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FAMILIE/270: Wenn die Eltern Hilfe brauchen (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 143, März 2014
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Wenn die Eltern Hilfe brauchen
Nicht alle Geschwister beteiligen sich an der Pflege

von Marcel Raab, Thomas Leopold und Henriette Engelhardt



Kurz gefasst: Hilfs- und pflegebedürftige Eltern werden häufig von ihren Kindern gepflegt. Doch nicht alle Kinder unterstützen ihre pflegebedürftigen Eltern im gleichen Umfang. Häufig trägt auch in Mehrkindfamilien nur ein Kind die alleinige Pflegelast, während sich die übrigen Geschwister dieser Belastung entziehen. Dies lässt sich im Wesentlichen durch Geschwisterunterschiede in der Wohnentfernung zu den Eltern sowie durch alternative Verpflichtungen in der eigenen Familie und im Beruf erklären. Ebenfalls bedeutsam sind geschlechtsspezifische Rollenbilder, elterliche Erwartungshaltungen, und Reziprozitätserwägungen.


Laut einem Beitrag der Gesundheitsberichterstattung des Bundes aus dem Jahr 2009 erhalten in Deutschland ungefähr zwei Millionen Menschen Pflegeleistungen im Rahmen der Pflegeversicherung. Zudem sind schätzungsweise weitere drei Millionen Menschen auf Hilfe- oder Pflegeleistungen angewiesen, die nicht durch die Pflegeversicherung abgedeckt werden. Angesichts der demografischen Alterung wird der Pflegebedarf trotz einer generellen Verbesserung der Gesundheit im Alter in vielen westlichen Ländern weiter steigen. Daher stellt sich nicht nur für Deutschland die Frage: Wer übernimmt die Pflege?

Es wird zwar viel über eine Krise der Familie gesprochen, aber die meisten Hilfs- und Pflegebedürftigen werden maßgeblich von den eigenen Angehörigen gepflegt. Insbesondere Kinder übernehmen die Rolle der Hauptpflegeperson. Dies gilt auch für die USA. Dort pflegen derzeit etwa 20 Millionen Kinder die eigenen Eltern. Doch nicht alle Kinder unterstützen ihre pflegebedürftigen Eltern im gleichen Umfang. Häufig trägt auch in Mehrkindfamilien nur ein Kind die alleinige Pflegelast, während sich die übrigen Geschwister dieser Belastung entziehen. Warum ist das so? Inwiefern unterscheiden sich die Pflegewilligen von ihren nicht pflegenden Geschwistern?

Die Übernahme der Elternpflege wird zwar allgemein als wichtiges Ereignis im Lebenslauf anerkannt, der Übergang selbst wurde aber bislang kaum erforscht: Wer übernimmt die Pflege, wenn die Eltern das erste Mal darauf angewiesen sind? Ein weiteres Problem der meisten empirischen Studien zur Pflege in Familien ist zudem die mangelnde Berücksichtigung des Familien-Kontextes. Oft wird ignoriert, dass mehrere Familienmitglieder an der Entscheidung beteiligt sind, wer die Pflege der Eltern übernimmt. Geschwister treffen ihre Entscheidungen nicht unabhängig voneinander, sondern handeln die Aufteilung der Pflegelast untereinander aus. Nicht alle kommen gleichermaßen für die Elternpflege in Frage.

Im Rahmen des DFG-Projekts "Der intergenerationale Austausch von Zeit und Geld" haben wir uns diesen Forschungslücken gewidmet. Mit Daten der amerikanischen Health and Retirement Study haben wir untersucht, welches Kind die Eltern unterstützt, wenn diese pflegebedürftig werden. Im Gegensatz zu vielen anderen Studien konnten wir mit Hilfe von Längsschnittdaten aus den Jahren 1998-2008 direkt den Übergang in die Pflege beobachten. Um zu untersuchen, wie dieser Übergang in Familien zwischen Geschwistern ausgehandelt wird, begrenzten wir unsere Analyse auf Familien mit mehreren Kindern. Wie wird nun entschieden, wer von ihnen die Pflege übernimmt?

Um diese Frage zu beantworten, müssen zunächst die Faktoren identifiziert werden, die eine Entscheidung unter Geschwistern beeinflussen. Im Wesentlichen lassen sich zwei Faktorengruppen unterscheiden. Bei der ersten geht es um die Kosten der Pflege, also die Möglichkeiten und Grenzen der Verfügbarkeit. Dabei werden ökonomische Erklärungsansätze genutzt. Die mit der Elternpflege verbundenen Kosten oder Belastungen sind schließlich nicht für alle Kinder gleich groß. Geschwister haben unterschiedliche andere Verpflichtungen, wie etwa die Verantwortung für eigene kleine Kinder. Auch die Erwerbstätigkeit kann hier eine Rolle spielen, denn Pflege lässt sich nur schwer mit beruflichen Verpflichtungen vereinbaren. Ein noch wichtigerer Kostenfaktor ist die räumliche Entfernung.

Soziologische Studien widmen sich verstärkt der zweiten Faktorengruppe: den normativen und affektiven Verpflichtungen. Die sogenannte Norm der filialen Zuständigkeit besagt, dass im Falle der Hilfs- oder Pflegebedürftigkeit der Eltern die Kinder zu einem gewissen Umfang für deren Unterstützung zuständig sind.

Neben dieser abstrakten Norm gibt es konkretere, zum Beispiel geschlechtsspezifische Normen, die genauer vorhersagen, von welchen Kindern Pflege erwartet werden kann. In den meisten Gesellschaften sind dies die Töchter, die im Sozialisationsprozess oft systematisch auf ihre späteren Familienrollen, etwa in der Elternpflege, vorbereitet werden.

Die Reziprozitätsnorm schließlich besagt, dass Kinder, die im Vergleich zu ihren Geschwistern von den Eltern mehr finanzielle - oder auch anderweitige - Unterstützung erhalten haben oder in Zukunft erwarten, eher bereit sind, die Eltern zu pflegen. Die Pflege gilt gewissermaßen als Rückzahlung für die elterliche Unterstützung.

Neben Normen widmet sich die soziologische Literatur zudem den affektiven Aspekten von Eltern-Kind-Beziehungen. So dürften vor allem jene Kinder die Eltern pflegen, die schon vor dem Pflegefall besonders enge Beziehungen unterhalten haben. Zudem scheinen auch Erstgeborene besondere Beziehungen zu den Eltern zu haben und pflegen diese häufiger als ihre jüngeren Geschwister.

Mit Hilfe der sehr reichhaltigen Daten der Health and Retirement Study konnten wir all die genannten Faktoren im Zusammenhang untersuchen und ermitteln, welche von ihnen die Entscheidungsfindung über die Pflegeverantwortung beeinflussen. In unserer Studie konzentrieren wir uns dabei auf die Unterschiede zwischen Geschwistern und nicht auf die Unterschiede zwischen verschiedenen Familien. Schließlich bewerten Geschwister die eigenen Kosten und Verpflichtungen relativ zu denen ihrer Geschwister.

Unter den ökonomischen Erklärungsfaktoren erweist sich die räumliche Entfernung zu den Eltern als entscheidender Faktor. Im Vergleich zu Geschwistern, die vor dem Eintreten der Pflegebedürftigkeit mehr als 10 Meilen von ihren Eltern entfernt leben, liegt bei Kindern, die näher bei ihren Eltern leben, die Chance, die Pflege zu übernehmen, fast doppelt so hoch wie bei den weiter entfernt lebenden Kindern. Für diejenigen, die mit ihren Eltern in einem gemeinsamen Haushalt leben, vervierfacht sich diese Chance sogar. Ähnliche, aber schwächere Effekte finden sich auch für die anderen Kostenfaktoren. Alternative Verpflichtungen in der eigenen Familie (zum Beispiel eigene Kinder) oder im Beruf reduzieren die Pflegewahrscheinlichkeit im Vergleich zu Geschwistern ohne solche Verpflichtungen.

Die soziologische Perspektive trägt Weiteres zur Erklärung des Übergangs in die Elternpflege bei. So übernehmen beispielsweise Erstgeborene die Pflege der Eltern mit einer doppelt so hohen Chance wie ihre jüngeren Geschwister. Zudem pflegen Töchter häufiger als Söhne. Detaillierte Analysen haben gezeigt, dass dieser Effekt allerdings nur für die Pflege der Mütter gilt. Dies bestätigt aktuelle Studien, die sich mit den Erwartungen und Wünschen der Eltern befassen. Eltern haben oft sehr konkrete Vorstellungen davon, von wem sie später einmal gepflegt werden wollen. Mütter wünschen sich zum Beispiel intime körperliche Pflege eher von Töchtern. Die elterlichen Erwartungshaltungen sind den Kindern häufig bekannt und spielen daher auch eine wichtige Rolle bei der Aushandlung der Pflege.

Auch Reziprozitäts- oder Austauscherwägungen spielen eine wichtige Rolle. Für Kinder, die im Gegensatz zu ihren Geschwistern im Testament der Eltern berücksichtigt werden, verfünffacht sich die Chance, die Eltern zu pflegen. Ein ähnlicher Effekt zeigt sich bei der elterlichen Lebensversicherung. Kinder, die als Leistungsempfänger geführt sind, pflegen häufiger als ihre nicht berücksichtigten Geschwister. Schließlich konnten wir zeigen, dass die Erwartungshaltung der Eltern auch unter Konstanthaltung alternativer Erklärungsfaktoren einen relativ starken Einfluss auf die Vorhersage des späteren Pflegeverhaltens der Kinder hat. Kinder, die von den Eltern als potenzielle Pflegepersonen genannt wurden, haben eine dreimal so hohe Chance, die Eltern zu pflegen, wie ihre nicht genannten Geschwister.

Insgesamt zeigen unsere Ergebnisse, dass sowohl ökonomische als auch soziologische Erklärungsfaktoren zum Verständnis der Pflege in Familien beitragen. Darüber hinaus belegen unsere Daten, dass in 75 Prozent aller Fälle Geschwister die Pflege nicht egalitär untereinander aufteilen, sondern ein einzelnes Kind die Pflege übernimmt. Das gilt insbesondere für Familien mit Töchtern. In Familien ohne Töchter wird die Pflegelast häufiger unter mehreren Brüdern aufgeteilt. Dies deutet darauf hin, dass Söhne nach wie vor seltener bereit sind, die alleinige Pflegelast zu tragen.

In unserer Studie haben wir den Übergang zur Pflege in amerikanischen Familien untersucht. Angesichts des demografischen Wandels sollte dieser Prozess auch in anderen alternden Gesellschaften analysiert werden, um besser zu verstehen, wie die Pflegeübernahme in Familien ausgehandelt wird und wie Familien bei diesem Übergang entlastet werden können. Die Erklärungskraft zahlreicher Faktoren dürfte stark vom staatlichen Kontext abhängig sein. In Wohlfahrtsstaaten mit einem stark ausgebauten Betreuungsangebot für Pflegebedürftige sind Kinder beispielsweise eher für emotionale Unterstützung zuständig. In Staaten, in denen die Organisation der Pflege hingegen durch das Subsidiaritätsprinzip geprägt ist, erstreckt sich die Zuständigkeit auch auf die körperliche Pflege. Es ist zu erwarten, dass diese größeren sozialstaatlichen Kontexte auch die individuellen Aushandlungsprozesse in Familien beeinflussen.


Marcel Raab ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Projektgruppe Demografie und Ungleichheit. Er forscht vor allem über Familienbildung und intergenerationale Beziehungen.

Henriette Engelhardt ist Professorin für Demografie und Leiterin des Staatsinstituts für Familienforschung an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Familien- und Sozialdemografie sowie die Konsequenzen der demografischen Alterung.

Thomas Leopold ist Assistant Professor für Soziologie an der Universität von Amsterdam. Seine Forschungsinteressen liegen im Bereich Familiensoziologie, Demografie und soziale Ungleichheit.


Literatur

Leopold, Thomas/Raab, Marcel/Engelhardt, Henriette: "The Transition to Parent Care: Costs, Commitments and Caregiver Selection Among Children". In: Journal of Marriage and Family, 2014, Vol. 76, No. 2 (im Erscheinen).

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Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 143, März 2014, Seite 16-18
Herausgeberin:
Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
Professorin Jutta Allmendinger Ph. D.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. Mai 2014