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INTERNATIONAL/090: Guatemala - junge Leute der Mittelschicht treffen arme Landfamilien (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 4. Mai 2012

Guatemala: Auf Tuchfühlung mit den Armen - Junge Leute der Mittelschicht treffen Landfamilien

von Danilo Valladares



Guatemala-Stadt, 4. Mai (IPS) - Mehrere Tausend junger Guatemalteken, die in Städten leben, haben sich in unterschiedlichen ländlichen Regionen des zentralamerikanischen Staates ein Bild von den schwierigen Lebensverhältnissen gemacht. "Sie schaffen es kaum, genug Essen auf den Tisch zu bringen. Dennoch sind sie sehr gastfreundlich", berichtet Diego Orozco, der ein Wochenende bei einer armen Familie im westlichen Department Quetzaltenango zubrachte. Das Weltkinderhilfswerk UNICEF schätzt, dass etwa die Hälfte aller guatemaltekischen Kinder nicht ausreichend mit Nahrungsmitteln versorgt werden.

Seine Gastgeber hätten nur Bohnen zu essen gehabt. Er habe aber zusätzlich ein Ei und heißes Wasser bekommen, erzählt der 18-Jährige, dessen Familie der Mittelschicht angehört. "Mir wurde klar, wie kostbar für sie Wasser ist, das sie nur alle vier Tage bekommen. Sie haben kaum genug zu trinken und können nur selten baden. Ohne Wasser können sie auch ihre Felder nicht bewässern und Nahrung produzieren."

Mehr als 6.000 Jugendliche aus gutsituierten Familien, vor allem aus Guatemala Stadt, besuchten am 28. und 29. April die arme Landbevölkerung in 14 der insgesamt 22 Verwaltungsbezirke. Auch Staatspräsident Otto Pérez Molina sowie Minister und andere Regierungsbeamte beteiligten sich an der Initiative 'Todos tenemos algo que dar' (Wir müssen alle etwas geben). Organisiert wurden die Begegnungen mit Unterstützung privater Unternehmen und der Behörde für Ernährung und Nahrungssicherheit. Sie zielten darauf ab, junge Guatemalteken für die mit Armut und Unterernährung verbundenen Probleme zu sensibilisieren.


Höchster Anteil Mangelernährter in der gesamten Region

In Guatemala sind mehr Menschen chronisch mangelernährt als in anderen Ländern Lateinamerikas. Nach Erkenntnissen von UNICEF ist jedes zweite Kind unter fünf Jahren nicht ausreichend ernährt. Laut der nationalen Untersuchung der Lebensbedingungen im Jahr 2011 gelten etwa 54 Prozent der Bevölkerung als arm. 13 Prozent von ihnen, vor allem Angehörige indigener Gruppen, leben im Elend.

Orozco, dem es in der Stadt an nichts mangelt, kommt angesichts der Probleme in ländlichen Gebieten ins Grübeln: "Wir verschwenden Wasser und wissen das, was unsere Eltern uns geben, nicht richtig zu schätzen", gibt er zu. "Dabei sind wir alle Menschen und sollten dasselbe besitzen. Einige arbeiten jedoch sehr hart und kommen nicht recht voran, während sich andere nicht anstrengen müssen."

Die Jugendlichen übernachteten in staatlichen Schulen, die nahe bei den Gemeinden lagen, die sie besuchten. Sie aßen gemeinsam mit den Familien, nahmen an ihrem Arbeitsalltag teil und tauschten Meinungen aus.

Juan Carlos Girón, ein 18-jähriger Schüler an einem privaten Bildungsinstitut, verbrachte das Wochenende mit Bauern in Vixbén, einem kleinen Dorf im Hochland von Quetzaltenango. "Die Familie hat neun Kinder", berichtet er. "Sie sind arm, aber dennoch vornehm. Sie besitzen nur einen kleinen Holzofen und ein paar Teller. Das Blechdach ihrer Hütte ist löchrig und der Boden schmutzig."

Girón reagierte betroffen, als der Vater ihm sagte, dass sich seine Kinder in der Woche zuvor nicht sattessen konnten. Die Familie ließ es sich aber nicht nehmen, dem Gast eine besondere Spezialität - Schafsleber - zu servieren. Um das Fleisch einzukaufen, hatte sie alle Ersparnisse geopfert. Normalerweise ernähren sich diese Menschen vor allem von Maisfladen.

Der Besucher half hinterher dabei, Geschirr und Kleidung zu waschen, Brennholz zu hacken und die Schafe auf die Weide zu bringen. Dem Jungen fiel auf, dass das jüngste Kind, das fünf Jahre alt war, die Größe eines Dreijährigen hatte und sehr mager war. "Alle behaupteten zwar, sie alle äßen gut, aber ich sah, wie es tatsächlich zuging."


Ackerland in der Hand einiger Weniger

Guatemala gilt weltweit als eines der Länder mit dem größten sozialen Gefälle. Fast 80 Prozent der Anbauflächen befinden sich in Besitz von nur fünf Prozent der Bevölkerung, wie Zahlen des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (UNDP) belegen.

Die Organisatoren der Initiative waren mit den Ergebnissen zufrieden. "Es waren Begegnungen zwischen Menschen, die dieselbe Vision haben und gemeinsame Lösungen für die Bevölkerung in den Städten und auf dem Land suchen", sagt der Leiter der Behörde für Ernährung, Luis Enrique Monterroso. Das Besuchsprogramm ist Teil der staatlichen Kampagne 'Null Hunger', mit der die Unterernährung gelindert werden soll.

Im Mai ist laut Monterroso eine Ausstellung zum Thema alternative Ernährungsformen geplant, auf der Erfahrungen ausgetauscht werden sollen. Im Juni ist außerdem eine Solidaritätskampagne geplant, um den Menschen in ländlichen Regionen zu helfen, ihre Nahrungsprobleme besser anzugehen.

"Dass 50 Prozent der Kinder in Guatemala unterernährt sind, ist eine Tragödie", meint der Geschäftsmann Emilio Méndez, der die Initiative 'Todos tenemos algo que dar' mitorganisiert hat. "Das bedeutet, dass die Zukunft der Hälfte der Bevölkerung in Gefahr ist." (Ende/IPS/ck/2012)


Links:
http://www.sesan.gob.gt/
http://www.unicef.org/guatemala/spanish/
http://www.ipsnoticias.net/nota.asp?idnews=100663
http://www.ipsnews.net/news.asp?idnews=107640

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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 4. Mai 2012
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veröffentlicht im Schattenblick zum 8. Mai 2012