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BERICHT/010: Der Bundesfreiwilligendienst - eine vertane Chance (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 12/2011

Der Bundesfreiwilligendienst - eine vertane Chance

Von Tobias Quednau


In der Diskussion um die Abschaffung der Wehrpflicht ging es stets auch um die Zukunft des Zivildienstes: Wer soll künftig die zahlreichen Aufgaben der Zivildienstleistenden erledigen? Seit dem Beschluss des Deutschen Bundestages, die Wehrpflicht zum 1. Juli 2011 auszusetzen, ist diese Frage wieder hochaktuell.


Die Abschaffung der Wehrpflicht kann man begrüßen, auch ohne Pazifist zu sein. Denn die Frage, ob ein (verkürzter) Dienst - egal ob bei der Bundeswehr oder im zivilen Bereich - den Anforderungen angemessen ist, regt durchaus zum Nachdenken an. Ganz abgesehen von dem Aspekt der fehlenden Wehrgerechtigkeit. Zudem stellt sich die Frage: Inwieweit ist ein zunehmend liberalisierter Staat überhaupt berechtigt, einen Teil seiner Bürger zu einem Dienst, sei es an der Waffe oder im zivilen Bereich, zu zwingen und damit nicht unerheblich in deren Lebensplanung einzugreifen? Mit dem Pflichtdienst schimmerte ein letzter Rest des alten Obrigkeitsstaates durch; einer modernen, liberalen Gesellschaft ist ein solches Bild jedoch nicht angemessen. Deswegen ist der wohl größte Verdienst bei der Aufhebung der Wehrpflicht der Paradigmenwechsel von Pflicht zu Freiwilligkeit. Wer in Zukunft einen Dienst absolviert, tut dies aus freien Stücken. Es geht also um Bürgerinnen und Bürger, die sich für ihr Gemeinwesen engagieren und es auf diese Weise mitgestalten wollen. Insbesondere der zivile Bereich bietet dazu zahlreiche Möglichkeiten. Die Sorge, dass insbesondere junge Menschen nicht dazu bereit sind, scheint nur bedingt begründet. Umfragen und auch das große Interesse an Freiwilligendiensten wie dem Freiwilligen Sozialen Jahr (FSJ) oder dem Freiwilligen Ökologischen Jahr (FÖJ) bestätigen dies. Gleichwohl müssen Politik und Organisationen umdenken: Wo junge Menschen nicht einfach verpflichtet werden können, muss das Angebot attraktiv sein. Dies gilt umso mehr in Zeiten verkürzter Schul- und Studienzeiten. Junge Menschen werden sich wohl nur dann längerfristig verpflichten, wenn sie einen Nutzen darin sehen. Das trifft nicht auf alle Tätigkeiten zu, die derzeit durch "Zivis" ausgeübt werden. Zwar kann man im sozialen Bereich sehr viel lernen, vor allem hinsichtlich sozialer Kompetenzen. Auf einen Job als Pförtner, Fahrer oder Küchenhilfe trifft das jedoch nicht ohne Weiteres zu.

Die große Popularität der Freiwilligendienste - die Nachfrage übersteigt das Angebot - scheint auch die Politik erkannt zu haben. So setzt das Bundesfamilienministerium, das bisher für den Zivildienst zuständig war, auf deren Stärkung. Das scheint zunächst begrüßenswert, stellen diese doch auf den ersten Blick eine sinnvolle Möglichkeit dar, das Potenzial der Freiwilligen für die Aufrechterhaltung der sozialen Infrastruktur zu nutzen. Bei näherem Hinsehen stellt sich jedoch ein fader Beigeschmack ein. Freiwilligendienste werden klassischerweise durch zivilgesellschaftliche Organisationen organisiert, die sogenannten Träger. Sie betreuen die Freiwilligen sowie die Einsatzstellen und kümmern sich um die pädagogische Begleitung. Der Bund beschränkte sich bisher auf eine Bezuschussung des pädagogischen Angebots. Die Stärkung der Freiwilligendienste äußert sich jedoch in erster Linie nicht durch eine stärkere Unterstützung des bisherigen Angebots, sondern durch die Einführung eines neuen, in stärkerem Maße durch die Bundesregierung verwalteten Freiwilligendienstes: dem Bundesfreiwilligendienst. Damit besteht nach den Freiwilligendiensten, die vom Auswärtigen Amt bzw. vom Bundesministerium für Entwicklungszusammenarbeit geschaffen wurden, kulturweit und weltwärts ein weiterer Dienst, der auf staatliche Initiative zurückgeht.

Dabei bestand bereits vor der Einführung dieses neuen Dienstes eine große Unübersichtlichkeit. Die bloße Vielzahl und die unterschiedlichen Konditionen machen jungen Menschen den Überblick mitunter schwer und führen zum Teil auch zu Ungleichbehandlungen. Die Einführung eines Freiwilligendienste-Statusgesetzes, das gewisse Mindeststandards hinsichtlich Entgelt, sozialer Sicherung, pädagogischer Betreuung, Dauer und Umfang festlegt und so ursprünglich Ordnung in dieses Wirrwarr bringen sollte, wurde zunächst aufgeschoben. Darüber hinaus ist auch bei Freiwilligendiensten zu beobachten, was sich auch in anderen Bereichen zeigt, in denen sich Menschen freiwillig engagieren: Bildungsferne Schichten und Migranten nehmen kaum an Freiwilligendiensten teil. Angesichts der Möglichkeiten, die freiwilliges Engagement in Hinblick auf individuelle Bildung bieten, ist das sehr bedauerlich. Statt die bisherigen Träger bei der Lösung dieser Probleme zu unterstützen, wird ein eigener neuer Freiwilligendienst eingeführt, mit dem sich die Unübersichtlichkeit noch weiter verschärft.

Begründet wird die Einführung eines neuen Dienstes damit, dass es verfassungsrechtlich nicht möglich war, die Mittel des Zivildienstes ohne Weiteres in die jetzige Form der Freiwilligendienste umzuschichten. Es spielt wohl aber auch eine Rolle, dass sich das Bundesfamilienministerium um seine einzige nachgeordnete Behörde sorgt: das ehemalige Bundesamt für Zivildienst, das jüngst in Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben umbenannt wurde. Dieses Amt wird nun zumindest im Bereich des Bundesfreiwilligendienstes einige Aufgaben übernehmen, die vorher bei den Trägern lagen. Und nicht zuletzt geht es auch um einen nicht ganz ungewichtigen Etat in Höhe von 350 Mio. Euro. Man mag diese organisationsinternen Reflexe belächeln, nachvollziehbar sind sie allemal. Allerdings sollte darauf hingewiesen werden, dass dadurch auch versucht wird, das Geld für die Freiwilligendienste zu retten, bevor der Etat für den Zivildienst direkt an den Finanzminister zurücküberwiesen wird.

Dennoch: Eine Stärkung der etablierten Freiwilligendienste wäre wünschenswert gewesen. Damit hätte die Chance bestanden, die Zivilgesellschaft zu festigen. Sie ist der Ort, an dem Bürgerinnen und Bürger sich selbstbestimmt und selbstorganisiert entfalten können. Stattdessen wird die staatliche Einflussnahme in einem Bereich ausgeweitet, in dem sie weder zuständig noch kompetent ist. Staat und Freiwilligkeit passen nicht zueinander. Wenn der Staat auf Freiwilligkeit setzt, dann muss er seinen Bürgern auch zutrauen, dass sie mit dieser Freiheit verantwortungsbewusst umgehen. Mit der Entscheidung zur Freiwilligkeit wurde ein wichtiger Schritt in Richtung Selbstbestimmung der Bürger unternommen. Es wurde jedoch die Chance vertan, diesen Weg konsequent weiterzugehen und den staatlichen Einfluss zugunsten der Zivilgesellschaft zurückzufahren.


Tobias Quednau (* 1981) Politikwissenschaftler, ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Forschungszentrum für Bürgerschaftliches Engagement an der Humboldt-Universität zu Berlin.

(tobias.quednau@staff.hu-berlin.de)


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 12/2011, S. 58-59
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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. Januar 2012