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INTERNATIONAL/146: Brasilien - Verbrechensbekämpfung in Rio, Drogendealer zu Sozialarbeitern (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 13. Mai 2013

Brasilien: Drogendealer zu Sozialarbeitern - Lob von UN-Behörde für Verbrechensbekämpfung in Rio

von Fabíola Ortiz


Bild: Fabíola Ortiz/IPS

UNODC-Exekutivdirektor Juri Fedotow
besucht die Pavão-Pavãozinho-Favela in Rio
Bild: Fabíola Ortiz/IPS

Rio de Janeiro, 13. Mai (IPS) - In Rio de Janeiro war er stadtbekannt: Tuchinha, der Drogenbaron des Armenviertels Morro da Mangueira in Rio de Janeiro. Dass er lesen und schreiben konnte, ebnete ihm den Weg an die Spitze des organisierten Verbrechens, und die Hälfte seines Lebens - 25 Jahre - war er eine feste Größe im Rauschgiftgeschäft. Vor etwa zwei Jahren hat er reinen Tisch gemacht. Seitdem hilft er jungen straffällig geworden Menschen beim Ausstieg aus der Kriminalität.

"Ich hatte Geld, Frauen und Juwelen", sagt Franciso Paulo Testas Monteiro alias Tuchinha im IPS-Interview. "Doch was ich nicht hatte, war Freiheit". Insgesamt saß er 21 Jahre im Gefängnis. War er draußen, musste er sich verstecken und sah sich und seine Familie mit Morddrohungen überzogen. Am 5. August 2011 wurde der Grundstein für seinen Wandel vom Saulus zum Paulus gelegt. Damals bat ihn die Nichtregierungsorganisation 'AfroReggae', einen Workshop mit dem Ziel zu leiten, junge Menschen von der schiefen Bahn zu bringen.

"Ich habe sehr viele schlimme Dinge getan und vielen anderen schlimme Dinge befohlen", weiß Tuchinha. "Der Preis war hoch. Ich bezahlte mit meiner Freiheit." Heute sieht er seine Aufgabe darin, jungen Kriminellen dabei zu helfen, ein neues Leben zu beginnen. "Ich bin der lebende Beweis dafür, dass sich ein neues Leben in Frieden lohnt." Tuchinha besucht Gefängnisse, wo er mit jungen Insassen Gespräche führt, und er vermittelt in Konflikten in den Favelas. "Wir wollen denjenigen, die wieder auf die gerade Bahn wollen, die gleiche Chance geben, wie ich sie hatte, und ihnen helfen, in Frieden mit ihren Familien zu leben. Viele fühlen sich hilflos. Doch ich versichere ihnen, dass es Hoffnung gibt."

Der ehemalige Drogenboss setzt sich für Amnestien verurteilter Straftäter ein und motiviert die Betroffenen, sich dem Beschäftigungsprogramm von AfroReggae anzuschließen. Das 2008 angelaufene Projekt hat bereits mehr als 3.100 Menschen zu einem Job verholfen. Daniela Pereira da Silva saß drei Jahre hinter Gittern und ist nun eine der Programmkoordinatoren. "Ich bestätige die Regel, dass die meisten Frauen, die im Gefängnis landen, einen Drogendealer als Freund oder Mann hatten", erzählt sie IPS.

Die Nachfrage nach einem Platz im AfroReggae-Beschäftigungsprogramm ist groß, meint die 35-Jährige. "Außerdem stehen wir den Bewohnern von Favelas, in denen Drogenkartelle operieren, mit Rat und Tat zur Seite und helfen Angehörigen verurteilter Straftäter dabei, eine Arbeit zu finden, damit sie nicht selbst in die Kriminalität abrutschen."

Tuchinha und Silva waren Teil einer Gruppe ehemaliger Drogendealer, die mit dem Exekutivdirektor des UN-Büros für Drogenkontrolle und Verbrechensbekämpfung (UNODC), Juri Fedotow, bei seinem ersten offiziellen Brasilien-Besuch vom 7. bis 9. Mai am Hauptsitz von AfroReggae in der Favela Pavão-Pavãozinho nahe des berühmten Ipanema-Strands zusammenkam. Pavão-Pavãozinho ist einer von vielen erfolgreich befriedeten Slums in Rio. Das Erfolgsrezept lautet: eine dauerhafte Anwesenheit bewaffneter Sicherheitskräfte und gezielte Investitionen in Gesundheit, Bildung, Sport und Einkommen schaffende Maßnahmen.

Fedotow kam nach Brasilien, um sich selbst ein Bild von den in den Armenvierteln von Rio gestarteten Programmen zu machen. "Ich wollte sehen, ob die brasilianischen Erfahrungen geeignet sind, sie andernorts zu wiederholen", erklärte er. "Noch nie habe ich Vergleichbares gesehen. Ich bin beeindruckt." Den Menschen, die aus der Kriminalität gefunden haben, sprach er seine Hochachtung aus.

Mangueira und Pavão-Pavãozinho sind zwei von 32 Favelas in Rio de Janeiro, in denen jeweils eine Polizeipazifizierungseinheit (UPP) für Ruhe und Ordnung sorgt. Ziel der Behörden von Rio ist es, bis 2014 insgesamt 40 solcher UPPs in den Slums der Stadt einzurichten. Mindestens eine Million der sechs Millionen Menschen im Innenstadtgebiet von Rio Stadtgebiet lebt in einem der 750 Armenviertel, von denen einige noch immer von Drogengangs kontrolliert werden.

"Unsere Polizeiarbeit zeichnete sich lange durch Repression aus, die immer neue Konflikte und Tote forderte", erläuterte der Kommandant der lokalen UPP, Major Felipe Magalhães dos Reis, auf dem Treffen in Pavão-Pavãozinho. "Die Polizei ging nicht gegen die Wurzel des Problems vor, sondern bekämpfte nur die Symptome."

Die Drogengangs seien längst mit modernen Waffen ausgerüstet, und der Preis des damaligen Anti-Drogen-Kriegs sei hoch gewesen, so der Major. Mehr als 2.000 Polizisten wurden zwischen 1991 und 2008 getötet, hinzu kamen weitere 10.000 Menschen, die in die Schusslinie der Sicherheitskräfte gerieten und getötet wurden. 170.000 Gewehre wurden konfisziert. Erst als die Idee aufkam, die UPPs zu gründen, sei das Ausmaß der Gewalt zurückgegangen.

Brasilien ist eine wichtige Transportroute des internationalen Drogenhandels. Auch hat der Drogenkonsum zugenommen und das Land zu einem größeren Drogenabsatzmarkt gemacht. Soziale Inklusion und Entwicklung seien die die Hauptkomponenten der Kriminalitätsprävention, meinte Fedotow in Rio. Man werde die brasilianische Erfolgsgeschichte und insbesondere die Elemente soziale Integration, Befriedung und alternative Lebensmöglichkeiten in andere Länder exportieren. (Ende/IPS/kb/2013)


Links:

http://www.ipsnews.net/2013/05/drug-dealers-trade-crime-for-peace-in-rio-de-janeiro/
http://www.ipsnoticias.net/nota.asp?idnews=102820

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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 13. Mai 2013
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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. Mai 2013