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FRAUEN/770: Irak - Die Quote hat Gott erfunden (frauen*solidarität)


frauen*solidarität - Nr. 145, 3/18

Die Quote hat Gott erfunden
Auch im Irak ist Politik zu wichtig, um sie nur Männern zu überlassen

von Ulrike Lunacek


Das Projekt "Frauen denken den Irak neu" unterstützt irakische Frauen aller ethnischen und religiösen Gruppen aus dem gesamten Land beim Versuch, ideologische Gräben zu überwinden.


Vom Flugzeug aus sieht man Sand, Wüste und flaches Land, so weit das Auge reicht. In der Ferne einige Bergketten. Anflug auf Erbil, die Hauptstadt der Autonomen Region Kurdistan im Irak. Die historische Zitadelle (UNESCO Weltkulturerbe(1) in der Mitte ist aus der Luft gut zu sehen, ringförmig angelegt und im Licht der Nachmittagssonne von einem bräunlichen Dunst überzogen. Heiß ist es, mehr als 42 Grad untertags, und um Mitternacht immer noch 35 Grad. Dennoch: Für die Seminare des Projekts "Frauen denken den Irak neu"(2) ist Erbil ideal: Politikerinnen, Akademikerinnen, Journalistinnen, NGO-Frauen und Juristinnen fahren gerne hin, denn erstens ist die Hauptstadt der Autonomen Region Kurdistan sicherer als Bagdad und zweitens etwas weniger heiß.

Das Projekt, initiiert von elbarlament - cultures of democracy, wird vom Institut für Auslandsbeziehungen des deutschen Außenministeriums finanziert und hat in den letzten eineinhalb Jahren unter der Führung von Birgit Laubach zahlreiche Seminare für und mit prominenten irakischen Frauen aus allen ethnischen und religiösen Gruppen durchgeführt. Nach der Wahl im Mai wurde ich gebeten, einen Workshop für die neu gewählten weiblichen Abgeordneten zu gestalten.

Laut Verfassung müssen 25% der 329 Sitze des Parlaments von Frauen besetzt sein. Leider war bis zum Termin des Seminars Mitte August die aufgrund einer Wahlanfechtung nötige Neuauszählung der Stimmen noch nicht abgeschlossen - jene künftigen weiblichen Abgeordneten, die sich angemeldet hatten, konnten nicht teilnehmen, da noch unklar war, ob sie tatsächlich gewählt sind.

Wir änderten deshalb das Konzept ein wenig und fokussierten auf die Frage, was die Teilnehmerinnen vom nächsten Repräsentantenrat (CoR, Council of Representatives) und im Besonderen von den neu gewählten 82 oder 83 (329 ist nicht durch 4 teilbar) weiblichen Abgeordneten erwarten und fordern.


25% Frauen im Parlament

Egal wie viele es sein werden, ist das eine durchaus beachtliche Zahl, die einiges bewegen kann, wenn die ethnischen, religiösen, ideologischen Gräben überwunden und das Gemeinsame über das Trennende gestellt wird. Das bewies eine Initiative von zahlreichen Frauen innerhalb und außerhalb des Parlaments (unterstützt von einigen Männern), denen es schon in der letzten Legislaturperiode gelungen war, eine massive Verschlechterung des Personenstandsgesetzes zu verhindern.

Eingebracht wurde das sogenannte Jafaari-Gesetz von schiitischen islamistischen Parteien unter Führung der Fadhila Partei. Dennoch stand im Raum, dass sich auch sunnitische Parlamentarier_innen der Initiative anschließen und für die Änderungen stimmen könnten. Zu befürchten war, dass die Rechtsgelehrten der verschiedenen islamischen Richtungen bestimmen, wann ein Mädchen verheiratet werden kann - nämlich schon ab neun Jahren! Durch die unterschiedlichen Regelungen wäre aber auch die weitere Spaltung der irakischen Gesellschaft befördert worden. Dieses Gesetz konnte zum Glück verhindert werden - ein großer Erfolg der Vernetzung von Frauen über traditionelle Trennlinien hinweg.


Ziele für die kommende Legislaturperiode

Im September soll das Parlament mit der Angelobung der 329 Abgeordneten seine Arbeit aufnehmen. Um drei Dinge, auf die sich jene Frauen geeinigt hatten, die schon seit 2017 an rund einem Dutzend Workshops des Projekts "Frauen denken den Irak neu" teilgenommen haben, soll es gleich zu Beginn der kommenden Legislaturperiode gehen:

1. durchsetzen, dass eine Frau erstmals ins Präsidium des Parlaments einzieht. Dieses besteht aus drei Personen, es waren bisher immer Männer. Darüber hinaus sollen Frauen endlich Mitglieder im Sicherheits- und Verteidigungsausschuss des Parlaments werden können (das war bisher nicht erlaubt). Und es soll - am besten - die Hälfte der Vorsitze der 27 Ausschüsse des Parlaments mit Frauen besetzt werden.

2. das Parteiengesetz mit der Vorschrift versehen, dass keine Partei weniger als 25% Frauen an Mitgliedern und in ihren Strukturen (Vorstand usw.) haben darf.

3. das Gesetz gegen häusliche Gewalt im Parlament verabschieden, da dieses seit Jahren im Repräsentantenrat nicht die erforderliche Mehrheit bekommt. Die Frauen fordern außerdem, dass der Text nicht erneut aufgemacht wird, da keine Verbesserung absehbar sei. Die im Workshop anwesenden Frauen (zwei Drittel hatten schon an früheren teilgenommen) machten einen konkreten Kampagnenplan, wer welche Aktivitäten in den nächsten Wochen übernimmt und welche Journalist_innen und Medien eingebunden werden können - damit gleich einmal der erste Punkt Realität wird.


Die gläserne Decke durchbrechen

In einem weiteren Workshop im Herbst sollen die neuen Abgeordneten konkreter auf die tatsächliche parlamentarische Arbeit vorbereitet werden: wie frau sich gute Mitarbeiter_innen aussucht, wie Anfragen geschrieben werden, wie Minister_innen dem Parlament Rede und Antwort stehen müssen oder Untersuchungsausschüsse (etwa zu Korruption) eingerichtet werden können; wie Frauen in der Parlamentsverwaltung die gläserne Decke durchbrechen und wie Abgeordnete durchsetzen können, dass z. B. bei Delegationsreisen ins Ausland (etwa zur Interparlamentarischen Union) auch Parlamentarierinnen mitfahren.

Immer wieder war viel Skepsis zu hören, wie diese Zusammenarbeit denn funktionieren könne, wenn doch die meisten weiblichen Abgeordneten es bisher kaum gewagt hatten, gegen die Fraktions- oder Parteilinie (bzw. die der ethnischen oder religiösen Gruppe) etwas zu initiieren.

Wir schauten uns also gemeinsam den Film "Follow Us"(3) an, und er ist auf große Begeisterung gestoßen. Der Film zeigt die überparteiliche Zusammenarbeit von kosovarischen und serbischen weiblichen Abgeordneten - initiiert und begleitet von den jeweiligen OSZE-Vertretungen in den beiden Staaten. Auch die Politikerinnen im Film hatten anfangs viele Vorurteile, und die Wunden des Krieges sind noch lange nicht verheilt.

Einige der weiblichen Abgeordneten schildern, wie die Zusammenarbeit 2012 anfing und wie es ihnen gelungen ist, Widerstände in den eigenen Parteien zu überwinden. So erzählt die Vorsitzende des Frauen-Netzwerkes im serbischen Parlament, Marija Obradovic, dass es ihr mittlerweile egal ist, wenn sie dafür kritisiert wird, dass sie sich mit Kosovarinnen trifft, weil sie gesehen hat, dass sie viele gemeinsame Interessen und Themen haben: die Missachtung von Frauen in allen Parteien, Gewalt gegen Frauen, die geringe Teilnahme von Frauen in der Politik und vieles mehr.

Viel Zustimmung unter den Irakerinnen fanden Aussagen wie: "Politik ist zu wichtig, um sie Männern allein zu überlassen", oder - und das ist auch mein Lieblingszitat - das Statement von Teuta Sahatqija, damals Vorsitzende des FrauenCaucus in Prishtina, heute kosovarische Generalkonsulin in New York bei der UNO (wo Kosovo noch kein anerkanntes Mitglied ist): "Nicht der Mensch hat die Quote erfunden, sondern Gott: Sonst würden von zehn neugeborenen Kindern nicht im Schnitt fünf Mädchen und fünf Buben sein, sondern es wären neun Buben und ein Mädchen!"


Anmerkungen:
(1) Laut UNESCO der älteste durchgängig bewohnte Ort der Welt
(2) https://womenthinkiraqanew.org/women-think-iraq-anew-en/
(3) Link zum Film: www.youtube.com/watch?v=Y3_Ze29IwBU

Zur Autorin:
Ulrike Lunacek ist Obfrau der Frauen*solidarität. Sie war von 2009 bis 2017 Europaabgeordnete für die österreichischen Grünen und von 2014 bis 2017 Vizepräsidentin des Europaparlaments.

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Quelle:
Frauen*solidarität Nr. 145, 3/2018, S. 24-25
Text: © 2018 by Frauensolidarität / Ulrike Lunacek
Medieninhaberin und Herausgeberin:
Frauensolidarität im C3 - feministisch-entwicklungspolitische
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veröffentlicht im Schattenblick zum 19. Februar 2019

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