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JUGEND/302: Brasilien - Gewaltprävention im Klassenraum, neues Bildungsmodell in Slums von Rio (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 21. Januar 2013

Brasilien: Gewaltprävention im Klassenraum - Neues Bildungsmodell in Slums von Rio

von Fabiana Frayssinet



Rio de Janeiro, 21. Januar (IPS) - Die Lehrer an der 'Escola Municipal IV Centenário' in einer Favela am Rand von Rio de Janeiro bringen ihren Schülern nicht nur Lesen und Schreiben bei. Sie zeigen ihnen auch - im Rahmen des Bildungsprojektes 'Schulen von morgen' -, wie sie sich bei bewaffneten Angriffen in Sicherheit bringen.

An dem Projekt beteiligen sich bisher 152 Schulen, die sich in besonders gefährdeten Gebieten befinden. Der etwa 1,5 Millionen Einwohner zählende Slum 'Complexo da Maré' im Norden von Rio de Janeiro gehört dazu.

Seit jeher werden die Armenviertel ('Favela') des südamerikanischen Landes von Drogenbanden kontrolliert. Neuerdings treiben dort auch paramilitärische Gruppen, so genannte 'milicias', ihr Unwesen, die von einflussreichen wirtschaftlichen Kreisen bezahlt werden.

"Wir haben alle Kurse besucht und sind vorbereitet. Wenn die Polizei Razzien durchführt, wissen wir genau, was zu tun ist", berichtet Rita de Cassia Magnino, die Direktorin der Grundschule. Das Training hilft den Lehrern, Schule und Schüler gegen die Auswirkungen eines nicht erklärten urbanen Krieges zu schützen. Wenn es knallt, werden die Kinder aus der Schusslinie hinter eigens geschaffene Trennwände in Sicherheit gebracht.

Magnino hofft aber, dass noch in diesem Jahr in dem Slum endlich Frieden einkehren wird. In den Elendsvierteln von Rio läuft seit 2008 ein Projekt, das schärfere Kontrollen durch die Polizei, den Bau von sanitären Anlagen und Straßen, eine bessere Gesundheitsversorgung und Arbeitsbeschaffungsprojekte vorsieht.

Das Programm der 'Schulen von morgen' wurde 2009 von den Bildungsbehörden der Stadt eingeführt, um dem Schulschwänzen entgegenzuwirken und den Unterricht in Risiko-Gebieten zu verbessern. Anders als die Kugeln sind die Ergebnisse dieser Initiative sogar über die Trennwände weit hinaus gedrungen.


Bildung als Waffe gegen Gewalt

"Die Herausforderung besteht darin, Schulen mit Unterricht auf hohem Niveau zu schaffen, damit die Bedürfnisse der Menschen, die seit Langem Mangel leiden, erfüllt werden können", sagt Jorge Werthein, der Leiter des Brasilianischen Zentrums für Lateinamerikanische Studien." Damit dieses Ziel erreicht werden könne, müssten diese Bedürfnisse aber erst erkannt werden, betont der ehemalige Direktor des Büros der UN-Bildungsorganisation UNESCO in Brasilien.

Auch Magnino ist davon überzeugt, dass Gewalt nur mit hochwertiger Bildung zu bekämpfen sei. Das Bildungsmodell ruht auf sechs Säulen, und mehr als 109.000 Kinder in verschiedenen Vierteln profitieren davon. Zunächst geht es um einen ganzheitlichen Bildungsansatz, der mehr als 50 Unterrichtsgebiete umfasst - darunter kulturelle, künstlerische und sportliche Aktivitäten.

Anders als die übrigen Schulen, die von der Stadt oder der Provinz verwaltet werden, besitzen die Schulen von morgen Leseräume, Computerzentren und Labors. Das unabhängige 'Sangari-Institut' steuert eine neue Unterrichtsmethode bei, die den Kindern helfen soll, ihre kritische Urteilsfähigkeit zu entwickeln.

"Es ist fantastisch. Die Schüler lernen, wie sie Fische in einem Aquarium züchten und Pflanzen zum Wachsen bringen", schwärmt Magnino. Die Klassenlehrer werden bei der Umsetzung der neuen pädagogischen Projekte von Koordinatoren unterstützt.

Ein weiterer wichtiger Bestandteil des Programms ist die Gesundheitsversorgung der Kinder, die regelmäßige Untersuchungen in der Schule vorsieht. Wenn nötig, werden die Schüler in einem städtischen Gesundheitszentrum behandelt. Ohne die Beteiligung des Viertels und der Eltern der Kinder wäre die Initiative allerdings nicht möglich, betont die Direktorin.

Das Programm 'Bairro Educador' (Bildungsnachbarschaft) bringt Nachbarn und Eltern mit der Schule zusammen und versucht, die Probleme in den Familien zu erkennen. Mütter und Studenten können sich freiwillig melden, um das Projekt als Tutoren zu unterstützen.

Alle zwei Wochen trifft sich Magnino mit den Eltern der Schüler. Die Anwesenheit sei mit 85 bis 90 Prozent sehr hoch, berichtet sie. Dies sei bemerkenswert, da die meisten Haushalte von alleinerziehenden Müttern geführt würden. Wenn die Familien aber nicht mitmachten, gebe es Schwierigkeiten, sagt Magnino, deren Schule von 500 Kindern im Alter von vier bis zwölf Jahren besucht wird. "Wir fordern die Eltern aber so häufig auf, zu den Treffen zu kommen, dass sie irgendwann tatsächlich erscheinen."


Lehrer mit Doppelfunktion als Sozialarbeiter

Die Lehrer vermitteln auch in den Konflikten zwischen der Schule und den Bewohnern des Slums, außerdem kümmern sie sich um Drogen- und Gewaltprobleme. Nach Ansicht von Magnino beginnt die Gewaltprävention im Klassenzimmer: "Wir erklären den Kindern, das Gewalt keine Lösung ist und alle Streitigkeiten im Dialog beigelegt werden können."

Ein umfassendes Erziehungsmodell könne dabei helfen, mentale Blockaden zu lösen, die durch die übermäßige Erfahrung von Gewalt entstanden seien, sagt Claudia Costin, die Leiterin der Bildungsbehörde von Rio.

Positive Ergebnisse kann man in den Schulen von morgen bereits beobachten. Offiziellen Untersuchungen zufolge ist die Zahl der Schulabbrecher zwischen 2008 und 2011 von 5,1 auf 3,2 Prozent gesunken. Der nationale Bildungs- und Entwicklungsindex belegt, dass diese Schulen auch in den höheren Klassen mehr Schüler haben als andere Einrichtungen. In diesem Alter werden viele Jugendliche in Favelas von kriminellen Banden angeworben. Laut Costin ist die Entwicklung des Programms beeindruckend, weil in vielen Vierteln, in denen solche Schulen liegen, weiterhin geschossen und mit Rauschgift gehandelt wird. (Ende/IPS/ck/2013)


Links:

http://www.rio.rj.gov.br/web/sme/exibeconteudo?article-id=2281501
http://www.cebela.org.br/site/
http://sangariinstitute.org/ingles/frame_eng.htm
http://www.ipsnoticias.net/nota.asp?idnews=102215
http://www.ipsnews.net/2013/01/fighting-for-a-future-in-brazils-poorest-neighbourhoods/

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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 21. Januar 2013
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veröffentlicht im Schattenblick zum 22. Januar 2013