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INTERNATIONAL/116: Kolumbien - Proteste gegen Haftbedingungen auf beiden Seiten der Gitterstäbe (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 5. Oktober 2012

Kolumbien: Proteste gegen Haftbedingungen auf beiden Seiten der Gitterstäbe

von Helda Martínez


July Henríquez: Die Gefangenenproteste halten an, weil es keine Reaktionen seitens der Regierung gibt - Bild: © Helda Martínez/IPS

July Henríquez: Die Gefangenenproteste halten an, weil es keine Reaktionen seitens der Regierung gibt
Bild: © Helda Martínez/IPS

Bogotá, 5. Oktober (IPS) - Gefangene und Gefängniswärter in Kolumbien fordern unisono bessere Haftbedingungen. In 23 Gefängnissen sind Gefangene in den Hungerstreik getreten, um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen. Auch Gefängniswärter und andere Funktionäre protestieren, sehen sie sich selbst als "Gefangene" ihrer Arbeitsbedingungen. Insbesondere die hohe Zahl an Häftlingen, die ihnen unterstellt sind, macht ihnen zu schaffen.

Unterstützt werden die Aktivitäten, die bereits seit dem Nationalen Tag des Protests am 2. August andauern, von Familienangehörigen der Inhaftierten sowie von Nichtregierungsorganisationen. Die Proteste richten sich an die Regierung und insbesondere an Justizministerin Ruth Stella Correa, die Ende September eine Strafvollzugsreform angekündigt hat.

Gleichzeitig wurde eine parlamentarische Initiative zur Verbesserung der Haftbedingungen auf unbestimmte Zeit vertagt. Die christliche Partei 'Grupo Político Mira' hatte das Parlament aufgefordert, zu "der schlechten Führung der Gefängnisse, der langsamen und schwachen Legislative, der Vernachlässigung von Gefangenen, Korruption, fehlenden Strategien für Rehabilitierungsmaßnahmen sowie dem fehlenden politischen Willen, das Problem zu lösen", Stellung zu beziehen, erklärte der Senator Carlos Bahena gegenüber IPS.

Im 46 Millionen Einwohner zählenden Land gibt es mehr als 111.000 Gefangene, die auf 114 Einrichtungen verteilt sind. Das macht rund 240 Gefangene auf 100.000 Einwohner - in Europa sind es durchschnittlich 100 Gefangene pro 100.000 Einwohner. Die höchste Gefangenenrate haben die USA mit 760 Häftlingen auf 100.000 Einwohner.


Drastische Überbelegung

"Wir befinden uns in einer schwierigen Situation. Das Gefängnis La Modelo in Bogotá beispielsweise hat Platz für 2.950 Inhaftierte. Tatsächlich sind dort aber 7.965 untergebracht", sagt William Acosta von der nichtstaatlichen Hilfsgruppe für Menschen in Haft. Dieses Bild wiederhole sich auch an anderen Standorten. "Ich arbeite nun seit zehn Jahren mit Häftlingen. Jedes Mal, wenn ich ein neues Gefängnis kennenlerne, denke ich: So schlimme Bedingungen habe ich noch nie gesehen. Aber dann finde ich doch wieder eine Einrichtung, in der es noch schlimmer zugeht. In La Dorada im Department Caldas schlafen die Gefangenen nacheinander in Dreistundenschichten."

Justizministerin Correa hat nun angekündigt, sechs Megagefängnisse bauen zu lassen. Aber selbst damit würden noch immer insgesamt 9.100 Haftplätze fehlen - und die Zahl der Gefangenen steigt immer weiter. "Für 20 Personen, die neu inhaftiert werden, werden lediglich fünf entlassen", sagt Acosta.

Mit diesem Problem steht Kolumbien in Lateinamerika bei weitem nicht alleine da. Die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) veröffentliche Anfang Oktober einen Bericht, demzufolge die Zahl der Gefangenen in den 34 Mitgliedstaaten von 2,6 Millionen im Jahr 2000 auf fast 3,5 Millionen im Jahr 2010 angestiegen ist. Daraus schlussfolgert die OAS: "Die Entwicklung der Kriminalität macht es zwingend erforderlich, die bisherigen Strategien zu überprüfen."

Was Kolumbien von vielen anderen Staaten unterscheidet ist seine lange Geschichte des Bürgerkrieges. 50 Jahre lang bekämpften sich die linke Guerilla und der von Paramilitärs unterstützte Staat. Im Rahmen des von den USA unterstützten 'Plan Colombia' zur Bekämpfung der linken Guerilla und des Drogenhandels wurden von 1998 an sogenannte 'Keller-Gefängnisse' ('carceles bodega') eingerichtet, in denen es einzig ums Einsperren und keineswegs um die Resozialisierung ging.

Sie hießen so, weil ihre Ausstattung spartanisch war und sie dort aufgebaut wurden, wohin sich kaum jemals ein Mensch verirrte. "La Picota beispielsweise wurde in einem Feuchtgebiet errichtet, in der Nähe der Berge. Die Sonne scheint dort fast nie", berichtet Acosta.

July Henríquez, Direktorin der Stiftung 'Lazos de Dignidad', ist sich sicher, dass es seine Gründe hat, dass die Politik sich dem Thema nur so zögerlich annimmt. "Es ist einfacher, neue Gefängnisse zu bauen, als Lösungen für die Kriminalität zu finden." Als Stichwort nennt sie Korruption: Die Investition in den Bau von Gefängnissen und den Unterhalt der Häftlinge spüle Geld in die Kassen von Privatunternehmern.

Ein Beispiel dafür ist das so genannte 'Vertrags-Karussell', bei dem mehrere Millionen öffentliche Gelder illegal in private Kassen flossen. Immerhin führte dieser Fall zur Inhaftierung einiger beteiligter Unternehmer und Politiker.

Doch auch internationale Rechtsnormen müssen befolgt und Menschenrechte auch in den Gefängnissen beachtet werden. "Viele werden gesund eingeliefert und verlassen die Gefängnisse krank oder gar tot", sagt Henríquez. (Ende/IPS/jt/2012)


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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. Oktober 2012