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FRAUEN/517: Indien - Jahrzehnte lang stigmatisiert - Hilfe für die 'vergessenen' Witwen (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 29. August 2013

Indien: Jahrzehnte lang stigmatisiert - Hilfe für die 'vergessenen' Witwen

Von Sudeshna Sarkar


Bild: © Sudeshna Sarkar/IPS

Witwen in einem Heim in Varanasi in Ostindien
Bild: © Sudeshna Sarkar/IPS

Varanasi, Indien, 29. August (IPS) - Jedes Jahr begehen Millionen indischer Frauen das Rakshabandha-Fest, um für ihre Brüder ein langes Leben, Gesundheit und Glück zu erbitten. Die 80-jährige Namuna Gautam war dabei - zum ersten Mal in ihrem Leben und in den 70 Jahren ihrer Witwenschaft, die ihr Ausgrenzung und Elend gebracht hatte.

"Ich habe meinen Mann gar nicht gekannt, seine Stimme nie gehört", sagt sie, die nun in einem Witwenheim lebt. Sie war erst zehn, als sie verheiratet wurde. Während der Hochzeit habe sie einen Gesichtsschleier getragen. Zu einem späteren Zeitraum wäre ihr die Rolle der Ehefrau zugefallen, wäre der Mann nicht noch im gleichen Jahr gestorben. Für seine Familie stand fest, dass Gautam Unglück über die Familie gebracht habe. Sie musste das Haus verlassen.

Ursprünglich stammt Gautam aus einer armen Bauernfamilie. Lesen und schreiben hat sie nie gelernt. Nach dem Tod ihres Mannes kehrte sie zunächst in ihre Ursprungsfamilie zurück. Dann wurde sie mit der Betreuung einer älteren Tante und deren Mannes beauftragt. "Die beiden beschlossen, ihre letzten Tage in der heiligen Stadt Varanasi zuzubringen. Wer dort stirbt, ist vom Zyklus von Wiedergeburt und Schmerz befreit", erzählt Gautam. "Ich habe sie dorthin begleitet."

Als das Paar dort starb, lebte Gautam zunächst von Almosen und später von dem Geld, das sie als Köchin und Putzfrau verdiente. Inzwischen ist sie gebrechlich. "Ich kann nicht mehr arbeiten", sagt sie im Flur des Witwenheims, wo sie wohl auch sterben wird. Sie ist eine von vielen hinduistischen Frauen aus höheren Kasten, die in Zeiten hineingeboren wurden, in denen Frauenbildung eine Seltenheit und Polygamie verbreitet war und Töchter keinen Anspruch auf einen Teil des Familienerbes hatten.

Der ostindische Bundesstaat Bengalen war für seine Gelehrsamkeit, Kultur und sozialen Reformen berühmt. Doch für die jungen Witwen war das Leben die Hölle, wie Bindeshwar Pathak von 'Sulabh International' berichtet. Die Organisation versucht den vergessenen älteren Witwen zu der Würde und Fürsorge zu verhelfen, die ihnen ein Leben lang verwehrt waren.


Kinderwitwen

Manchmal schon als Fünf- oder Sechsjährige an ältere Männer verheiratet, wurden sie schnell zu Witwen. Oftmals hinterließ ein Mann gleich mehrere junge Witwen. "Diese Mädchen wurden gezwungen, sich den Kopf zu rasieren und als Zeichen ihrer Witwenschaft grobe weiße Saris zu tragen. Ihnen wurde nur eine Mahlzeit am Tag zugedacht, von gesellschaftlichen Aktivitäten blieben sie ausgeschlossen", berichtet Pathak.

Die Praxis des 'sati', der Witwenverbrennung, ist zwar seit 1839 verboten. Doch das Leben der Witwen war von Entbehrungen und Demütigungen geprägt.

Im 16. Jahrhundert hatte der Sozialreformer und Mystiker Chaitanya eine Gruppe Witwen aus Bengalen nach Vrindavan in der Nähe von Neu-Delhi gebracht, um ihnen dort ein Heim zu geben. Die Initiative veranlasste ganze Heerscharen von Familien, ihre Witwen in den Städten Varanasi und Vrindavan auszusetzen.

Witwen wurden nicht nur zu einem Leben als Bettlerinnen oder Niedriglöhnerinnen verurteilt. Auch gibt es Berichte, wonach sie in die Prostitution gezwungen wurden. Die indisch-kanadische Regisseurin Deepa Mehta hat 2005 mit ihrem Dokumentarfilm 'Water' ein Schlaglicht auf diese vergessenen Schicksale geworfen. Es folgte eine Schwemme von Medienberichten, die wiederum die Aufmerksamkeit des Obersten Gerichtshofs auf sich zogen, der seine Nationale Behörde für Rechtsberatung (NALSA) daraufhin aufforderte, der Angelegenheit nachzugehen.

Wie Pathak berichtet, erhielt seine Organisation im August 2012 einen Brief von der NALSA, in dem von etwa 1.700 solcher mittellosen Witwen die Rede war. "Wir und ISKCON (die religiöse Internationale Gesellschaft für Krishna-Bewusstsein) wurden gefragt, ob wir diese Frauen mit zwei Mahlzeiten pro Tag versorgen könnten. Obwohl wir einen ganz anderen Arbeitsschwerpunkt (sanitäre Grundversorgung) hatten, reisten wir nach Vrindavan, um die Frauen zu treffen. Was wir sahen, war herzzerreißend."


Ein langes Leben in Not

Die Mehrheit der Witwen sind inzwischen über 70, einige sogar in den 80ern und 90ern. Die Regierung des Bundesstaates Uttar Pradesh hatte ihnen nach Bekanntwerden ihrer Lebensumstände jeweils monatlich 500 Rupien, umgerechnet acht US-Dollar, bereitgestellt. Doch vor drei Jahren wurden die Zuwendungen eingestellt.

"In Vrindavan lebten sie von zehn Rupien am Tag (15 Cent), die ihnen die Tempelbehörden auszahlten, wenn sie an den Morgen- und Abendgebeten teilnahmen", schildert Vinita Varma, Leiterin der Witwen-Initiative von Sulabh. "Die jüngeren Frauen konnten mit dem Verkauf von selbstgemachten Lampen, Kerzendochten und Stickereien ein bisschen dazuverdienen. Doch den älteren, die nicht mehr arbeiten konnten, blieb nichts anderes übrig, als zu betteln."

Sulabh betreut inzwischen 1.000 Witwen in Vrindavan und Varanasi. Die Organisation unterstützt sie mit jeweils umgerechnet 32 Dollar, ermöglicht ihnen eine medizinische Grundversorgung und Bildung. Als Nächstes sollen sie wieder mit der Gemeinschaft zusammengebracht werden, aus der sie vertrieben wurden.

Im letzten Jahr verwandelten sich ihre weißen Saris in leuchtendes Rosa und Grün, als sie am dem Festival der Farben ('Holi') teilnahmen, In diesem Jahr feierten die Witwen von Varanasi Rakshabandhan und im Oktober werden viele von ihnen nach Bengalen zurückkehren, um an 'Durga Puja' teilzunehmen, dem größten jährlichen Festival vor Ort.

Pathak setzt sich derzeit für ein Gesetz ein, dass Witwen ein Anrecht auf Bildung und Ausbildung zuspricht. "Wenn sie erst ihr eigenes Geld verdienen, werden ihnen ihre Familien mit Respekt entgegentreten." (Ende/IPS/kb/2013)

Links:
http://www.sulabhinternational.org/
http://www.ipsnews.net/2013/08/widows-celebrate-a-little-at-last/

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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 29. August 2013
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veröffentlicht im Schattenblick zum 30. August 2013