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REDE/069: Andrea Nahles - Bundesministerin für Arbeit und Soziales, 30.01.2014 (BPA)


Presse- und Informationsamt der Bundesregierung

Rede der Bundesministerin für Arbeit und Soziales, Andrea Nahles, zur Arbeits- und Sozialpolitik der Bundesregierung in der Aussprache zur Regierungserklärung der Bundeskanzlerin vor dem Deutschen Bundestag am 30. Januar 2014 in Berlin:



Herr Präsident!
Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen!

Gleich zu Beginn des Jahres haben wir im Bereich Arbeit und Soziales mit dem ersten Gesetzesvorhaben der Bundesregierung deutlich gemacht, worum es uns in den nächsten vier Jahren geht: Deutschland gerechter zu machen. Im Rentenpaket ist unsere Grundbotschaft beispielhaft angelegt: Wir wollen die Lebensleistung von Menschen besser anerkennen.

Diejenigen, die sich anstrengen, diejenigen, die hart arbeiten, diejenigen, die Kinder erzogen haben, sollen wissen: Ihr Einsatz lohnt sich. Er wird wertgeschätzt. Dafür unseren Respekt.

Wir halten Wort. Wir geben damit auch ein Signal des Vertrauens und der Verlässlichkeit. Wir stehen zu dem, was wir vor der Wahl gesagt haben, was die Menschen auch gewählt haben. Das setzen wir jetzt um, und zwar eins zu eins.

Ich habe mich in den letzten Tagen etwas darüber gewundert, wie überrascht einige - auch in den Medien - gewirkt haben, dass wir jetzt so schnell an die Umsetzung unserer Wahlversprechen herangehen. Ich beobachte aber, dass die Bürgerinnen und Bürger, die anrufen, die schreiben, die E-Mails schicken, das ganz anders sehen. Sie klopfen auf den Tisch und sagen: Jetzt macht aber auch das, was ihr versprochen habt! - Ich kann diesen Bürgerinnen und Bürgern einen ganz einfachen Satz sagen: Darauf können Sie sich verlassen!

Als ich vor einigen Tagen in meinem Dorf die Straße hochging, lief mir eine ältere Nachbarin noch ein Stück weit nach, fasste mich am Ellenbogen und sagte: Ich möchte, Andrea, dass du das mit der Mütterrente auch wirklich durchkriegst. Das wäre was für Frauen wie mich. Das wäre wirklich ein Stück Anerkennung. - Was meinte meine Nachbarin mit "Frauen wie mich"? Sie hat ihr ganzes Leben gearbeitet, Kinder großgezogen, aber Arbeit im Beruf war nicht drin. Das ist eine sehr typische Biografie vieler Frauen, gerade in Westdeutschland. Trotzdem hat sie natürlich ihr Soll geleistet. Und ihre Kinder finanzieren heute unsere Rente. Entsprechend klein ist aber ihre eigene Rente ausgefallen. Deswegen wartet sie jetzt auf die Mütterrente im Rentenpaket. Die wird bei ihr auch ankommen und bei 9,5 Millionen anderen Müttern und einigen Vätern ebenfalls.

Herr Wunderlich, im System unserer Rentenversicherung sind Sozialhilfe oder Grundsicherung nachrangig. Ich will Ihnen ehrlich sagen, dass wir hier nicht eine Reform am System machen und dieses grundsätzlich ändern, sondern eine Reform im System. 2,5 Prozent der Menschen in Deutschland, die über 65 Jahre alt sind, sind in der Grundsicherung. Bei dieser begrenzten Gruppe wird die Mütterrente mit dem, was diese Menschen sonst an Hilfen des Staates bekommen, verrechnet. Das ist aus meiner Sicht richtig. Daran werden wir nichts ändern, auch nicht in diesem Gesetz.

Mit der Rente mit 63 in unserem Rentenpaket packen wir noch eine andere Gerechtigkeitslücke an: Anstrengungen, langjährige Versicherungszeiten werden ausreichend wertgeschätzt. Es sind die Krankenschwestern - es geht also durchaus auch um Frauen -, die Fliesenleger, die ganz normalen Arbeitnehmer, die jahrzehntelang unser Rentensystem getragen haben. In Zeiten also, in denen der Arbeitsschutz noch in den Kinderschuhen steckte. Hier sage ich sehr klar: Die, die hart gearbeitet haben, bekommen jetzt die Chance, nach 45 Beitragsjahren ohne Abschläge in Rente zu gehen. Das ist nicht geschenkt, das ist verdient; davon bin ich fest überzeugt.

Wir haben an dieser Stelle auch sehr klar gesagt: Nicht immer verlaufen Erwerbsbiografien ohne Brüche. Die Zeiten des Bezuges von Schlechtwettergeld, Kurzarbeitergeld und Insolvenzgeld, das bei dramatischen Situationen in Unternehmen gezahlt wird, sowie die Zeiten von Kindererziehung, Pflege und kurzzeitiger Arbeitslosigkeit werden ebenfalls berücksichtigt.

Die Punkte, die ich gerade aufgezählt habe, sind Bestandteil von ganz konkreten Erwerbsbiografien vieler Menschen in unserem Land. Dabei handelt es sich um Menschen, die zum Beispiel von den Strukturumbrüchen in Nordrhein-Westfalen betroffen waren. In vielen Regionen konnten sich die Menschen dem Strukturwandel nicht entziehen und haben ein oder zwei Jahre gebraucht, um wieder in Arbeit zu kommen. Auch nach der Wende hat es viele Menschen gegeben - sie stellen im Übrigen die größte Gruppe dar -, die umschulen mussten, die einige Zeit brauchten, wieder Tritt zu fassen, und deshalb wenige Jahre der Arbeitslosigkeit vorzuweisen haben.

Als weiteres Beispiel will ich ältere Arbeitnehmer nennen - wer von uns kennt sie nicht aus den Bürgersprechstunden? -, die mit 58 Jahren aus ihrem Betrieb gedrängt wurden und dann, weil sie weiter arbeiten wollten, Hausmeister oder Pförtner geworden sind und die nun bis zum 63. Lebensjahr in diesem neuen Tätigkeitsfeld arbeiten. All diese Menschen erfassen wir hier. Das ist gerechtfertigt. Ich bin froh, dass wir mit diesem Gesetzentwurf die Zeiten des Bezugs von Arbeitslosengeld I und von Schlechtwettergeld sowie die anderen Zeiten, die ich vorhin genannt habe, berücksichtigen. Ich sage Ihnen im Übrigen: Die überwiegende Anzahl derjenigen, die während ihres Arbeitslebens einmal von Arbeitslosigkeit betroffen waren, hat weniger als zwei Jahre Zeiten der Arbeitslosigkeit vorzuweisen. Deswegen berücksichtigen wir sie mit bei unserer Neuregelung.

Wir haben mit dem Rentenpaket einen guten Aufschlag gemacht, das ist bei weitem noch nicht alles, was wir uns vorgenommen haben. Es stehen noch viel mehr Punkte auf der Liste. Deswegen werden wir schon in den nächsten Wochen ein weiteres Paket schnüren, nämlich das Tarifpaket. Dieses Paket zielt auf die Lebens- und Arbeitswirklichkeit von Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern ab. Zielgruppe sind diejenigen, die einer Arbeit nachgehen, die nicht mehr unter dem Dach von Tarifverträgen geregelt ist. Manchmal kann man es dem Monatslohn nicht ansehen, dass jemand nicht mehr in einem tariflich abgesicherten Bereich arbeitet. Man sieht es aber an anderen relevanten Punkten wie Urlaubsgeld, Weihnachtsgeld, Urlaubszeiten sowie sozialen Leistungen.

Mir hat vor wenigen Tagen ein Handwerker aus meinem Wahlkreis gesagt, dass die Konkurrenten ihn bei Aufträgen regelmäßig unterbieten können, weil sie nicht mehr tariflich entlohnen. Auch das ist ungerecht, weil dieser Umstand einen unfairen Wettbewerb für diejenigen Arbeitgeber darstellt, die ihre Leute noch anständig tariflich bezahlen. Auch deswegen müssen wir aus meiner Sicht für mehr Tarifsicherheit sorgen.

Wir haben im Koalitionsvertrag sehr klar gesagt: Wir wollen die Sozialpartnerschaft und die Tarifbindung stärken. Das werden wir tun, indem wir die Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen verbessern und erleichtern. Dabei soll das öffentliche Interesse im Mittelpunkt stehen. Was bedeutet es, wenn wir dieses Ziel am Ende durchsetzen? Viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer werden dann wieder unter dem Dach von Tarifverträgen arbeiten können. Viele Unternehmer werden in einem faireren Wettbewerb stehen, und vieles, was sonst der Staat regeln müsste, können die Tarifpartner wieder selbst aushandeln. Auch das ist ein Ziel, welches ich für richtig erachte.

Die Kultur der Partnerschaft, die Kultur der Verabredungen hat sich bei uns gerade in der Krise bewährt. Dies ist das eigentliche Geheimnis unseres Erfolges. Viele Länder schauen auf Deutschland und fragen sich, warum wir es geschafft haben, besser durch die Krise zu kommen als andere. Deswegen sagen wir klipp und klar: Diese Stärke wollen wir mit diesem Tarifpaket in den nächsten Wochen und Monaten weiter ausbauen.

Dazu zählt im Übrigen die Erweiterung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes auf alle Branchen. Das gilt dann sowohl für inländische als auch für ausländische Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Hier sollen Mindestlöhne verbindlich festgeschrieben werden. Wir werden mit der Fleischbranche vorangehen, in der jetzt ein Abschluss erreicht wurde, den wir gerne flankieren wollen.

Natürlich ist in diesem Paket auch der Mindestlohn enthalten. Ein allgemeiner gesetzlicher Mindestlohn von 8,50 Euro für alle Arbeitnehmer in Ost wie in West, in allen Branchen ohne Ausnahme, schafft eine wirksame Barriere gegen Lohndumping. Davon bin ich fest überzeugt.

Auch das Prinzip der Tarifeinheit wollen wir noch in diesem Jahr gesetzlich absichern. Das Gesamtpaket wird, wie gesagt, noch vor der Sommerpause die parlamentarische Beratung erreichen.

Ordnung auf dem Arbeitsmarkt ist ein anderer Punkt, den wir uns vorgenommen haben. Dabei geht es uns um die Bekämpfung von Missbrauch, insbesondere bei Werkverträgen. Im Gegensatz zu dem, was ich gestern von der Opposition gehört habe, glaube ich sehr wohl, dass eine gute Kombination aus Informationspflicht, wesentlich besserer Kontrolle und präziserer Unterscheidung, was Werkverträge und was Scheinwerkverträge sind, was Scheinselbstständigkeit und was Selbstständigkeit ist, wirksam ist und dem Unwesen, das es im Werksvertragsbereich gibt, einen Riegel vorschieben wird. Wir werden in diesem Zusammenhang auch die Frage der Leiharbeit regeln.

Eines der größeren Gesetzespakete dieser Legislaturperiode betrifft das Thema Inklusion. Zum ersten Mal überhaupt habe ich grade eine junge Frau mit Behinderung als Behindertenbeauftragte der Bundesregierung berufen: Verena Bentele. Das ist eine klare Ansage von mir: Wir wollen nicht mehr nur über Inklusion reden, sondern Inklusion konkret machen. Das ist der entscheidende Punkt.

Wir wollen in dieser Legislaturperiode gemeinsam eine Menge bewegen. Mit dem Teilhabegesetz wird es zum ersten Mal in einem Bundesgesetz konkret auch finanzielle Regelungen geben. Ein so grundlegend neues Gesetz macht man als Arbeitsministerin übrigens nicht alle Tage. Hier empfehle ich uns allen: Gründlichkeit geht vor Schnelligkeit. Ich weiß, dass ganz viele Behindertenverbände mit großer Spannung und Freude darauf warten. Wir werden in diesem Jahr mit der Arbeit an diesem Gesetz beginnen, alle anhören und Beteiligung organisieren. Aber die Umsetzung braucht eine Weile, wenn sie gut sein soll, damit es für die behinderten Menschen in unserem Land ein Erfolg wird.

Unsere Wirtschaft braucht die Fähigkeit aller. Angesichts der zunehmenden Unsicherheit in Bezug auf Fachkräfte - Fachkräftemangel ist in der Region, aus der ich komme, längst angekommen; mit Arbeitslosenzahlen von vier bis fünf Prozent in meiner Region ist dies faktisch ein ständiges Thema, wenn ich mit Unternehmern rede - soll dies ein Schwerpunktthema für die gesamten vier Jahre sein. Das ist eine Aufgabe, die auch über diese Legislaturperiode hinaus bestehen bleiben wird.

In dieser Legislaturperiode wollen wir uns ganz besonders bemühen, den Gesundheits- und Arbeitsschutz im Betrieb voranzutreiben. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist ein wichtiges Thema. Dazu gehört auch die Frage, wie Frauen aus der Teilzeitfalle herauskommen. Vor allem wird es aber auch um das Problem der Langzeitarbeitslosigkeit gehen. Hier haben wir, mit Verlaub, vieles versucht. Es sind auch viele gute Ansätze vorhanden. Aber den Stein der Weisen haben wir wahrscheinlich immer noch nicht gefunden. Deswegen bin ich sehr froh, dass wir über ESF-Mittel wieder die Möglichkeit haben, gute Programme aufzulegen und Wege zu suchen, wie wir diesem Problem nachhaltig entgegentreten können.

Lassen Sie mich zum Schluss auch die jungen Menschen erwähnen. Ich bin sehr beeindruckt von neuen Ansätzen, wie beispielsweise der Jugendberufsagentur in Hamburg. Das halte ich für vorbildlich. Das würde ich gerne an anderen Stellen überall in Deutschland auch sehen. Ich möchte, dass wir mehr investieren als bisher in eine zweite Chance - gerade für junge Leute -, wenn es um das Nachholen von Schulabschlüssen und Berufsabschlüssen geht. Meine Kollegin Frau Wanka und ich sind uns darin einig. Das werden wir gemeinsam anpacken. Natürlich sollen auch Menschen mit Migrationshintergrund dabei nicht aus den Augen verloren werden.

Zum Abschluss. Nur wenn wir es schaffen, der Arbeit Wert und Würde zurückzugeben, werden wir eine starke und erfolgreiche Wirtschaftsnation bleiben. Davon bin ich fest überzeugt. Tarifpartnerschaft, gute Arbeit, gerechte Löhne, mehr Chancen und soziale Sicherheit, das ist die Grundbotschaft dieser Bundesregierung für die nächsten vier Jahre. Wir stehen bei den Menschen im Wort - das Wort wollen wir halten -, dass es in Deutschland gerechter zugeht.

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Quelle:
Bulletin 09-3 vom 30. Januar 2014
Rede der Bundesministerin für Arbeit und Soziales, Andrea Nahles,
zur Arbeits- und Sozialpolitik der Bundesregierung in der Aussprache
zur Regierungserklärung der Bundeskanzlerin vor dem Deutschen Bundestag
am 30. Januar 2014 in Berlin
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veröffentlicht im Schattenblick zum 5. Februar 2014