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FRAUEN/876: Chile - Feministische Selbstverteidigung als Ort der Rebellion (poonal)


poonal - Pressedienst lateinamerikanischer Nachrichtenagenturen

Chile
Feministische Selbstverteidigung als Ort der Rebellion

Von Thea Kösler


Feministische Selbstverteidigung bietet einen Raum, in dem neue Werte gedacht und gelebt und patriarchale Denkmuster überwunden werden können.

(Santiago de Chile, 14. Juni 2023, npla) - Viele FLINTA-Personen [1] sehen sich täglich mit patriarchaler Gewalt konfrontiert. Diese hat viele Gesichter. Ob physische, sexualisierte, psychische oder ökonomische Gewalt: Alle basieren auf dem patriarchalen System, das in vielen Gesellschaften vorherrscht. Patriarchale Gewalt richtet sich gegen alle Menschen, die nicht der cis-männlichen Norm entsprechen, und sie dient dazu, Kontrolle, Dominanz und Macht auszuüben und das patriarchale Gesellschaftssystem aufrechtzuerhalten.

Im Jahr 2022 wurden in Chile 44 Frauen* Opfer von Feminiziden, der wohl extremsten Form patriarchaler Gewalt. Und doch beginnt patriarchale Gewalt viel früher: Schon die Einteilung nach einer binären Geschlechtsordnung und die damit einhergehenden Normen und Zwänge sind Ausdruck dieser Gewalt. Sie zeigt sich in den verschiedenen Möglichkeiten, Privilegien und Freiheiten, die Menschen haben (oder eben nicht). Zu den schwerwiegenden Auswirkungen patriarchaler Gewalt gehören neben körperlichen Verletzungen auch psychische Traumata, Angstzustände, Depressionen, finanzielle Abhängigkeit und eingeschränkte persönliche Freiheit.


Gemeinsam gegen patriarchale Gewalt

Einmal wöchentlich und kostenlos für alle Teilnehmer*innen findet in Santiago de Chile der Taller autodefensa feminista, ein Selbstverteidigungskurs für FLINTA-Personen statt. Er will einen Raum bieten, um sich gemeinsam gegen patriarchale Gewalt zu organisieren. Emilia, die seit zwei Wochen hier trainiert, bezeichnet ihn deswegen auch als einen Ort der Rebellion. Sie und andere Teilnehmer*innen sind gerade dabei, eine Abfolge von Schlägen und Tritten zu lernen, die sie im Notfall in verschiedenen Situationen, in denen sie bedroht werden, anwenden können. Den Kurs hat die Initiative Movimiento de mujeres clasistas [1] (Bewegung Frauen der Arbeiter*innenklasse, kurz MMC) organisiert. Amalia, die den Kurs anleitet, hat selbst erst vor zwei Jahren angefangen, in einer Selbstverteidigungsgruppe zu lernen und will ihr Wissen nun weitergeben. Sie betont, dass Selbstverteidigung für sie sehr wichtig war, um sich auf der Straße sicherer zu fühlen. Aber auch im häuslichen Bereich und in vielen anderen Lebensbereichen sei patriarchale Gewalt verbreitet und normalisiert.


Empowerment durch Selbstverteidigung

Räume wie Selbstverteidigungsgruppen sind sehr wichtig. Hier können sich FLINTA-Personen über die Gewalt, die sie erfahren, austauschen, Erfahrungen teilen und Techniken lernen, um sich selbst zu behaupten. Das Gefühl, sich verteidigen zu können, stärkt das Selbstvertrauen und kann helfen, die oft tief sitzenden Gedanken von Unterlegenheit aufzubrechen. Maca, die durch eine Freundin von dem Kurs erfahren hat, berichtet zum Beispiel, dass sie durch den Kurs ein ganz neues Gefühl zu ihrem Körper bekommen und erst jetzt erkannt hat, wie viel Kraft sie eigentlich hat. Auch Emilia berichtet, dass es für sie eine sehr bestärkende Erfahrung war, Techniken zu lernen und in einem sicheren Raum auszuprobieren.


Lernen, sich zu verteidigen - ein politischer Akt

Die Befähigung zur Selbstverteidigung ist auch ein politischer Akt. Sie hilft Betroffenen, an den Strukturen des Systems zu rütteln und sich gegen starre Geschlechterrollen zu stellen. Solche Rollenbilder vermitteln beispielsweise weiblich gelesenen Personen, ihre Aufgabe sei, in egal welcher Situation nett und freundlich zu bleiben, während Wut eher zum "männlichen" Gefühlssetting gehöre.

Das gemeinsame Erlernen von Selbstverteidigung ist aber auch ein wichtiger Ort des Austauschs, der Kollektivität und Solidarität, an dem gegenseitiges Vertrauen entsteht und neue Verbindungen geknüpft werden können, um Machtstrukturen aufzubrechen. Feministische Selbstverteidigung bietet einen Raum, in dem neue Werte gedacht und gelebt werden können, um veraltete und häufig reproduzierte Denkweisen des Patriarchats zu überwinden.


Anmerkungen:

[1] FLINTA ist eine Abkürzung und steht für Frauen, Lesben, intergeschlechtliche, nichtbinäre, trans und agender Personen.

[2] Die Bewegung "Movimiento de mujeres clasistas" (MMC) ist eine Organisation von und für Frauen der Arbeiter*innenklasse, die FLINTA-Personen unterschiedlichen Alters und unterschiedliche Beschäftigungen vereint. Gegründet im Jahr 2021 in Santiago de Chile, möchte das MMC durch verschiedene Bildungsangebote eine Befähigung der breiten Masse erreichen. Dafür organisiert das MMC thematische oder auch auf physische Bewegung fokussierte Workshops, sowie Foren und andere Aktivitäten. Das MMC finanziert sich auf Grundlage von freiwilligem Engagement, sowie durch verschiedene Veranstaltungen und Spenden.


Hier gibt es mehr Infos zur laufenden Arbeit des Movimiento de mujeres clasistas:
https://z-p3.www.instagram.com/movimientodemujeresclasistas/

Ein Audio-Beitrag zu diesem Thema ist bei Radio onda zu finden:
https://www.npla.de/thema/feminismus-queer/selbstverteidigung-gegen-patriarchale-gewalt/


URL des Artikels:
https://www.npla.de/thema/feminismus-queer/feministische-selbstverteidigung-als-ort-der-rebellion/


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https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/

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Quelle:
poonal - Pressedienst lateinamerikanischer Nachrichtenagenturen
Herausgeber: Nachrichtenpool Lateinamerika e.V.
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Telefon: 030/789 913 61
E-Mail: poonal@npla.de
Internet: http://www.npla.de

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 29. September 2023

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