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INTERNATIONAL/009: Pakistan - Zahl der ausgesetzten und getöteten Kinder steigt (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 15. März 2011

Pakistan: Friedhof der ungewollten Babys - Zahl der ausgesetzten und getöteten Kinder steigt

Von Zofeen Ebrahim

Friedhof der ungewollten Kinder - Bild: © Fahim Siddiqi/IPS

Friedhof der ungewollten Kinder
Bild: © Fahim Siddiqi/IPS

Karachi, 15. März - Auf dem Friedhof in Moach Goth erinnern kein Grabstein, keine Inschrift und auch kein Koranvers an die Menschen, die hier beerdigt wurden. Nur schlichte Holzschilder, mit Nummern und dem Bestattungstag versehen, ragen schmucklos und trist aus der trockenen Erde. Die höchste Ziffer ist die 72.315 - so viele namenlose Tote haben hier, 14 Kilometer von der pakistanschen Metropole Karachi entfernt, ihre letzte Ruhestätte gefunden.

Auf dem Gelände sind auch viele Säuglinge begraben. Sie wurden von ihren unverheirateten Müttern getötet oder ausgesetzt, die in der konservativ-islamischen Gesellschaft fürchten müssen, für ihren 'Fehltritt' mit dem Tode bestraft zu werden.

Eingerichtet hat den Friedhof die in Karachi ansässige Edhi-Stiftung, das größte soziale Netwerk Südasiens. Sechs Jahre gibt es ihn schon, und der Platz wird knapp. Wie Stiftungssprecher Anwar Kazmi berichtet, wurden hier im letzten Jahr 1.210 Neugeborene aus allen Teilen Pakistans beerdigt - in den meisten Fällen Mädchen. In diesem Jahr fanden die Mitarbeiter in Karachi auf Müllkippen und in Abflusskanälen 30 ausgesetzte Säuglinge. Überlebende wurden der Polizei übergeben.

Wie viele Kinder in Pakistan nach ihrer Geburt ihrem Schicksal überlassen oder umgebracht werden, ist unbekannt. Zahlen beschränken sich in aller Regel auf die Städte. Aus den ländlichen Gebieten werden nur selten Fälle gemeldet. "Wie hoch die Dunkelziffer ist, werden wir wohl nie erfahren", meint Kazmi, der seit 40 Jahren für die Stiftung arbeitet.

In der strikt konservativen pakistanischen Gesellschaft ist außerehelicher Sex eine Sünde, und auf Ehebruch steht nach den strikten Auslegungen des Islam die Todesstrafe. "Junge unverheiratete Paare kriegen Babys, doch selbst wenn sie aus freien Stücken heiraten wollen, wird ihnen dieses im Koran durchaus gewährte Recht von den Eltern versagt", weiß Kazmi.

Der Sozialaktivist erinnert sich noch gut an eine Begebenheit, die sich vor gut 25 Jahren in Khamosh Colony, einem Armenviertel Karachis, zutrug und seiner Meinung die bis heute vorherrschende traditionelle Denkweise widerspiegelt. So hatte eine Frau ihr Neugeborenes vor einer Moschee abgelegt. Das Kind wurde entdeckt, ein Geistlicher herbeigerufen und am Ende zu Tode gesteinigt.


Abtreibungen erlaubt

Dabei sind Abtreibungen in Pakistan erlaubt, wie der bekannte Gynäkologe Shershah Syed betont. Dennoch werden Frauen häufig von Ärzten der staatlichen Kliniken abgewiesen. Die Frauen zu behandeln, würde erheblich zu einem Rückgang der Kindstötungen führen, ist er überzeugt. Um die Kollegen umzustimmen, bedürfe es jedoch eines vollständigen Gesinnungswandels.

Auf einem Teil des Moach-Goth-Friedhofs wurden die kleineren Gräber nur aufgeschüttet. Keine Holzschilder, nur gelbe Steine markieren das Kopfende. Dieses Grundstück hat die Stiftung bereits vor drei Jahren erworben, wie Khair Mohammad, der 65-jährige Totengräber, berichtet. Es sei bereits das dritte, auf dem kaum noch Platz für die zunehmende Zahl der namenlosen Toten sei. "Im letzten Jahr mussten wir 200 bis 250 Kindergräber ausheben", berichtet sein Sohn, der ebenfalls Totengräber ist und die Grabreden für die namenlosen Toten hält.

Dem 25-jährigen Haq Nawaz kommt die Aufgabe zu, die Säuglingsleichen zu baden, sie in Plastik und danach in das im Islam vorgesehene Leichentuch zu hüllen. "Anfangs machte mir der Geruch der Leichen sehr zu schaffen", berichtet der junge Mann, der seinen Beruf bereits seit vier Jahre ausübt. Der Anblick der von Insekten zerfressenen Kinderleichen macht ihm auch heute noch zu schaffen. Es brauche schon viel Mut, um die Toten zu baden, versichert er. "Dennoch fühle ich mich privilegiert, heißt es im Koran, dass dieser letzte Dienst an den Toten uns im Himmelreich Punkte bringt."

Nawaz hat für die vielen Kindstötungen kein Verständnis. Denn seit Anfang der 1970er Jahre stehen in den Stiftungszentren Wiegen bereit, in denen Eltern ihre ungewollten Kinder legen könnten. Inzwischen sind alle 335 Zentren mit solchen 'Babyklappen' ausgestattet.


Adoptiert werden meist nur die Jungen

Jeden Tag trifft die 70-jährige Bilquis Edhi, die Frau von Stiftungsgründer 'Maulana Abdul Sattar Edhi, mindestens vier kinderlose Paare, die als Adoptiveltern in Frage kommen. "Die meisten Säuglinge, die wir vermitteln, sind Jungen", berichtet sie. "Die Mädchen und die kranken Säuglinge hingegen bleiben meist in unserer Obhut."

"In allen Gesellschaften bringen unverheiratete Frauen Kinder zur Welt", betont der Gynäkologe Syed. Er geht davon aus, dass die Zahl der ungewollten Schwangerschaften gerade in den Städten noch weiter zunehmen wird. Eine Lösung des Problems sieht er in der Einführung des Sexualkundeunterrichts in den Schulen. (Ende/IPS/kb/2010)


Links:
http://www.edhifoundation.com/
http://www.ipsnews.net/news.asp?idnews=54838

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Quelle:
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veröffentlicht im Schattenblick zum 16. März 2011