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KIND/136: Beteiligung - mehr als ein Lippenbekenntnis (DJI Impulse)


DJI Impulse
Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 3/2015 - Nr. 111

Beteiligung - mehr als ein Lippenbekenntnis

von Ursula Winklhofer und Bernhard Kalicki


Kinder sollten mitentscheiden dürfen - nicht nur in der Familie, sondern auch in der Schule und in der Politik. Was Deutschland dafür in den vergangenen Jahren getan hat und in welchen Bereichen Nachholbedarf besteht.


Das Recht des Kindes, gehört zu werden, ist eines der vier grundlegenden Prinzipien der UN-Kinderrechtskonvention (KRK, Artikel 12). Der UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes hat in seinem »General Comment No. 12« des Jahres 2009 detaillierte Ausführungen zur Bedeutung und Umsetzung dieses Artikels ausgearbeitet. Inzwischen gibt es weltweit Fortschritte auf der Ebene der Gesetzgebung und der politischen Strategien. Doch in den meisten Gesellschaften behindern nach wie vor überkommene Denkweisen sowie politische und ökonomische Situationen die effektive Umsetzung dieses Anspruchs in der Praxis. Bestimmte Gruppen von Kindern werden besonders stark benachteiligt, zum Beispiel diejenigen aus bildungsfernen Elternhäusern oder jüngere Kinder.

In Deutschland ist der Anspruch, Kinder und Jugendliche zu beteiligen, in gesetzliche Vorgaben, politische Strategien und Bildungsleitlinien eingegangen. Die öffentlichen Diskurse in Politik, Wissenschaft und Fachpraxis tendieren eher in Richtung einer stärkeren Beteiligung von Kindern. Insgesamt gesehen wurde die »Stellung der Kinder in den gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen durch den Beitritt Deutschlands zur Kinderrechtskonvention gestärkt« (Krappmann 2011, S. 13). Dennoch ist die Partizipation vielerorts noch nicht oder nur in mangelhafter Qualität umgesetzt worden. Dies liegt oft auch an der Unsicherheit darüber, was Beteiligung im Sinne der KRK genau bedeutet - nämlich mehr als die bloße Teilnahme an einem Angebot, mehr als das Engagement für eine Sache und mehr als die Übernahme einer verantwortlichen Aufgabe (Winklhofer 2014). Von Partizipation im eigentlichen Sinn kann gesprochen werden, »wenn Kinder und Jugendliche an Entscheidungen mitwirken, die sie betreffen, wenn sie in wichtigen Belangen mitbestimmen und auf diese Weise aktiv ihre Lebensbereiche mitgestalten« (Fatke/Schneider 2005, S. 7).

Kinder und Jugendliche dürfen heute vor allem in der Familie mitreden und mitentscheiden. Eine große Mehrheit der Kinder in Deutschland bestimmt weitgehend selbst, mit welchen Freunden sie sich treffen (88 Prozent), wie sie ihre Freizeit gestalten (85 Prozent) oder wofür sie ihr Taschengeld ausgeben (72 Prozent). Auch an Familienentscheidungen werden Kinder beteiligt. Drei Viertel von ihnen reden bei der gemeinsamen Freizeitgestaltung mit, mehr als die Hälfte darf mitentscheiden, was es zu essen gibt (53 Prozent; Pupeter/Schneekloth 2013). Die meisten Kinder erfahren die Wertschätzung ihrer eigenen Meinung vor allem durch ihre Mutter (60 Prozent) und - etwas seltener - durch ihren Vater (49 Prozent; ebd.). Die Mitbestimmung ist allerdings in vielen Bereichen abhängig von der Schichtzugehörigkeit der Familie: Kinder aus bildungsfernen und von Armut betroffenen Schichten erleben deutlich seltener, dass ihre Meinung respektiert wird und dass sie in der Familie mitentscheiden können.

Wenn Eltern ihren Kindern viele Freiheiten zugestehen, geschieht das aber nicht immer mit der Absicht, den Nachwuchs zu selbst denkenden und handelnden Menschen zu erziehen. Stattdessen ist es in vielen Fällen der bequemere Weg bei der Erziehung: Anstatt mit ihren Kindern zu diskutieren und ihnen Grenzen aufzuzeigen, ziehen sich manche Eltern zurück und vermeiden Konflikte.


Ganztagsschulen stärken die Partizipation nicht automatisch

Unabhängig vom familiären Hintergrund bieten Institutionen wie Kindertageseinrichtungen und Schulen die Chance, allen Kindern die Erfahrung des Beteiligtwerdens zu vermitteln. Die Mitwirkung in der Schule ist abgesichert durch die Landesschulgesetze (mit unterschiedlicher Reichweite der Mitwirkungsrechte je nach Bundesland) und durch bildungspolitische Zielvorgaben wie zum Beispiel die Erziehung zur Demokratie. Kinder und Jugendliche finden die Möglichkeit der Mitwirkung in der Schule allerdings oft unzureichend (Fatke/Schneider 2005, Pupeter/Schneekloth 2013). Ein Grund dafür ist, dass eine Partizipationskultur, die auf eine gleichberechtigte Kommunikation angewiesen ist, in der Schule oft auf starre Strukturen trifft: auf Hierarchien, curriculare Vorgaben und den Zwang zur Leistungsbewertung. Für Lehrkräfte ist es eine Herausforderung, ihre gewohnte anleitende Rolle zu verlassen und mit Kindern und Jugendlichen über Inhalte und Interessen zu verhandeln, ohne sie zu dominieren (BMFSFJ 2010). Auch Ganztagsschulen tragen mit ihrem zeitlich ausgeweiteten Rahmen nicht automatisch dazu bei, die Partizipation zu stärken. Studien zeigen jedoch: Wenn für die Schule die Entwicklung der »Lernkultur« ein wichtiges Ziel darstellt, dann steigen auch die Mitwirkungsmöglichkeiten für Schülerinnen und Schüler (StEG 2011), da dadurch unter anderem die Selbstorganisation und die sozialen Kompetenzen der Kinder gefördert werden.


Die respektvolle Kommunikation ist eine Grundvoraussetzung für Beteiligung

Je jünger Kinder sind, desto wichtiger sind die pädagogische Grundhaltung und die methodische Gestaltung von Partizipation. Auf Seiten der Erwachsenen ist es wichtig, sensibel und feinfühlig auf die Äußerungen der Kinder zu reagieren und eine respektvolle Kommunikation zu etablieren. Gleichzeitig benötigt Partizipation eine strukturelle Verankerung, in der die Rechte der Kinder festgeschrieben sind - beispielsweise durch eine Kita-Verfassung. Mit dem seit 2012 geltenden Bundeskinderschutzgesetz sind Kindertageseinrichtungen dazu verpflichtet, Beschwerdeverfahren und Beteiligungsmöglichkeiten für Kinder einzurichten, so dass ihr Recht auf Partizipation gestärkt wird. Studien dazu, wie diese im Alltag konkret umgesetzt werden, gibt es zwar noch nicht. Aber Berichte aus der Praxis zeigen, dass bisher nur ein kleiner Teil der Kindertageseinrichtungen ein konzeptionell fundiertes Beschwerdemanagement etabliert hat. Dazu gehört zum Beispiel, für Beschwerden feste Ansprechpersonen zu benennen und den Kindern zu erklären, wie mit ihren Beschwerden umgegangen wird (Hansen/Knauer 2013). Die Kinderrechte bilden darüber hinaus einen wertvollen Bezugsrahmen, wenn es darum geht, das pädagogische Konzept einer Kindertageseinrichtung zu erarbeiten (Maywald 2015).

Während das Interesse an der Beteiligung von Kindern und Jugendlichen in Kitas und Schulen wächst, ist es in den Kommunen in den vergangenen Jahren etwas abgeflacht. Seit Mitte der 1990er-Jahre wurden dafür gerade auf der kommunalen Ebene vielfältige Ansätze und Methoden entwickelt. Kinder- und Jugendparlamente oder Kinder- und Jugendforen haben sich jedoch nicht bundesweit etabliert, ein Drittel der Jugendamtsbezirke hat keines dieser Gremien (Gadow u.a. 2013). Die Beteiligung daran stagniert oder ist leicht rückläufig. Der Anteil an Kinder- und Jugendbeauftragten, die sich für die Interessen und für die direkte Beteiligung der Heranwachsenden einsetzen, ist ebenfalls gesunken. Gründe dafür sind Einsparungen in den Kommunen und eine gewisse Ernüchterung bei den jungen Menschen selbst. Sie haben erlebt, dass ihre Beteiligung Geduld verlangt und nicht immer greifbare Ergebnisse bringt, und von manchem Erwachsenen als eine Störung bestehender Abläufe erlebt wird. Dennoch haben etwa zwei Drittel der Kommunen eine projektorientierte Beteiligungskultur etabliert, zum Beispiel bei der Planung von Spiel- und Freizeitgeländen (Winklhofer/Zinser 2008).

Kinder und Jugendliche können politische Beteiligung in vielen Kommunen konkret erfahren - allerdings muss kritisch hinterfragt werden, bei welchen Themen Politikerinnen und Politiker Jugendliche überhaupt mitreden lassen. Die Beteiligung bei der Gestaltung eines Spielplatzes kann leicht zu einem »Beteiligungs-Feigenblatt« werden, mit dem sich die Politik ohne allzu großes Risiko schmücken kann. Wichtigere oder weitreichendere Themen wie Umwelt, Bildung, der öffentliche Nahverkehr oder der städtische Haushalt werden häufig von der Mitwirkung ausgenommen.


Es gibt Gründe dafür, Kinder nicht zu beteiligen

Natürlich gibt es auch Gründe dafür, Kinder nicht oder nicht zu früh an Entscheidungen zu beteiligen, zum Beispiel bei Konflikten oder der Trennung der Eltern. Dabei müssen Kinder geschützt und dürfen möglichst nicht in Loyalitätskonflikte gedrängt werden. Sie sollten angehört und ihre Meinung sollte berücksichtigt werden, etwa wenn es darum geht, bei welchem Elternteil sie leben und wie der Umgang mit dem zweiten Elternteil gestaltet wird. Gleichwohl treffen die Eltern hier die Entscheidung - wenn sie sich einigen können. In strittigen Fällen kann die Familienmediation zu einer Lösung beitragen, oder aber das Familiengericht entscheidet. Auch in diesen Verfahren sollten Kinder einbezogen und ihre Interessen berücksichtigt werden. Die Partizipation sollte immer am Alter und Entwicklungsstand von jungen Menschen ausgerichtet sein.

Wenn Kinder und Jugendliche beteiligt werden, ist die Qualität der Partizipation entscheidend. Im Kontext des Nationalen Aktionsplans mit dem Titel »Für ein kindergerechtes Deutschland 2005-2010« wurden Qualitätsstandards für die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen entwickelt. Dadurch sollten Institutionen einen Orientierungsrahmen erhalten (BMFSFJ 2010). Die Umsetzung der Qualitätsstandards wird im Nationalen Aktionsplan als kontinuierlicher Prozess angesehen und für verschiedene Handlungsfelder wie Kita, Schule oder auch die Erzieherischen Hilfen genauer erläutert. Demnach müssen beispielsweise die konzeptionelle Verankerung der Partizipation und die Entscheidungsspielräume klar definiert sein. Vor der Einführung sollten verständliche Informationen zusammengestellt werden und geklärt sein, welche Ressourcen für die personelle Begleitung und Qualifizierung zur Verfügung stehen. Ein weiteres wichtiges Kriterium ist es, Ergebnisse des Beteiligungsprozesses zeitnah umzusetzen und zielgruppenorientierte Methoden anzuwenden. Über die konkrete Umsetzung dieser Empfehlungen etwa in Kindertageseinrichtungen oder Schulen liegen derzeit allerdings noch keine Untersuchungen vor.

Partizipation kann nur dann erfolgreich sein, wenn sie strukturell verankert und eine gute Qualität gewährleistet ist. Dazu gehört auch das Bewusstsein der Erwachsenen, dass sie ihr pädagogisches Handeln immer wieder hinterfragen und sich mit ihren Haltungen, ihren Interessen und ihrem Rollenverständnis auseinandersetzen (Winklhofer 2014). Erwachsene müssen dabei zweierlei leisten: Sie sollten erstens Kindern und Jugendlichen ihrem Alter angemessene Entscheidungsspielräume und Gleichheitsrechte zugestehen und diese klar rahmen und verbindlich sichern. Und sie müssen zweitens klarstellen, was sie als Erwachsene bestimmen und welche Verantwortung sie innehaben.


Die Autorin, der Autor

Ursula Winklhofer, Kommunikationswissenschaftlerin und Diplom-Sozialpädagogin, ist wissenschaftliche Referentin in der Abteilung »Kinder und Kinderbetreuung« des Deutschen Jugendinstituts (DJI). Ihre Forschungsschwerpunkte sind Kinder- und Kindheitsforschung, Partizipation von Kindern und Jugendlichen, Kinderrechte und Kinderpolitik.
Kontakt: winklhofer@dji.de

Prof. Dr. Bernhard Kalicki leitet die Abteilung »Kinder und Kinderbetreuung« des DJIs und lehrt an der Evangelischen Hochschule Dresden (EHS). Seine Forschungsschwerpunkte umfassen unter anderem die familiäre und außerfamiliäre Sozialisation, die frühkindliche Bildung und die Entwicklung über die Lebensspanne.
Kontakt: kalicki@dji.de


Literatur

Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ; Hrsg.; 2010): Qualitätsstandards für Beteiligung von Kindern und Jugendlichen. Allgemeine Qualitätsstandards und Empfehlungen für die Praxisfelder Kindertageseinrichtungen, Schule, Kommune, Kinder- und Jugendarbeit und Erzieherische Hilfen. Berlin. Im Internet verfügbar unter: www.kindergerechtes-deutschland.de (Zugriff: 27.10.2015)

Fatke, Reinhard / Schneider, Helmut (2005): Kinder- und Jugendpartizipation in Deutschland. Daten, Fakten, Perspektiven. Gütersloh

Gadow, Tina u.a. (2013): Wie geht's der Kinder- und Jugendhilfe? Empirische Befunde und Analysen. Weinheim/Basel

Hansen, Rüdiger / Knauer, Raingard (2013): Beschweren erwünscht! Wie Kindertageseinrichtungen Beschwerdeverfahren für Kinder umsetzen können. In: TPS - Theorie und Praxis der Sozialpädagogik, Ausgaben Nr. 9/2013, S. 40-43, und 10/2013, S. 44-47

Krappmann, Lothar (2011): Generationenvermittlung in der Grundschule. Vorwort. In: Heinzel, Friederike (Hrsg.): Generationenvermittlung in der Grundschule. Ende der Kindgemäßheit? Bad Heilbrunn, S. 7-15

Maywald, Jörg (2015): Kinder haben Rechte. Der Kinderrechteansatz in Kindertageseinrichtungen. In: Kalicki, Bernhard / Wolff-Marting, Catrin (Hrsg.): Qualität in aller Munde. Themen, Positionen, Perspektiven in der kindheitspädagogischen Debatte. Freiburg, S. 83-91

Pupeter, Monika / Schneekloth, Ulrich (2013): Mitbestimmung und die eigene Meinung. In: World Vision Deutschland e.V. (Hrsg.): Kinder in Deutschland 2013. Dritte World Vision Kinderstudie, S.182-203

StEG (2011): Ganztagsschule: Entwicklungen und Wirkungen. Im Internet verfügbar unter:
www.projekt-steg.de/sites/default/files/Ergebnisbroschuere_StEG_2010.pdf
(Zugriff: 27.10.2015)

Winklhofer, Ursula (2014): Partizipation und die Qualität pädagogischer Beziehungen. In: Prengel, Annedore / Winklhofer, Ursula (Hrsg.): Kinderrechte in pädagogischen Beziehungen. Band 1: Praxiszugänge. Opladen, S. 57-70

Winklhofer, Ursula / Zinser, Claudia (2008): Jugend und gesellschaftliche Partizipation. In: Bingel, Gabriele / Nordmann, Anja / Münchmeier, Richard (Hrsg.): Die Gesellschaft und ihre Jugend. Opladen/Farmington Hills, S. 71-93

DJI Impulse 3/2015 - Das komplette Heft finden Sie im Internet unter:
www.dji.de/impulse

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Quelle:
DJI Impulse - Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 3/2015 - Nr. 111, S. 18-20
Herausgeber: Deutsches Jugendinstitut e.V.
Nockherstraße 2, 81541 München
Telefon: 089/6 23 06-140, Fax: 089/6 23 06-265
Internet: www.dji.de
 
DJI Impulse erscheint viermal im Jahr.
Die Hefte können kostenlos unter www.dji.de/impulsebestellung.htm
abonniert oder unter vontz@dji.de schriftlich angefordert werden.


veröffentlicht im Schattenblick zum 8. Juni 2016

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