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GENDER/044: Lateinamerika - Sexuelle Dissidenz versus sexuelle Vielfalt (poonal)


poonal - Pressedienst lateinamerikanischer Nachrichtenagenturen

Chile / Costa Rica / Lateinamerika
"Maskottchen der Macht" - Sexuelle Dissidenz vs. sexuelle Vielfalt

Von Markus Plate


(Mexiko-Stadt, 22. Juni 2017, npl) - Seit Jahren ist der Juni der Monat der sexuellen Vielfalt. Mit dem "Christopher Street Day" wird jedes Jahr an die Stonewall-Unruhen in New York im Jahre 1969 erinnert. Der Widerstand von Schwulen und Trans*Personen gegen willkürliche Verhaftungen gilt als Wendepunkt im Kampf für Gleichbehandlung und Anerkennung. Doch in den letzten Jahren sind die Märsche verflacht, auch in Lateinamerika sind sie zu fleischigen Parties und Werbeveranstaltungen mutiert - politische Inhalte sind jenseits der Forderung nach Öffnung der Ehe oftmals Fehlanzeige. Nicht alle in der LGBTI-Bewegung sind damit einverstanden: Der sexuellen Vielfalt stellen sich sexuelle Dissidenten entgegen, in Form von Queer- und Transfeminist*innen, Anarcoqueers, Huren und Strichern. Wie und warum sich die Kritik in Lateinamerika artikuliert, darüber haben wir mit zwei Activistas gesprochen.

Auch in Lateinamerika gibt es Dissonanzen im Regenbogen. Sexuelle Dissidenz und queer-feministisch nennen sich die, die mit dem LGBT-Mainstream so ihre Probleme haben. Auf der jährlichen CSD Parade in Mexiko-Stadt zum Beispiel, wo schwule Punks und Trans*Personen keine Toleranz, sondern Revolution fordern und lautstark zum Sturz des Patriarchats, auch eines schwulen Patriarchats aufrufen. Oder in Chile: Josecarlo Carlo Henriquez, 25 Jahre alt, Aktivist, Autor und seit seinem 17 Lebensjahr Puto - Stricher, wie er sich selber nennt. Fast ebenso lange ist Josecarlo Teil des "Colectivo Universitario de Disidencia Sexual" - eines Zusammenschlusses von Sexuellen Dissidenten in Chile. Die sexuelle Vielfalt in Chile habe sich der traditionellen heterosexuellen Norm weitgehend angepasst: Die LGBT-Bewegung werde von Männern dominiert, "die sich auch als Männer definieren und die feminineren Männer dissen". Männer einer gesetzten Klasse, ideologisch Mitte-Rechts und neoliberal. Homosexualität sei heute ein Maskottchen der Macht. Und die Agenda dieser sexuellen Vielfalt passe dazu: Öffnung der Ehe, Adoption, pro Familie, das Haus als Lebenstraum, der Privatbesitz sei heilig.


Ehe für alle reicht noch lange nicht

Sexuelle Vielfalt steht heute für vollständige Integration ins System, eingeschlossen, klar, die Institution der Ehe. Natürlich: Die Ehe für alle geht über ein einfaches "Auch WIR wollen gemeinsam vor den Altar treten" hinaus! Denn sie bietet ja auch wichtige praktische Vorteile, die heterosexuelle Pärchen seit eh und je gern in Anspruch nehmen. Im Erbschaftsrecht, bei der Krankenversicherung, das unsinnige Ehegattensplitting und und und. Wenn ein homosexueller Partner schwer krank wird, kommt es immer noch oft vor, dass die Familie des Kranken dem Partner ohne Trauschein ein Besuchsrecht verwehrt. Die Ehe kann auf dem Weg in ein besseres Leben für viele durchaus Sinn machen. Dennoch ist es verwunderlich, dass die Ehe die wichtigste Forderung der sexuellen Vielfalt zu sein scheint - wo doch weltweit so viel mehr im Argen liegt. Die Transphobie in der Gesellschaft, der weltweit kaum gegebene Zugang zu einer umfassenden Gesundheitsversorgung, Diskriminierung an Schulen et cetera.

Warum also diese Besessenheit bezüglich der Ehe für alle? Laut Genesis Santiago Cruz aus Costa Rica, Transfeministin, Journalistin, sexuelle Dissidentin habe das vor allem damit zu tun, dass die Führungspersonen der LGBTI-Bewegung in Costa Rica, die traditionell privilegiert seien, aus oberen sozialen Sphären stammten und meistens aus der Hauptstadtregion. Sie seien überproportional männlich, und kämen oft aus dem universitären Umfeld. Die politischen Forderungen richteten sich dementsprechend danach, was diese Führungspersonen für dringlich halten. Genesis kritisiert: "Die Ehe mag für den gut situierten Hauptstadtaktivisten dringlich sein, für eine Lesbe auf dem Land oder einen Schwulen an der Karibik sind andere Dinge weitaus dringlicher. Was ist mit der Trans*-Community, die für würdevolle Arbeit oder für Zugang zum Gesundheitswesen kämpft? Und darum, ihre Genderidentität gegenüber der Gesellschaft selbst definieren zu können. Was ist mit all denen, die nicht ans Heiraten und Vererben denken können, weil sie erst mal sehen müssen, nicht Opfer der tagtäglichen homo- oder transphoben Gewalt zu werden? Wir dürfen nicht zulassen, dass einige Interessen Vorrang haben, nur weil sie besser ins System passen und chic sind."


Aktivist sieht Familien als "Nester des Faschismus"

Denn während für manch einen gutsituierten lateinamerikanischen Schwulen die Ehe, eigene oder adoptierte Kinder, das Eigenheim, der gut bezahlte Job und schicke Urlaubsreisen Symbole dafür sind, dass mensch es geschafft hat, ist das klassische Familienbild für das ärmere Lateinamerika gar nicht mal so erstrebenswert, wie Josecarlo aus Chile bemerkt: "Familien, vor allem eine arme Familie wie meine, das sind in Chile Folterkammern und Nester des Faschismus. Diese Familien gehen in die Malls, nicht zum Protestieren auf die Straße". Die Familie sei die erste Diktatur über den Körper, vor allem die christlich-nationalistische Familie, wo die Frauen sich für umsonst für Sex hergeben müssten und Kinder vergewaltigt oder verprügelt würden. Trotzdem seien sich alle, von rechts bis links und christlich bis atheistisch einig, dass der Körper nicht ausgebeutet, die Liebe nicht verkauft werden dürfe. Aber die Realität sei doch, dass der Körper seit der Geburt ausgebeutet werde. Als Prostituierter, so Josecarlo, "werde ich wenigstens nicht von anderen ausgebeutet, sondern beute mich selbst aus."

Jetzt, ab Juni, stehen wie jedes Jahr wieder die Christopher Street Days im Kalender. Marchas de la Diversidad, Umzüge der Vielfalt heißen sie in Lateinamerika. Aber sie sollen eben nicht "vielfältig" sein im Sinne vielfältigster Unternehmen oder Parteien, die ihre Botschaften unter den Regenbogen bringen wollen. Es müsse endlich wieder um echte Diversität gehen, meint Genesis Santiago Cruz aus Costa Rica: "Wir wollen uns die Stempel der Heteronormativität nicht aufdrücken lassen. Wir wollen andere Formen von Beziehungen konstruieren, die authentisch und frei sind, und die sich nicht in das System dieses Raubtierkapitalismus pressen lassen, dem sich ein Teil der sexuellen Vielfalt anbiedert. Ein System, dass Menschen verschmäht und unterdrückt, weil sie weiblich oder arm oder migriert oder indigen sind. Menschen, die ebenfalls Diversität repräsentieren, so wie wir alle verschieden sind."


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Quelle:
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veröffentlicht im Schattenblick zum 5. Juli 2017

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