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RENTE/571: Mit Grund- und Mindestrenten gegen Versorgungsprobleme im Alter? (spw)


spw - Ausgabe 2/2011 - Heft 183
Zeitschrift für Sozialistische Politik und Wirtschaft

Mit Grund- und Mindestrenten gegen Versorgungsprobleme im Alter?

Von Christoph Ehlscheid


Jüngst titelt das Handelsbiatt "Mit der Rente kommt die Armut".[1] Für Kritiker einer auf Leistungskürzungen und (Teil-)Privatisierung ausgerichteten Rentenpolitik sicher keine neue Erkenntnis - davor haben sie immer gewarnt. Neu ist aber der Umstand, dass in der Rentendebatte nach einer viele Jahre andauernden einseitigen Fixierung auf Finanzierungsfragen und Beitragssätze auch das Versorgungsthema wieder entdeckt wird. Das Problem ist manifest und kann selbst von denjenigen nicht mehr geleugnet werden, die als Gilde der rentenpolitischen Zauberlehrlinge die Geister selbst riefen. Nun ist guter Rat teuer!


Grund- und Mindestrentensysteme - Pro und Kontra

Bei der Suche nach Antworten auf die wachsende Altersarmut werden von unterschiedlichsten Seiten immer wieder steuerfinanzierte Grundrenten- oder Mindestrentensysteme als Alternative ins Spiel gebracht.[2] Verwiesen wird dabei vielfach auf Rentensysteme im europäischen Ausland, die Sockel-, Grund-, oder Mindestrentenmodelle beinhalten. Nun verbergen sich hinter den Vorschlägen - wie auch hinter den internationalen Referenzsystemen, die als Belege für den einen oder anderen Reformvorschlag herangezogen werden - höchst unterschiedliche Regelungen. Gleichwohl lassen sich jenseits der doch erheblichen Unterschiede im Detail einige charakteristische Merkmale identifizieren:

Steuerfinanzierte Grundrente

Mit dem Konzept der steuerfinanzierten Grundrente werden der Zugang zu Leistungen und die Höhe der zu beziehenden Rente vom erzielten Erwerbseinkommen abgekoppelt und einheitliche (Grund-)Leistungen jedem Bürger ab einer bestimmten Altersgrenze gewährt. Die über dieses Grundniveau hinausreichende Absicherung des im Erwerbsleben erreichten Lebensstands wird je nach Modell über kapitalgedeckte Zusatzsysteme und/oder über arbeitgeberfinanzierte Versorgungszusagen organisiert. Die Zusatzversorgung kann freiwillig oder obligatorisch sein.

Über die Vor- und Nachteile einer Umstellung des deutschen Systems hin zu einem Grundrentensystem wurde und wird kontrovers diskutiert: Für das Modell der Grundrente wird ins Feld geführt, dass die im deutschen Rentensystem verankerte "Einkommens- und Zeitproportionalität"[3] ein Nachteil für die besonderen Risikogruppen des Arbeitsmarktes, wie Langzeitarbeitslose, Beschäftigte im Niedriglohnsektor oder Solo-Selbständige, sei. Diese Gruppen haben von der gesetzlichen Rente entweder gar nichts zu erwarten, weil sie den Arbeitnehmerstatus nicht erfüllen und damit nicht unter den Versicherungsschutz fallen; oder ihre Renten drohen, wegen niedriger Erwerbseinkommen und/oder geringer Versicherungszeiten, unter den Grundsicherungsbedarf zu fallen. Eine steuerfinanzierte Grundrente könne nun gerade für jene Risikogruppen ein Vorteil sein, weil die Erwerbszentrierung aufgegeben und alle in den Versicherungsschutz einbezogen würden. Auch ließe sich mit dem Abschied vom Äquivalenzprinzip ein höheres Rentenniveau für Niedrigverdiener erzielen.

Doch Vorsicht: die Nachteile einer solchen Systemumstellung sind nicht zu übersehen. Dagegen sprechen vor allem folgende Argumente:

Die meisten Modelle der Grundrente drücken das sozialstaatlich garantierte Sicherungsniveau auf einen Minimalstandard herab. Der internationale Vergleich zeigt, dass das Niveau der Grundrenten häufig unterhalb des Sozialhilfeniveaus liegt.[4] Bei einer unzureichenden Grundversorgung wird damit zugleich eine verstärkte kapitalgedeckte Privatvorsorge mit all ihren wirtschaftlichen Unsicherheiten und sozialen Ungerechtigkeiten erzwungen. Gerade jene Älteren, die aufgrund ihrer schwierigen Arbeitsmarkt- und Einkommensposition durch die Umstellung profitieren sollten, gehören aber zu jenen Gruppen, die angesichts fehlender Mittel keine zusätzlichen Ansprüche in Zusatzversorgungssystemen erwerben können. Und: Wie hoch das Risiko einer auf Kapitaldeckung aufbauenden Alterssicherung für diejenigen sein kann, denen es doch gelingt, Geld für die Altersversorgung anzulegen, hat die Finanzmarktkrise mit ihrer "Enteignung einfacher Sparer" in den USA, Großbritannien und anderen Regionen der Welt eindrucksvoll vor Augen geführt.[5]

Und mehr noch: Nicht nur versorgungs- und ordnungspolitische Einwände, sondern auch verteilungspolitische Aspekte sind zu berücksichtigen: Mit dem Wechsel in ein rein steuerfinanziertes System werden die Arbeitgeber gegenüber der paritätischen Beitragsfinanzierung entlastet. Zwar können theoretisch die verteilungspolitischen Effekte einer solchen "Freistellung" der Arbeitgeber von der Finanzierung der Alterssicherung mit einer entsprechenden Steuergesetzgebung korrigiert werden. Angesichts der politischen Kräfteverhältnisse und der verteilungspolitischen Grundausrichtung in der bundesdeutschen Steuerpolitik bestehen doch erhebliche Zweifel, ob dies auch praktisch durchgesetzt werden kann.

Zu Recht wird gegen die Umstellung auf ein Grundrentensystem auch ins Feld geführt, dass der Abgabenwiderstand bei Steuern höher ist als bei Sozialversicherungsbeiträgen. Sozialversicherungsbeiträge werden "aufgrund des sichtbaren Entsprechungsverhältnisses von Zahlungen und späteren Leistungen weit eher akzeptiert". Und: Da Grundrenten aus dem allgemeinen Staatshaushalt aufgebracht werden und ihnen der allgemeine Eigentumscharakter fehlt, "stehen fiskalpolitisch motivierten Eingriffen nur wenige Hindernisse entgegen".[6]

Mindestrente

Vom Konzept Grundrente sind Mindestrentesysteme zu unterscheiden. Vereinfacht gesagt, wird an einem einkommensbezogenen Rentensystem grundsätzlich festgehalten, aber das Äquivalenzprinzip zwischen Erwerbseinkommen und Rentenhöhe wird im unteren Einkommensbereich aufgegeben. Oberhalb dieses Mindestsockels wird das Äquivalenzprinzip fortgeführt. Bei manchen Konzepten wird auch vorgeschlagen, die Beitragsbemessungsgrenze abzuschaffen und zugleich oberhalb eines definierten Werts die Äquivalenz durch einen stark degressiven Verlauf des Verhältnisses von Beiträgen und Rente zu ersetzen.[7]

Verteilungspolitisch führen solchen Überlegungen zu einer Verschiebung zu Gunsten von Beziehern niedriger Einkommen und Beschäftigten mit unsteten Erwerbsverläufen. Zugleich bleibt die Kopplung an Erwerbstätigkeit und Einkommen grundsätzlich erhalten.

Damit entfallen auch einige der zuvor genannten Kritikpunkte, die Grundrentenkonzepte treffen. Gleichwohl muss auch hier auf nicht zu unterschätzende Nachteile verwiesen werden: Mit der Einschränkung des Äquivalenzprinzips oberhalb einer gewissen Grenze besteht - ähnlich wie bei Grundrenten - die Gefahr des Akzeptanzverlusts. Gerade in der Bundesrepublik hat das Prinzip der Entsprechung von Einzahlungen und späteren Rentenleistungen einen hohen Stellenwert, der wesentlich zur politischen und gesellschaftlichen Akzeptanz der gesetzlichen Rentenversicherung beigetragen hat. Und mehr noch: Je nachdem wie ein Mindestrentensystem justiert wird, könnte die Abkehr von Äquivalenzprinzip ab einer gewissen Einkommenshöhe auch dazu führen, dass eine weitere, gravierende Absenkung des Rentenniveaus für größere Beschäftigtengruppen droht.


Solidarische Erwerbstätigenversicherung

Nun darf die Kritik an Grund- und Mindestrentenkonzepten keineswegs dazu führen, die versorgungspolitischen Probleme des deutschen Systems der Alterssicherung auszublenden und schlicht zur Tagesordnung überzugehen. Viele der von den Befürwortern einer Grund- oder Mindestrente thematisierten Defizite sind nicht zu leugnen und harren einer Lösung: Mit zunehmender Dauer von Arbeitslosigkeit und Niedrigeinkommen sowie der generellen Zunahme von ungeschützten Beschäftigungsverhältnissen verringern sich die Chancen ausreichend Anwartschaften in der Rentenversicherung anzusammeln. Hinzu kommt die schrittweise wirksam werdende Reduzierung des Leistungsniveaus der gesetzlichen Rentenversicherung. So werden die seit 1990 verabschiedeten Reformen das Bruttorenten- und damit das Versorgungsniveau der Rentnerinnen und Rentner von heute 52 auf etwa 42 Prozent im Jahre 2030 senken. Unter diesen Bedingungen sind immer mehr Menschen in der beitragsbezogenen (Arbeitnehmer-)Rentenversicherung nicht hinreichend abgesichert. Altersarmut droht in Zukunft zu einem Massenphänomen zu werden. Und für Viele rückt die Lebensstandardsicherung in weite Ferne.

Die IG Metall hat angesichts dieser Probleme Vorschläge für den Neuaufbau einer solidarischen Altersicherung vorgelegt:[8] Im Zentrum der Überlegungen steht der Umbau der gesetzlichen Rentenversicherung von einer Arbeitnehmerversicherung hin zu einer solidarischen Erwerbstätigenversicherung, die (schrittweise) alle Erwerbstätigen in die Versicherungspflicht und den Versicherungsschutz einbezieht. Sie wird hälftig aus Beitragsleistungen von Arbeitnehmern und Arbeitgebern finanziert und sie orientiert sich am Prinzip der Beitrags- und Leistungsgerechtigkeit. Die (relative) Höhe des "verbeitragten Einkommens" bestimmt die (relative) Höhe der individuellen Rente.

Nach dem Motto: "Lebensstandardsicherung und Armutsvermeidung - beides muss drin sein!" hat die Erwerbstätigenversicherung zwei Aufträge: sie soll den generellen Lebensstandard nach einem erfüllten Arbeitsleben sicherstellen. Dazu ist es notwenig, die Renten wieder an die allgemeine Einkommensentwicklung der Gesellschaft anzukoppeln und das Prinzip der dynamischen Rente zu erneuern.[9] Zugleich müssen aber auch Elemente der Armutsvermeidung ausgebaut werden: Nach dem Solidarprinzip soll ein teilweiser Ausgleich für Anwartschaftslücken organisiert werden und etwa bei Arbeitslosigkeit, Kindererziehung, Pflege oder Ausbildung werden zu geringe Ansprüche aus Steuermitteln aufgestockt.[10]


Christoph Ehlscheid ist Leiter des Bereichs Sozialpolitik beim IG Metall Vorstand.



ANMERKUNGEN

[1] Handelsblatt v. 5.4.2011.

[2] So überraschte etwa Bernd Rürup, maßgeblich an den Reformen des Rentensystems und der dramatischen Niveauabsenkung in der gesetzlichen Rente beteiligt, im Jahr 2008 mit der Forderung nach einer steuerfinanzierten Sockelrente (vgl. Handelsblatt vom 2.1.2008). Einen guten Überblick über die Debatte bieten Barbara Riedmüller und Michaela Willert: Aktuelle Vorschläge zur Mindestsicherung, Hans-Böckler-Stiftung, Abschlussbericht 2009, www.boeckler.de.

[3] Vgl. Dieter Döring, Ansätze zur armutsfesten Alterssicherung. Deutsche Rentenversicherung 4, S. 401ff.

[4] Vgl. Gerhard Bäcker u.a.: Sozialpolitik und soziale Lage in Deutschland, Bd. 2, Wiesbaden 2008, S. 484.

[5] "Private Pensionsfonds haben in 2008 über 20% an Wert verloren. Mehrere Träger betrieblicher Pensionsfonds waren nicht in der Lage, ihren Verpflichtungen nachzukommen." EU-Kommission: Grünbuch "angemessene, nachhaltige und sichere Pensions- und Rentensysteme" 2010, S. 7. Vgl. auch Richard Detje: Systemische Risiken privater Altersicherung, in: Hans-Jürgen Urban u.a. (Hrsg.): Der Neue Generationenvertrag. Sozialstaatliche Erneuerung in der Krise, S. 157ff.

[6] Vgl. Bäcker a.a.O. S. 484.

[7] Einen solchen Vorschlag haben etwa Meinhardt und Grabka vorgelegt. Vgl. Volker Meinhardt u. Markus Grabka: Grundstruktur eines universellen Alterssicherungssystems mit Mindestrente. WISO Diskurs, Bonn 2009.

[8] Hans-Jürgen Urban u.a. (Hrsg); ebd. Vgl. auch den Reformansatz von Dedring u.a., die ähnliche Vorschläge machen, um sowohl die Lebensstandardsicherung wieder zu gewährleisten und gleichzeitig Altersarmut zu vermeiden. Karl-Heinz Dedring u.a.: Rückkehr zur lebensstandardsichernden und armutsfesten Rente WISO Diskurs, Bonn 2010).

[9] Die Rentenreformen der Vergangenheit haben dafür gesorgt, dass mittels "dämpfender Faktoren" die Wachstumsdynamik der Renten von denen der Löhne entkoppelt wurde.

[10] Notwendig ist, die Anwartschaften von ALG II-Beziehern zu erhöhen und niedrige versicherungspflichtige Einkommen aus Steuermitteln (modifizierte Wiedereinführung der Rente nach Mindesteinkommen Paragraph 262 SGB VI) aufzuwerten.


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Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 2/2011, Heft 183, Seite 47-49
mit freundlicher Genehmigung der HerausgeberInnen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. August 2011