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REDE/045: Schröder - Konsequenzen aus den Fällen sexuellen Mißbrauchs, 25.03.10 (BPA)


Presse- und Informationsamt der Bundesregierung
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Rede der Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Dr. Kristina Schröder, in der Aktuellen Stunde zu den Konsequenzen aus den zahlreichen bekannt gewordenen Fällen sexuellen Missbrauchs in kirchlichen und weltlichen Einrichtungen vor dem Deutschen Bundestag am 25. März 2010 in Berlin


Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Schockierendes war in den letzten Wochen über sexuellen Missbrauch an Mädchen und Jungen in kirchlichen, in weltlichen und in pädagogischen Einrichtungen zu lesen und zu hören. Nicht weniger schockierend ist das Schweigen, das diese Verbrechen über viele Jahrzehnte begleitet hat; denn durch dieses Schweigen wurden Mauern zementiert, hinter denen viele Kinder und Jugendliche Pädophilen hilflos ausgeliefert waren und hinter denen manche der Betroffenen auch heute noch gefangen sind.

Ich glaube, dass wir uns nicht im Geringsten vorstellen können, welche Verletzungen Missbrauchserlebnisse Kinderseelen zufügen und wie tief diese Narben sind, die ein Leben lang bleiben.

Verantwortung zu übernehmen, bedeutet deshalb zunächst einmal, den Opfern Gehör zu schenken und die Fakten klar und schonungslos zu benennen, über die viel zu lange geschwiegen wurde.

Der nüchterne Begriff des sexuellen Kindesmissbrauchs bringt nur vage auf den Punkt, worüber wir hier reden: In kirchlichen und weltlichen Einrichtungen sind Kinder und Jugendliche über Jahre hinweg vergewaltigt, misshandelt und gedemütigt worden. Diese Verbrechen haben Menschen begangen, denen die Kinder vertrauten, die sie respektierten und gern hatten und von denen sie sich Aufmerksamkeit, Zuwendung und Anerkennung erhofften. Zu den Tätern gehörten Priester, Lehrer und Erzieher. Zu den Verantwortlichen gehörten aber auch diejenigen, die die Mauern des Schweigens aufgebaut und aufrechterhalten haben: durch Wegsehen, durch Vertuschen, durch Banalisieren, aber auch zum Beispiel durch die Versetzung von Tätern in die nächste Schule, in die nächste Gemeinde, in den nächsten Verein, wo sie es wieder mit Kindern zu tun hatten.

Es gab aber auch couragierte Frauen und Männer, die ihre Verantwortung ernst nahmen. Stellvertretend für viele nenne ich zum einen Pater Klaus Mertes, den Rektor des Berliner Jesuiten-Gymnasiums Canisius-Kolleg. Er hat im Januar Berichte über sexuelle Übergriffe zweier Patres in den 70er- und 80er-Jahren öffentlich gemacht und damit die aktuelle Debatte erst ausgelöst.

Zum anderen nenne ich Margarita Kaufmann, die Direktorin der Odenwaldschule in Hessen. Auch sie hat die Vorwürfe ehemaliger Schüler öffentlich gemacht und sich von Anfang an um Aufklärung und Aufarbeitung bemüht. Allen, die sich wie diese beiden in kirchlichen und weltlichen Einrichtungen um Wahrheit und Wahrhaftigkeit bemühen, gebührt unser Respekt.

Jetzt geht es darum, so wie Margarita Kaufmann und Klaus Mertes Verantwortung zu übernehmen für das, was geschehen ist. Das sind wir den Opfern schuldig. Und es geht darum, alles in unseren Möglichkeiten Stehende zu tun, um sexuellen Missbrauch in Zukunft zu verhindern. Das sind wir den Kindern schuldig, das sind wir aber auch den Eltern schuldig. Denn jede Mutter, jeder Vater wird sich doch jetzt fragen: Wie kann ich meine Kinder vor solchen Erfahrungen schützen? Die aufrichtige Antwort muss lauten: Einen hundertprozentigen Schutz gibt es nicht. Aber es gab in kirchlichen und weltlichen Einrichtungen offenbar Schutzräume für Pädophile, in denen Kindesmissbrauch lange unbemerkt und ungestraft bleiben konnte. Solche Schutzräume dürfen wir nicht länger zulassen.

Deshalb hat das Kabinett gestern die Einrichtung eines runden Tisches beschlossen, der sich mit sexuellem Missbrauch in Abhängigkeits- und Machtverhältnissen befassen wird - auch in Familien. Wir wollen unserer doppelten Verantwortung für Aufarbeitung und wirksamen Kinderschutz gerecht werden: zum einen durch die Anerkennung des Leidens der Opfer und möglicherweise notwendige rechtspolitische Folgerungen, zum anderen aber auch durch präventive Maßnahmen und effektive Interventionsmöglichkeiten.

Diese Aufgaben kann kein Ressort alleine bewältigen. Deshalb danke ich meinen Kolleginnen Frau Schavan und Frau Leutheusser-Schnarrenberger herzlich für die gute und enge Zusammenarbeit. Gemeinsam haben wir Umsetzungsvorschläge erarbeitet, die wir am runden Tisch unter Beteiligung aller relevanten gesellschaftlichen Institutionen und mit Unterstützung von Kinderschutz- und Opferorganisationen zur Diskussion stellen und konkretisieren wollen.

Zur Prävention schlagen wir unter anderem vor: Maßnahmen zur behutsamen Sensibilisierung und zur Stärkung von Jungen und Mädchen - sie sollen Missbrauch erkennen und klar benennen können -, Maßnahmen zur Sensibilisierung und Weiterbildung von Fachkräften und Eltern - sie sollen Indizien sexualisierter Gewalt erkennen und intervenieren können -, strukturelle Maßnahmen wie die Überprüfung von Aus- und Fortbildungen, aber auch Zulassungsbedingungen für pädagogisch tätiges Personal.

Wir müssen aber auch direkt bei den Neigungen pädophiler Männer ansetzen. Vorbildlich sind hier die Projekte der Charité im Rahmen der Kampagne "Kein Täter werden.", die in den letzten Jahren - gemeinsam gefördert von Bundesjustizministerium und Bundesfamilienministerium - entwickelt wurden. Hier können sich Männer konkret beraten und therapieren lassen, bevor aus ihren pädophilen Fantasien pädophile Handlungen werden.

Über diese präventiven Maßnahmen hinaus müssen wir aber auch zusätzlich zum Strafrecht wirksame Interventionsstrategien erarbeiten. Dazu gehören zum Beispiel klare Verhaltensregeln, die wir in Form von Selbstverpflichtungserklärungen festlegen wollen. All das betrifft den künftigen Schutz von Kindern und Jugendlichen.

Diejenigen aber, die in den letzten Jahren und Jahrzehnten Opfer sexuellen Missbrauchs geworden sind, haben einen Anspruch auf umfassende Anerkennung ihres Leids. Deshalb freue ich mich, dass wir mit Frau Dr. Christine Bergmann eine erfahrene Fachfrau als unabhängige Beauftragte gewinnen konnten. Sie bringt die für dieses sensible Thema richtige Mischung aus Fingerspitzengefühl und Durchsetzungsvermögen mit. Dadurch kann sie zum einen Ansprechpartnerin für die Opfer sexuellen Missbrauchs sein. Sie kann zum anderen aber auch Vorschläge erarbeiten, wie Opfern materiell und immateriell umfassend geholfen werden kann.

Einen Beitrag zur Prävention wird schließlich auch die geplante Reform des Kinderschutzgesetzes leisten, auf die ich hier nur am Rande eingehen kann. Unter anderem geht es dabei um die Neuregelung der Befugnisnorm für Berufsgeheimnisträger, um zum Beispiel eine bessere Zusammenarbeit zwischen Kinderärzten und Jugendämtern zu ermöglichen.

Die Debatte über sexuellen Missbrauch, die wir hier führen, ist eine wichtige gesellschaftliche Debatte. Wir sollten diese Debatte - darum bitte ich Sie - immer auf eine Art und Weise führen, die der Perspektive der Opfer gerecht wird. Dazu gehört auch, dass wir uns bei allen Meinungsunterschieden über den richtigen Weg gegenseitig ein aufrichtiges Interesse an Aufarbeitung, Aufklärung und Kinderschutz unterstellen. Dafür bitte ich Sie um Ihre Unterstützung.


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Quelle:
Bulletin Nr. 33-3 vom 25.03.2010
Rede der Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend,
Dr. Kristina Schröder, in der Aktuellen Stunde zu den Konsequenzen aus
den zahlreichen bekannt gewordenen Fällen sexuellen Missbrauchs in
kirchlichen und weltlichen Einrichtungen vor dem Deutschen Bundestag
am 25. März 2010 in Berlin
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. März 2010