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FRAUEN/428: Afghanistan - Immer mehr Frauen wegen Mordes im Gefängnis (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 21. September 2012

Afghanistan: Immer mehr Frauen wegen Mordes im Gefängnis

von Sohaila Weda Khamosh*


Zwangsheirat ist eines der großen sozialen Probleme afghanischer Frauen - Bild: © Najibullah Musafer/Killid

Zwangsheirat ist eines der großen sozialen Probleme afghanischer Frauen
Bild: © Najibullah Musafer/Killid

Kabul, 21. September (IPS) - In Afghanistan steigt die Zahl der Frauen, die wegen Mordes ins Gefängnis kommen, von Jahr zu Jahr an. Zurzeit sitzen mehr als 700 Frauen in den 34 Haftanstalten des Landes. Ein Viertel von ihnen wurde wegen Mordes verurteilt - zum Teil zu Unrecht.

Die 22-jährige Najeeya befindet sich im Gefängnis von Pol-e-Khumri rund 220 Kilometer nördlich der afghanischen Hauptstadt Kabul in der Provinz Baghlan. Mit ihr in Haft sind ihre beiden Söhne, einer drei, der andere vier Jahre alt. Sie wird beschuldigt, ihren Mann umgebracht zu haben.

"Er wurde vor drei Jahren nach seiner Rückkehr aus dem Iran getötet. Abends klopfte es an unserer Tür und mein Mann öffnete. Jemand bat ihn herauszukommen", erzählt sie. "Das war das letzte Mal, dass ich ihn lebend gesehen habe." Kurz darauf sei sein Leichnam gefunden worden. "Ich wurde zusammen mit meinem Schwager wegen Mordes festgenommen", berichtet die Afghanin. "Doch ich bin unschuldig."

Mohammad Jalal hingegen, Leiter der Abteilung für Bildung im Pol-e-Khumri-Gefängnis, glaubt der Gefangenen nicht. "Die Regierung steckt niemanden grundlos hinter Gitter", sagt er. "Es gibt zwei Zeugen, die gegen die junge Frau ausgesagt haben. Auch soll sie eine Beziehung zu ihrem Schwager gehabt haben."

In Afghanistan sitzen insgesamt 24.613 Personen im Gefängnis. Jedes Jahr nimmt die Zahl um 24 Prozent zu, wie Amir Mohammad Jamshed, der Leiter der afghanischen Gefängnis- und Haftanstalten, berichtet. Auch die Zahl der weiblichen Insassen steigt, wobei die meisten von ihnen wegen Mordes einsitzen.


Soziale Hintergründe

Doch auch der Verdacht, Ehebruch, Raub, Entführung und Drogenschmuggel begangen zu haben, bringt Frauen hinter Gitter. "Meist verbergen sich hinter den Delikten soziale Probleme", sagt Jamshed und listet Zwangsheirat sowie den häufig großen Altersunterschied zwischen den Ehepartnern auf.

Auch die 60-jährige Sayera, die ebenfalls im Pol-e-Khumri-Gefängnis einsitzt, ist nach eigenen Angaben unschuldig. Ihren Aussagen zufolge hat ihre Schwiegertochter nach zwei Jahren Ehe Selbstmord begangen. Sie habe sich mit Öl überschüttet und dann selbst in Brand gesetzt.

"Mehrere Mitglieder unserer Familie wurden des Mordes angeklagt und ins Gefängnis geworfen", erzählt sie. "Einige wurden wieder entlassen. Ich sitze nun bereits seit eineinhalb Jahren im Gefängnis, weil ich meine Schwiegertochter verbrannt haben soll. Das ist eine Lüge. Ich bin unschuldig." Nachbarn, die als Zeugen gegen sie ausgesagt haben, hätten gelogen.

Nooria, die in einem Provinzgefängnis inhaftiert ist, hat gestanden, ihren Schwager umgebracht zu haben. Sie habe in Notwehr gehandelt, sagt sie. Ihr Schwager habe in Abwesenheit ihres Mannes versucht sie zu vergewaltigen. Da habe sie zu einem Küchenmesser gegriffen und ihn getötet.

Die meisten wegen Mordes angeklagten Frauen sitzen in Herat oder nördlichen Provinzen wie Balkh, Baghlan und Jawzjan ein. Laut Parween Rahimi von der Unabhängigen Afghanischen Menschenrechtskommission (AIHRC) sind seit Anfang dieses Jahres 52 Frauen wegen Mordes in eines der Gefängnisse in den drei zentralen Provinzen Parwan, Kabul and Kapisa gesperrt worden.


"Sie wissen sich nicht anders zu helfen"

Die meisten Frauen töten aus Rache oder weil sie sich nicht anders zu helfen wissen, wie Rahimi betont. "Die Gewalt, der sie ausgesetzt sind, ist häufig so intensiv, dass sie sie nicht mehr aushalten können. Dann töten sie ihren Mann oder ein anderes Mitglied der Familie, das sie für die Gewalt verantwortlich machen." Es komme auch vor, dass Familien von Selbstmördern den Frauen die Schuld an dem Tod ihrer Angehörigen geben. "Zwangsheirat ist die Wurzel der sozialen Probleme von Frauen in Afghanistan", sagt sie.

Normalerweise handelten die Täterinnen im Affekt, bestätigt Fawzia Amini, Leiterin der Rechtsabteilung im Frauenministerium. Ihrer Ansicht nach stehen Frauen unter einem besonders hohen psychischen Stress, weil sie in vielen Lebensbereichen unterdrückt werden. Sie leben häufig in polygamen Haushalten und seien Gewalt ausgesetzt. (Ende/IPS/jt/2012)

* Sohaila Weda Khamosh schreibt für die unabhängige afghanische Mediengruppe Killid, einer IPS-Partnerorganisation.


Links:

http://www.aihrc.org.af/
http://www.ipsnews.net/2012/09/murder-tops-crimes-by-women-in-afghanistan/

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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 21. September 2012
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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. September 2012