsektor. Weniger als fünf Prozent der ländlichen Haushalte zahlen Einkommenssteuer. Dies gilt auch für die wohlhabenderen Bundesstaaten wie Kerala, Tamil Nadu und Maharashtra.

"Der Zensus öffnet einem die Augen. Er zeigt deutlich, dass weite Teile der Bevölkerung nicht von dem hohen Wirtschaftswachstum profitieren, obwohl Milliarden Dollar in staatliche Programme für Armutsbekämpfung, Bildung und neue Jobs geleitet werden", sagt Ranjana Kumari, Direktorin des Zentrums für Sozialforschung in Neu-Delhi.

Der Zensus habe verdeutlicht, dass die Armut seit Generationen präsent sei. Auch mehr als 60 Jahre nach der Unabhängigkeit lebten noch immer Millionen Menschen im Elend, ohne sichere Arbeitsplätze, Bildung und ein festes Dach über dem Kopf. "Entscheidungsträger in Politik und Wirtschaft verschließen vor dieser Realität die Augen", kritisiert sie. "Alle Regierungen haben die Rechtlosen in krimineller Weise vernachlässigt."

Menschenrechtsaktivisten weisen darauf hin, dass trotz groß angelegter Programme wie 'Sarva Shiksha Abhiyan' (SSA), das sich die Sicherung von Bildung für alle auf die Fahnen geschrieben hat, in 23,52 Prozent aller Familien in ländlichen Gebieten kein einziger Erwachsener über 25 Jahren lesen und schreiben kann.


Geringes Bildungsniveau

Weniger als zehn Prozent kommen über einen Abschluss an einer weiterführenden Schule hinaus. Nur 3,41 Prozent der Familien in ländlichen Regionen können ein Mitglied mit Hochschulabschluss vorweisen. Nahezu jeder zweite Bewohner der ländlichen Gebiete Rajasthans, dem flächenmäßig größten indischen Bundesstaat, ist Analphabet. In Westbengalen, Bihar, Odisha, Jharkhand, Madhya Pradesh, Uttarakhand, Uttar Pradesh und Chhattisgarh leben mehr als 180 Millionen der insgesamt mehr als 300 Millionen Analphabeten des ländlichen Indiens.


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Indien hat den weltweit höchsten Anteil von Slumbewohnern
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Trotz des seit 1985 durchgeführten Wohnungsbauprogramms 'Indira Awaas Yojana', eines der größten und umfassendsten Projekte dieser Art in der Geschichte des Landes, haben viele Menschen keine angemessene Unterkunft. Das Programm sieht die Zahlung finanzieller Hilfen vor, die die Armen zum Bau angemessener Wohnmöglichkeiten befähigen sollen. Etwa 30 Prozent aller Familien leben laut dem Zensus weiterhin auf engem Raum zusammen. Rund 100 Millionen Menschen - das Vierfache der Bevölkerung Australiens - wohnen in Hütten aus Gras, Bambus oder Plastik mit Stroh- oder Wellblechdächern.

Angehörige der amtlich registrierten Kasten und Ethnien haben vor allem in den Bundesstaaten Chhattisgarh, Madhya Pradesh und Odisha einen schweren Stand. Auch in weiter entwickelten Bundesstaaten wie Kerala und Tamil Nadu im Süden sind die in der Regel durch körperliche Arbeit erwirtschafteten Familieneinkommen zumeist niedrig. In ländlichen Gebieten finden die Bewohner keine Arbeit, die ihnen einen Ausweg aus der Armut bieten würde. Zumeist leben sie von der Subsistenzlandwirtschaft, ohne über geeignete Maschinen, ausreichende Bewässerungssysteme und Kredite zu verfügen.

Angesichts der Tatsache, dass in Indien die meisten Armen der Welt leben, raten Ökonomen dringend zu gezielten Maßnahmen, die allen Menschen auf dem Subkontinent eine gleichberechtigte Teilhabe am Wirtschaftswachstum sichern können. "Etwa 60 Prozent aller Inder sind im erwerbsfähigen Alter", sagt Kumari. "Doch nur ein geringer Teil davon hat Beschäftigung auf dem ersten Arbeitsmarkt gefunden. Wir müssen ein Ökosystem für rascheres Jobwachstum außerhalb des Agrarsektors schaffen." (Ende/IPS/ck/16.07.2015)


Link:

http://www.ipsnews.net/2015/07/new-census-paints-grim-picture-of-inequality-in-india/

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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 16. Juli 2015
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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. Juli 2015

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