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REDE/035: Scholz - Mindestarbeitsbedingungen und Arbeitnehmer-Entsendegesetz, 22.01.09 (BPA)


Presse- und Informationsamt der Bundesregierung
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Rede des Bundesministers für Arbeit und Soziales, Olaf Scholz, zum Entwurf eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die Festsetzung von Mindestarbeitsbedingungen und zum Arbeitnehmer-Entsendegesetz vor dem Deutschen Bundestag am 22. Januar 2009 in Berlin


Sehr geehrter Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Heute ist ein wichtiger Tag für viele Bürgerinnen und Bürger unseres Landes - was man nicht immer sagen kann, wenn hier im Bundestag über Gesetze debattiert wird. Das, was wir heute zu bereden haben, wird aber dazu führen, dass mehrere Hunderttausend Menschen in unserem Land über bessere Löhne verfügen, als das heute der Fall ist. Wann kann man das schon sagen? Ich glaube, dass wir heute gute Gesetze abschließend beraten werden.

Wer arbeitet, der will das in der Regel gut machen. Er gibt sein Bestes, steckt Freude hinein und will mit Stolz auf die Ergebnisse der Arbeit blicken. Eine Gesellschaft, die die in der Arbeit liegende Anstrengung nicht wertschätzt, untergräbt den Zusammenhalt und damit das Fundament, auf dem sie gegründet ist.

Wenn wir signalisieren, dass die Fähigkeiten und das Engagement nicht so viel wert sind, dass man ein einfaches Auskommen erreichen und damit den eigenen Lebensunterhalt decken kann, dann dürfen wir uns nicht wundern, dass sich Bürgerinnen und Bürger unseres Landes gedemütigt und von unserem Gemeinwesen ausgeschlossen fühlen. Dies zu ändern, ist die Aufgabe der heutigen Gesetzgebung.

Darum ist es unumgänglich und notwendig, dass wir etwas tun, um dazu beizutragen, dass das persönliche Engagement, die Aktivität und die Anstrengung von Bürgerinnen und Bürger auch belohnt werden und sich auszahlen. Im Zusammenhang mit der Diskussion über Mindestlöhne geht es darum, dass Anstrengung sich lohnt und auszahlt. Dies ist eine Grundlage unserer Wirtschaftsordnung.

Von selbst geht das leider nicht immer. Die Vorstellung, dass der Markt es schon alleine richten wird, ist in diesen Tagen ja auf katastrophale Weise widerlegt worden. Weltwirtschaftlich müssen wir ausbaden, dass es sich eben nicht als richtig erwiesen hat, die Marktwirtschaft ganz ohne Regeln funktionieren zu lassen. Alle in diesem Hause sind sich einig, dass wir Regeln für die internationalen Finanzmärkte brauchen, um eine solche Katastrophe, wie sie jetzt auf die Weltkonjunktur zukommt, für die Zukunft zu vermeiden.

Wir brauchen aber auch Regeln für die Bürgerinnen und Bürger in unserem Lande, die schwere Arbeit leisten und heute nicht mit dem Einkommen zurechtkommen, das sie dabei erhalten.

Mit der Verabschiedung der Gesetzentwürfe zum Arbeitnehmer-Entsendegesetz und zum Gesetz über die Festsetzung von Mindestarbeitsbedingungen leisten wir einen wichtigen Beitrag, um Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in Deutschland besser als bisher zu garantieren, dass ihr Lohn nicht unter ein unerträgliches Maß gedrückt werden kann.

Außerdem schaffen wir - auch das darf nicht vergessen werden - einen fairen Handlungsrahmen für unternehmerisches Handeln. Wenn Löhne nicht ausreichen, um den eigenen Lebensunterhalt zu bestreiten, wird ja nicht nur die Würde von Arbeitnehmern verletzt; es geht auch um die Gefühle sehr engagierter, tatkräftiger Unternehmerinnen und Unternehmer.

Ich kenne viele, die oft auch in persönlichem Kontakt mit ihren Mitarbeitern stehen, deren Lebensverhältnisse und Familien kennen und sich mit ihnen duzen und die es kaum aushalten können, dass sie ihren Arbeitnehmern wegen unerträglicher Konkurrenz- und Wirtschaftsbedingungen nicht einmal Löhne zahlen können, die ausreichen, um den Lebensunterhalt zu bestreiten. Diese Unternehmer freuen sich jetzt über die Regelungen, die wir heute hier beraten.

Diese Unternehmer sind übrigens nicht die Einzigen, die sich freuen. Denn es waren auch Unternehmensverbände, die vorgeschlagen und uns darum gebeten haben, dass wir gesetzliche Regelungen auf den Weg bringen, um Mindestlöhne in ihren Branchen zu etablieren. Das ist die Grundlage des Konsenses, den die Koalition erreicht hat. Ich glaube, auch das muss festgehalten werden. Es geht hier um etwas, was für eine soziale Marktwirtschaft unverzichtbar ist.

In das Arbeitnehmer-Entsendegesetz werden heute Branchen auf Wunsch der Arbeitgeber und der Gewerkschaften aufgenommen, in denen eine Tarifbindung von mindestens 50 Prozent herrscht. Über das Mindestarbeitsbedingungengesetz versuchen wir dort zu Verbesserungen zu kommen, wo Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vor schlimmer Ausbeutung nicht schützen können. Denn auch das ist etwas, was wir lernen mussten: Nicht jeder niedrige Lohn ist wirklich durch Konkurrenz bedingt. Manchmal gibt es ihn einfach nur deshalb, weil man ihn durchsetzen kann. Das müssen wir mit den Gesetzen beenden, die wir heute auf den Weg bringen.

Eine dritte Möglichkeit, über die sich die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen verständigt haben, ist, dass wir auch für die Zeitarbeit eine Lohnuntergrenze festsetzen werden. Das geschieht in einem eigenständigen Gesetzgebungsverfahren im Rahmen des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes. Ich glaube, auch das ist ein guter Fortschritt. Denn dieser Bereich ist gewissermaßen ein Gradmesser für das, was in unserem Lande passiert. Die Menschen, die dort arbeiten, arbeiten in allen Branchen. Deswegen brauchen wir auch dort eine Regelung. Es ist gut, dass wir uns auf einen Weg dorthin verständigt haben.

Wir wären nicht da, wo wir heute stehen, wenn die Traditionen der Sozialpartnerschaft noch so gelten würden, wie sie in den letzten Jahrzehnten schon einmal gegolten haben. Aber es gab in den letzten Jahren einige, die durch Talkshows gezogen sind und immer wieder gesagt haben, dass mit der Sozialpartnerschaft Schluss sein muss. Sie hatten mehr Erfolg, als man sich gewünscht hätte. Denn anders als in früheren Jahrzehnten gibt es in unserer Volkswirtschaft große Sektoren, in denen Lohn- und Arbeitsbedingungen nicht mehr durch Verständigung von Arbeitgebern und Gewerkschaften bestimmt werden. Es herrscht dort nur noch nackte Konkurrenz, die meistens zulasten von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern geht.

Aber die, die die Sozialpartnerschaft so infrage gestellt haben, hätten vorher wissen können: Wenn es nicht die Tarifparteien und die Sozialpartner sind, die die Regelungen treffen, dann muss der demokratische Staat an ihre Stelle treten. Genau das machen wir mit diesen Gesetzen. Denjenigen, die damals die Sozialpartnerschaft infrage gestellt haben, muss man sagen, dass es ihnen wie dem Zauberlehrling bei Goethe geht: "Die ich rief, die Geister, werd' ich nun nicht los." Genau das muss man heute sagen.

Die beiden Gesetze sind alte Bekannte. Das Mindestarbeitsbedingungengesetz stammt aus der ersten Legislaturperiode des Deutschen Bundestages. Im Jahre 1950 gab es einen Antrag der SPD-Fraktion, der 1951 mit den Stimmen der Mehrheit des Hauses - also auch mit denen der Union - beschlossen worden ist. 1952 trat das entsprechende Gesetz in Kraft. Das Arbeitnehmer-Entsendegesetz stammt aus dem Jahr 1996, also aus der Zeit einer von CDU/CSU und FDP getragenen Regierung. Es ist dann später mit Leben erfüllt worden. Seit diesem Zeitpunkt haben wir die gesetzlichen Grundlagen, die dazu beigetragen haben, dass es zum Beispiel bereits heute in der Baubranche Mindestlöhne gibt.

Wir haben uns verständigt, dass jetzt sechs weitere Branchen hinzukommen sollen: die Pflegebranche, die Sicherheitsdienstleistungen, die Bergbauspezialarbeiten, Großwäschereien, die Abfallwirtschaft sowie Aus- und Weiterbildungsdienstleistungen im Bereich der Arbeitsmarktförderung. Wenn man das alles zusammen betrachtet, dann kann man sagen: Am Anfang dieser Legislaturperiode waren 700.000 Bürgerinnen und Bürger im Baugewerbe durch Mindestlöhne geschützt. Heute sind es 1,8 Millionen. Jetzt kommen noch einmal 1,2 Millionen hinzu. Wenn es am Ende auch für die Leiharbeit eine Lohnuntergrenze geben wird, dann werden fast vier Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer durch Lohnuntergrenzen und Mindestlöhne geschützt sein. Das ist eine Verfünffachung in dieser Legislaturperiode und eine gute Anknüpfung an die sozialpartnerschaftlichen Traditionen unseres Landes. Wenn man bedenkt, dass diese Regelung nicht in den Wahlprogrammen aller Koalitionsparteien die gleiche Prominenz gefunden hat, ist das ein bemerkenswerter Fortschritt.

Man kann natürlich immer auch über andere Regelungen diskutieren. Ich finde also, dass es, wenn man einen großen Fluss überqueren will, erfolgversprechender ist, sich von Insel zu Insel vorzuarbeiten und geduldig Brücken zu bauen, anstatt zu versuchen, einfach gerade durchzuschwimmen, um dann womöglich mitgerissen zu werden. Die Brücken, die wir mühsam geschaffen haben, sind stabil. Sie werden - das ist wichtig - für Jahrzehnte halten, weil sie von einem breiten Konsens, der über die Koalitionsfraktionen hinausgeht, getragen werden. Deshalb bauen wir hier etwas Wichtiges und Stabiles für die Zukunft.

An einzelnen Branchen kann man sehen, was getan werden muss. Ich will exemplarisch auf die Pflegebranche zu sprechen kommen. Es handelt sich hierbei um eine Zukunftsbranche unseres Landes. Wir alle wissen: Dort werden immer mehr Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer beschäftigt werden und beschäftigt werden müssen. Die Arbeit, die Pflegerinnen und Pfleger leisten, ist von unschätzbarem Wert für das Leben vieler Bürgerinnen und Bürger und für die Zukunft unseres Landes. Mit den Löhnen, die in der Pflege teilweise gezahlt werden, kann man die Ansprüche, die an die Pflege gestellt werden, aber gar nicht erfüllen. Es geht um qualifizierte, schwere Arbeit, die dort geleistet wird. Deshalb muss sie auch anständig bezahlt werden.

Man kann den Leuten nicht sagen: "Arbeitet in einem Pflegeberuf, seid engagiert und tragt dazu bei, dass Bürger dieses Landes, die ein langes Arbeitsleben hinter sich haben, einen erfüllten Lebensabend haben", diesen Leuten dann aber eine Lohnabrechnung schicken, mit der man ihnen quasi mitteilt: "Wenn ihr nicht Geld von eurer Familie oder einer Arbeitsgemeinschaft bekommt, dann könnt ihr euren Lebensunterhalt nicht finanzieren." Das passt nicht zusammen. Das muss verändert und verhindert werden.

Ich sage das auch, weil es viele gibt, die als Arbeitgeber auch aus sozialen und karitativen Beweggründen in diesem Bereich tätig sind und bei denen das nicht so ist. Sie werden aber bedroht von einer Konkurrenz, die sich aufmacht, das, was teilweise über Jahrzehnte oder sogar ein Jahrhundert hinweg an sozialen Strukturen gewachsen ist, infrage zu stellen. Das darf nicht sein. Darum bin ich froh, dass wir für die Pflegebranche eine Regelung gefunden haben, die den Besonderheiten und Traditionen dieser Branche gerecht wird. Ich will zum Gepräge dieser Branche ausdrücklich sagen, dass insbesondere in kirchlichen Arbeitsstrukturen gute Arbeit zu fairen Bedingungen geleistet wird.

Deshalb mussten wir auf den sogenannten "Dritten Weg", der hier eine besondere Rolle spielt, Rücksicht nehmen. Wir mussten zur Kenntnis nehmen, dass die Arbeitsbedingungen in den kirchlichen und karitativen Organisationen durch Arbeitsvertragsrichtlinien festgelegt werden, die in paritätisch besetzten Kommissionen bestimmt werden. Das ist ein gleichwertiger Weg zu den Tarifverträgen außerhalb des kirchlichen Bereichs. Diese Gleichwertigkeit musste für die Pflegebranche vom Gesetzgeber berücksichtigt werden, indem wir gesagt haben: Es passt nicht, dass wir das eine Ergebnis - die Tarifverträge eines geschlossenen Systems - dem anderen überstülpen. Genauso wie es umgekehrt nicht passt, weil es geschlossene Systeme sind. Wir müssen sicherstellen, dass die unterschiedlichen Traditionen weiterexistieren können. Gleichzeitig müssen wir aber sicherstellen, dass die Konkurrenz, die Pflege zu Dumpinglöhnen anbietet, verhindert werden kann. Ich glaube, mit der Kommission, die wir etabliert haben, wird das gelingen.

Wir haben in diese Regelung übrigens ganz viele Quoren hineingeschrieben, und das finde ich richtig. Angesichts der Bedeutung, die die beiden großen Kirchen in unserem Land für den Bereich der karitativen Pflege haben, will ich ausdrücklich sagen: Eine Mindestlohnregelung im Bereich der Pflege wird es ohne Einverständnis der Kirchen mit dieser konkreten Regelung nicht geben. Aufgrund dieser gesetzlichen Grundlage kann es eine solche Regelung auch nicht geben.

Dass wir auch im Bereich der Weiterbildung eine Lösung gefunden haben, finde ich gut. Ich will das ausdrücklich sagen, weil der Deutsche Bundestag in diesem Zusammenhang eine Rolle spielt. Wir sind diejenigen, die im Deutschen Bundestag Gelder für den Bereich der Weiterbildung, für den Bereich der Arbeitsförderung bereitstellen. Der Bundestag bestimmt im Zusammenhang mit der Selbstverwaltung der Arbeitsagenturen mit über das Ausgeben von Versichertenbeiträgen und - geldern. Wir alle haben das Problem, dass wir wegen der von uns zu beachtenden Vorschriften nicht wirklich verhindern können, dass an der einen oder anderen Stelle jemand Neues auftritt und ausgebildete Akademiker oder Handwerker zu Löhnen beschäftigt, die nicht in Ordnung sind, damit sie Arbeitslosen gute Arbeit und gute Berufe beibringen. Das kann nicht funktionieren. Deshalb bin ich froh, dass wir hier einen Bereich haben, in dem wir einen vernünftigen Wettbewerb um die besten und qualitätsvollsten Leistungen auf den Weg bringen können.

Lassen Sie mich eine letzte Bemerkung machen. Der Druck wird zunehmen; denn 2011 werden wir die Freizügigkeit in der Europäischen Union haben. Darauf müssen wir uns vorbereiten, indem wir sicherstellen, dass die Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft auch in der Zukunft eine Bedeutung haben. Die Gesetzesvorhaben, die heute zur Debatte und zur Entscheidung stehen, werden die Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft für die Zukunft sichern.


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Quelle:
Bulletin Nr. 07-2 vom 22.01.2009
Rede des Bundesministers für Arbeit und Soziales, Olaf Scholz,
zum Entwurf eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die
Festsetzung von Mindestarbeitsbedingungen und zum Arbeitnehmer-Entsendegetz
vor dem Deutschen Bundestag am 22. Januar 2009 in Berlin
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. Januar 2009