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FRAUEN/765: Die Hälfte des Parlaments in Mexiko gehört den Frauen (frauen*solidarität)


frauen*solidarität - Nr. 145, 3/18

Die Hälfte des Parlaments in Mexiko gehört den Frauen
In den Abgeordnetenhäusern ist Parität weitgehend erreicht, aber Frauen leiden stark unter politischer Gewalt

Sonja Gerth und Anayeli García Martínez


In Mexiko ist am 1. Juli gewählt worden, neben dem neuen Präsidenten, dem Linken Andrés Manuel López Obrador, auch beide Kammern des Kongresses sowie zahlreiche Länderparlamente und Gemeinderäte. Sie sind erstmals annähernd paritätisch besetzt, denn nach einer Verfassungsänderung müssen die Parteien gleich viele Frauen* und Männer* aufstellen. Doch trotz der Fortschritte erleben Politikerinnen noch viel zu viel geschlechtsspezifische Gewalt.


Auch wenn Andrés Manuel López Obrador (AMLO) sich im Wahlkampf nicht gerade für Frauenrechte stark gemacht hat, gab es am Abend des 1. Juli für die Feministinnen in Mexiko viel zu feiern. Erstmals hat sich an der Wahlurne eine linke Alternative für das Land durchgesetzt. Die Bürger_innen haben AMLOs Partei Morena mit einer breiten Mehrheit ausgestattet, und Organisationen der Zivilgesellschaft hoffen, dass sie in den Reihen von Morena auf offene Ohren zur Durchsetzung von progressiven Gesetzen stoßen. Erste Signale dafür gibt es - etwa die Arbeitstreffen von designierten Regierungsmitgliedern mit NGOs noch vor der Amtseinführung am 1. Dezember. Die Repräsentation von Frauen in der mexikanischen Politik ist mit dieser Wahl nicht nur zahlenmäßig auf einem historischen Höhepunkt, das zeigt das geplante Regierungskabinett. Darunter befindet sich die designierte Innenministerin Olga Sánchez Cordero, die sich in ihrer langen Karriere als Höchstrichterin immer wieder für die Gleichstellung eingesetzt hat, z. B. bei den Themen Lohngerechtigkeit und familiäre Gewalt.

Sánchez definiert sich selbst als Feministin und sagt: "Das Gesetz ist nicht neutral." Kurz nach dem Wahlsieg kündigte sie an, ein bundesweites Gesetz zur Entkriminalisierung von Abtreibung anstoßen zu wollen. Auch bei den anderen Posten im neuen Kabinett fällt auf, dass die Frauen nicht wie in der Vergangenheit häufig nur die weniger wichtigen Ressorts erhalten, sondern beispielsweise auch das Wirtschafts- und Energieministerium.


Quote hat für Parität gesorgt

Beide Kammern des Kongresses sind künftig annähernd paritätisch besetzt. Im Senat stieg die Zahl der Vertreterinnen laut mexikanischer Wahlbehörde von 32,8 auf 49% und im Abgeordnetenhaus von 42,6 auf 48%. Bis es so weit kommen konnte, war allerdings ein langer Kampf der Frauenbewegung in Mexiko nötig, die von außen viel Druck auf die Parlamente ausgeübt hat. Vor mehr als 30 Jahren wurde die erste vorsichtige Quote eingeführt. Im Jahr 2013 verließen Politikerinnen parteiübergreifend den Senat, um schließlich eine Verfassungsreform zu erreichen, die die gleiche Beteiligung von Frauen und Männern vorschreibt, sowohl auf Bundes- als auch auf lokaler Ebene.

So ein Bündnis mag verwundern, jedoch erkennen im Unterschied zu den meisten europäischen Ländern auch konservative Politikerinnen in Mexiko die Quote als affirmatives Instrument an. Ein Beispiel ist Marcela Torres von der konservativen PAN-Partei. Die scheidende Senatorin blickt heute noch stolz auf den gemeinsamen Frauenstreik 2013 zurück: "Die Männer wollten damals den Absatz über Parität in den Ausschuss zurückschicken, um ihn später verschwinden zu lassen. Da haben wir Frauen von den vier Parteien uns verständigt: 'Wie wäre es, wenn wir die Männer allein über ihr Wahlgesetz entscheiden lassen?' Erst nach dieser Drohung kam die Parität zustande."

Es gab auch Rückschläge, wie im Jahr 2009, als mehr als ein Dutzend gewählte Repräsentantinnen von ihren Parteien gezwungen wurden, zugunsten ihrer männlichen Stellvertreter zurückzutreten. Zudem entwickelten Parteien die Strategie, Frauen vornehmlich in jenen Bezirken als Spitzenkandidatinnen aufzustellen, in denen sie ohnehin wenig Aussicht auf Erfolg hatten. Diese Schlupflöcher, die Quote zu umgehen, sind mittlerweile gesetzlich verboten worden.

Die Politikwissenschaftlerin Aidé Hernández von der Universität Guanajuato hat 2017 eine Untersuchung über Frauen in der Politik durchgeführt. Ihrer Ansicht nach geht es nun darum, auch den Einfluss der Frauen in den Parlamenten zu erhöhen. Indikatoren dafür könnten etwa sein, wie viele ihrer Gesetzesvorschläge durchkommen (im Vergleich zu denen der Männer), oder wie viele Ausschüsse sie leiten.


Oberbürgermeisterin als Hoffnungsträgerin

An der Spitze eines der einflussreichsten Bundesstaaten angekommen ist die Morena-Politikerin Claudia Sheinbaum: Sie wurde als erste Frau zur Oberbürgermeisterin (im Rang einer Gouverneurin) von Mexiko-Stadt gewählt. Zwar hatte schon von 1999 bis 2000 mit Rosario Robles eine Frau die 9-Millionen-Einwohner_innen-Stadt regiert, sie war aber nur interimsweise ernannt worden. Sheinbaum ist Umweltingenieurin und war zuvor Bezirksbürgermeisterin des Stadtteils Tlalpan. Im Menschenrechtsbereich wird es eine von Sheinbaums Prioritäten sein, die Gewalt gegen Frauen in der Stadt zu bekämpfen. Von 2012 bis 2016 gab es in der Regierungszeit ihres Vorgängers nach Angaben der örtlichen Staatsanwaltschaft 260 Feminizide. Doch die Verwaltung zögerte, stärker dagegen vorzugehen, unter dem Vorwand, die Zahlen in Mexiko-Stadt lägen immer noch weit unter dem landesweiten Durchschnitt.

Eine zynische Argumentation, denn die Situation könnte kaum schlimmer sein: Laut UN Women gibt es in Mexiko pro Tag sieben Frauenmorde. Diese sind eingebettet in einen allgemeinen Kontext von Gewalt, verursacht durch Korruption, Straflosigkeit und die immer weiter reichende Macht der Drogenkartelle. 2017 sind mehr als 29.000 Menschen ermordet worden - ein neuer Tiefpunkt. Zum Vergleich: In Österreich waren es laut Bundeskriminalamt 54.


Gewalt im Wahlkampf

Gewalt und Unsicherheit haben sich auch im Wahlkampf niedergeschlagen, der nach Angaben des Beratungsinstituts Etellekt mit 133 ermordeten Politikern und 19 ermordeten Politikerinnen einer der blutigsten der letzten Jahre war. Bei allen Attacken erfahren die Frauen, die sich zur Wahl stellen, zusätzlich oft geschlechtsspezifische Gewalt. Und weil diese in der machistischen mexikanischen Gesellschaft schon so normal geworden ist, hatte die nationale Menschenrechtskommission im Vorfeld extra eine eigene Definition erstellt, damit Politikerinnen im konkreten Fall um Hilfe bitten konnten: Es ist Gewalt, die sie trifft, weil sie Frauen sind oder die extremere Folgen für sie hat, weil sie Frauen sind. Hasskampagnen im Netz zielen z. B. häufig auf körperliche Aspekte einer Kandidatin ab, beziehen ihre Familie mit ein oder stellen ihre Qualifikationen in Frage - anders als das etwa bei Hasskommentaren gegenüber Männern der Fall ist.

"Die geschlechtsspezifische politische Gewalt hindert die Frauen daran, ihre Rechte als Bürgerinnen voll auszuüben", meint dazu Dania Ravel vom Nationalen Wahlinstitut. Und der Justiziar des Nationalen Fraueninstituts, Pablo Navarrete, fügt hinzu, dass "leider die Parteien oft das erste Glied einer Kette von Aggressionen sind. Es kann nicht sein, dass das Risiko der Frauen, Opfer von Gewalt zu werden, ausgerechnet dann steigt, wenn sie mehr Rechte für sich erkämpft haben."

Bleibt zu hoffen, dass die verstärkte Präsenz von Frauen in den Parlamenten erstens in den Parteistrukturen etwas ändert und sich zweitens auch in Gesetzesentwürfen mit Genderperspektive niederschlägt. Die Erwartungen an die kommende Legislaturperiode sind in Mexiko jedenfalls enorm.


Zu den Autorinnen:
Sonja Gerth und Anayeli García Martínez sind Journalistinnnen und arbeiten in Mexiko-Stadt für die feministische Nachrichtenagentur CIMAC (www.cimacnoticias.com.mx/).

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Quelle:
Frauen*solidarität Nr. 145, 3/2018, S. 10-11
Text: © 2018 by Frauensolidarität / Sonja Gerth und Anayeli García Martínez
Medieninhaberin und Herausgeberin:
Frauensolidarität im C3 - feministisch-entwicklungspolitische
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. Februar 2019

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