megafon - Die Zeitschrift aus der Reitschule | Bern | N° 491 | Mai 2023
Frauenrechtsbewegung
Suffrajitsu - Kämpfende Suffragetten
von Georg Cap
Mit Jiu-Jitsu gegen das Patriarchat. Japanische Kampfkunst als Mittel im Kampf für Frauenrechte. Ein kurzer Blick in die Geschichte der britischen Suffragettenbewegung.
Als Suffragetten versteht man Frauenrechtlerinnen [1] in Grossbritannien und den Vereinigten Staaten zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die durch passiven und aktiven Widerstand für ein allgemeines Frauenwahlrecht eintraten. Die Bezeichnung "suffragette" (vom engl. suffrage "Wahlrecht") wurde erstmals 1906 von der britischen Presse als abwertende Bezeichnung für Wahlrechtsaktivistinnen benutzt. Diese vereinnahmten den Begriff daraufhin allerdings erfolgreich als Selbstbezeichnung für sich. Ihren Ursprung nahm diese Frauenrechtsbewegung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, im Widerstand gegen ein britisches Gesetz über die Zwangsuntersuchung von Sexarbeiterinnen zur Verhütung von Geschlechtskrankheiten. Durch hartnäckigen Aktivismus erreichten die Gegnerinnen und Gegner 1886 eine Aufhebung des entsprechenden Gesetzes. Dieser Erfolg radikalisierte Befürworterinnen eines allgemeinen Frauenwahlrechts, die sich in der Folge organisierten und neue Methoden des passiven und aktiven Protests entwickelten. Unter anderem führte dies 1903 zur Gründung der "Women's Social and Political Union" (WSPU), einer bürgerlichen Frauenrechtsbewegung, die in den Folgejahren durch Proteste, Demonstrationen, Hungerstreiks, zivilen Ungehorsam aber auch Brandstiftung und Bombenanschläge für ein allgemeines Frauenwahlrecht kämpfte.
Unter der WSPU wurden die Proteste rasch grösser, heftiger und militanter. So protestierten beispielsweise am "Womens's Sunday" 1908 über 500.000 Menschen im Londoner Hyde Park für mehr Frauenrechte und ein allgemeines Frauenwahlrecht. Mit zunehmender Heftigkeit der Proteste steigerte sich auch der Widerstand des Staates und es kam zu einer massiven Zunahme von Polizeigewalt gegen Demonstrierende, insbesondere gegen Frauen. Als Teil einer Abschreckungsstrategie engagierten die Behörden meist auch zivile Schlägerbanden, um Demonstrierende zu verprügeln. Daneben war Gewalt gegen Frauen auch im Alltag (Häusliche Gewalt, Gewalt am Arbeitsplatz oder Gewalt auf offener Strasse und in der Öffentlichkeit) ein omnipräsentes Problem. Die gesellschaftliche Stellung der Frau, die mangelhafte Rechtslage und der männerdominierte Staatsapparat boten wenig Schutz und waren vielmehr die Ursache dieser Gewalt.
Zur selben Zeit lebte in London eine gewisse Edith Margaret Garrud, die sich der noch weitgehend unbekannten japanischen Kampfkunst Jiu-Jitsu widmete. Die Kernphilosophie von Jiu-Jitsu, das Ausnutzen von Grösse und Stärke des Gegenübers zum eigenen Vorteil, ermöglichte es Garrud, trotz ihrer zierlichen Körpergrösse von 1,50 Meter die Kampfkunst auf einem hohen Level zu meistern. Sie übernahm 1908 das Dojo ihres japanischen Lehrers und gründete ihr eigenes "Martial Arts Training Center". Garrud selbst war aktive Suffragette und kämpfte mit der "Women's Freedom League" (WFL), einer Abspaltung der WSPU, für Frauenwahlrecht und Geschlechtergleichstellung. Bereits früh propagierte und unterrichtete sie Jiu-Jitsu vorwiegend für Frauen, als geeignete Selbstverteidigungsform gegen Gewalt und Übergriffe von Männern. Ab 1909 organisierte sie auf Einladung der WSPU öffentliche Vorführungen von Selbstverteidigungstechniken, was ihr grossen Zulauf an Schülerinnen und steigende mediale Beachtung einbrachte. In ihren Vorführungen stellte sie meist ein Szenario dar, indem ein, als Polizist verkleideter Mann eine Frauenrechtsaktivistin attackiert und von dieser entwaffnet und überwältigt wird. So fiel die mediale Berichterstattung anfangs eher kritisch aus und ein Magazin namens "Health and Strength" titelte etwa "Ju-Jutsuffragettes: New Terror of the Police". Garrud selbst betonte stets, dass ihre Jiu-Jitsu-Kurse in erster Linie zum Selbstschutz gegen die Brutalität von Männern gedacht seien und nicht nur auf die Bekämpfung von Ordnungskräften abzielen würden. Um den Vorwürfen und Vorurteilen entgegenzuwirken schrieb sie selbst einige Essays und Artikel über Selbstverteidigung und Jiu-Jitsu, sowie ein Theaterstück mit dem Titel "Ju-Jutsu as a Husband Tamer". Auch die Medien begannen sich bald zunehmend positiv über die neuartigen Selbstverteidigungskurse für Frauen zu äussern und lobten diese mehrheitlich als sinnvollen Selbstschutz vor den zunehmend gehäuft auftretenden Überfällen und Übergriffen auf Frauen oder als Mittel zum Schutz vor häuslicher Gewalt.
Garrud verstand es geschickt, die mediale Aufmerksamkeit zu nutzen, um etwa das bis dahin kaum beachtete Thema der Gewalt an Frauen in die öffentliche Debatte zu tragen. Parallel dazu unterstützte sie den aktivistischen Kampf der Suffragetten, indem etwa ihr Dojo militanten Aktivistinnen als Versteck auf der Flucht vor der Polizei diente. In Zusammenarbeit mit der WSPU trainierte sie zudem ab 1913 persönlich die "WSPU-Bodyguards", eine Gruppe von gut dreissig Frauen, deren Ziel es war, temporär aus dem Gefängnis freigelassene Aktivistinnen vor einer Wiederverhaftung und zentrale Figuren der Frauenbewegung vor Polizeiübergriffen zu schützen. Die Bodyguards traten in der Folge mehrfach prominent bei Demonstrationen und Protestaktionen auf, wo sie sich offene Kämpfe und gewalttätige Konfrontationen mit Polizisten und Ordnungskräften lieferten. Nebst dem Einsatz von Jiu-Jitsu-Kampftechniken schreckten die Bodyguards auch vor der Benutzung verschiedener Waffen, wie etwa Holzknüppel, Stacheldraht und Schreckschusspistolen nicht zurück. Die Konfrontations- und Gewaltbereitschaft der WSPU-Bodyguards löste innerhalb der Gesellschaft eine heftige Kontroverse aus, verdeutlichte aber auch die Vehemenz der Frauenrechtsbewegung. Ungefähr zur selben Zeit tauchte auch der Begriff "suffrajitsu" in der britischen Presse auf, die den erfolgreichen und effektiven Einsatz von Jiu-Jitsu-Techniken im militanten Kampf der Suffragetten erneut kritisch, meist aber auch mit einer gewissen Bewunderung kommentierte.
Mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 stellte die WSPU ihre aktivistischen Tätigkeiten weitgehend ein, die Bodyguards verschwanden von der Bildfläche und bis zum Ende des Kriegs löste sich die WSPU nach und nach auf. Die zumeist bürgerlich-national ausgerichteten Frauenrechtsorganisationen jener Zeit stellten die Unterstützung des Staates in Kriegszeiten über den aktivistischen Einsatz für Frauenrechte. Mit stiller Lobby-Arbeit wurde aber weiterhin für ein Frauenwahirecht gekämpft und nach Ende des Krieges kam es 1918 in Grossbritannien zur Einführung eines ersten partiellen Wahlrechts für Frauen über dreissig Jahren, die einen bestimmten Mindestbesitz hatten. Mit diesem Ereignis endete die Suffragettenbewegung in Grossbritannien. Zehn Jahre später folgte schliesslich auch die Einführung des allgemeinen Frauenwahlrechts, das allen Frauen über 21 Jahren unter gleichen Bedingungen wie den Männern das Wahlrecht verlieh. Edith Garrud trat nach dem Krieg nicht mehr öffentlich als Frauenrechtsaktivistin in Erscheinung, unterrichtete aber bis 1925 weiterhin in ihrem Dojo Jiu-Jitsu zur Selbstverteidigung.
Rückblickend war die erfolgreiche Anwendung von Jiu-Jitsu durch die Frauenrechtlerinnen der Suffragettenbewegung auf mehreren Ebenen von Bedeutung. In erster Linie bot der Einsatz von Jiu-Jitsu im Alltag ein nötiges und effektives Mittel zum Selbstschutz vor der omnipräsenten körperlichen Gewalt gegen Frauen. Für die zunehmend aggressiv agierenden Aktivistinnen bestand zusätzlich der dringende Bedarf bei Auseinandersetzungen, den ausschliesslich männlichen und meist körperlich überlegenen Ordnungskräften und Gegnern kräftemässig auf Augenhöhe begegnen zu können. Schliesslich spielte noch die, meist biologistischen Argumentationsweisen der Gegnerinnen und Gegner des Frauenwahlrechts ebenfalls eine nicht zu unterschätzende Rolle. So argumentierten diese etwa mit Vorliebe, dass Frauen von Natur aus körperlich unterlegen und daher nicht imstande seien, sich selbst zu schützen, womit sie auch nicht geeignet seien politisches Wahlrecht auszuüben. Eine Argumentationsweise, die spätestens durch Edith Garrud und ihre Schülerinnen mit einem gekonnten Schulterwurf öffentlichkeitswirksam von den Beinen gefegt wurde. Aus dem dringenden Bedarf nach Selbstschutz entstanden, wurde "Suffrajitsu" am Ende so auch zu einem politischen und emanzipatorischen Statement der Suffragettenbewegung. Mittlerweile gehören Suffrajitsu und die Suffragettenbewegung der Vergangenheit an und viele Forderungen der damaligen Frauenrechtsbewegungen sind über die Jahre Realität geworden. Doch von einer echten Gleichstellung der Geschlechter sind wir auch heute noch weit entfernt. Gewalt an TINFA*-Personen [2] ist nach wie vor alltäglich und die Gesellschaft hängt bis heute im Griff ihrer patriarchalen Strukturen fest. Der Kampf um Gleichstellung und Rechte für TINFA*-Personen ist noch lange nicht abgeschlossen.
[1] Sofern im Text (im historischen Kontext der damaligen Zeit) ausschliesslich weiblich oder ausschliesslich männlich gelesene Personen gemeint sind, wird nur die weibliche resp. nur die männliche Form verwen4et. Die Begriffe Frauen und Männer werden im Text zur Bezeichnung von weiblich resp. männlich gelesenen Personen verwendet. Aufgrund historisch bedingt fehlender Quellen in Bezug auf Suffrajitsu, sind transgender, agender, intergeschlechtliche und nonbinäre Personen bei allen Formen stets auch mitgemeint.
[2] Trans-, Inter-, nicht binäre Menschen, Frauen und agender Personen
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Quelle:
megafon - Die Zeitschrift aus der Reitschule | Bern | N° 491 | Mai
2023, Seite 5
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veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 26. September 2023
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