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ORGANISATION/574: UN - Steigende Flüchtlingszahlen lassen Internationale Gemeinschaft kalt (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 5. Oktober 2015

UN: Steigende Flüchtlingszahlen lassen Internationale Gemeinschaft kalt

von Arlene Chang


Bild: Wikipedia/Irish Defence Forces

Irische Marinesoldaten retten Flüchtlinge aus Seenot
Bild: Wikipedia/Irish Defence Forces

NEW YORK/BERLIN (IPS) - Nach der viel gepriesenen Willkommenskultur für Flüchtlinge fordert der deutsche Innenminister Thomas de Maizière nun eine "Ankommenskultur" der Migranten selbst. Doch für die meisten der 60 Millionen Menschen, die aktuell auf der Flucht sind, liegt das Ankommen noch in weiter Ferne. Und die Willkommenskultur lässt in vielen Ländern noch zu wünschen übrig, kritisieren William L. Swing, Generaldirektor der Internationalen Organisation für Migration (IOM) und Peter Sutherland, UN-Sonderbeauftragter für Migration und Entwicklung.

Kriege und Konflikte dauern an vielen Orten der Welt bereits seit Jahren an. Syrien ist das aktuell prominenteste Beispiel, und die Konflikte um Boko Haram in Nigeria sind immer wieder in den Schlagzeilen. Doch auch in Eritrea, Libyen und dem Jemen haben Menschen mit dem Überleben zu kämpfen. Jahre nach Beginn der Intervention im Irak sowie in Afghanistan müssen Menschen hungern, leiden unter Warlords und Bedrohungen durch den Islamischen Staat und Al-Qaida. Seit Beginn der Krim-Krise ist auch in der Ukraine die Lage für die Menschen schwierig. In der Zentralafrikanischen Republik bekämpfen sich christliche und islamische Gruppen, und in Somalia dauert der innerstaatliche Konflikt bereits seit 40 Jahren an.


Mehr Flüchtlinge als jemals zuvor

All diese Konflikte haben die globalen Migrationsflüsse verstärkt, sodass aktuell 60 Millionen Menschen und damit mehr als jemals zuvor ihre Heimat hinter sich gelassen haben und einen Ort suchen, an dem sie bleiben können. Die Reaktionen von Regierungsvertretern und anderen Politikern sind teils positiv, teils wird diese globale Herausforderung schlicht ignoriert. Andere stellen Bedingungen, die das Ausmaß des Leids der Menschen bestenfalls missachten. So sind einige Länder der Europäischen Union zwar bereit, Flüchtlinge aufzunehmen, aber nur, solange sie dem christlichen Glauben anhängen. Auch Deutschland nimmt bevorzugt Christen auf.

"Viele Migranten fliehen vor dem sicheren Hungertod oder vor schweren Wirtschaftskrisen. Fällt uns darauf keine bessere Antwort ein als ihnen zu sagen, dass wir sie wieder nach Hause zurück schicken? Entspricht das unseren Vorstellungen davon, was moralisch und anständig ist?", fragte Sutherland auf einer Veranstaltung des einflussreichen US-amerikanischen Thinktanks 'Council on Foreign Relations' am 30. September mit dem Titel 'A Global Response to the Mediterranean Migration Crisis'.

Dem UN-Beauftragten für Migration zur Seite sprang William L. Swing, Generaldirektor der Internationalen Organisation für Migration: "Ressentiments gegenüber Flüchtlingen waren nie stärker als heute. Sie sind gesellschaftlich weit verbreitet und nehmen weiter zu." Swing kritisierte außerdem, dass es an politischer Courage fehle, Dinge anzupacken und Moral einen immer geringeren Stellenwert habe.


EU will nicht mehr als 120.000 Flüchtlinge aufnehmen

Während allein Deutschland mit insgesamt einer Million Flüchtlinge in diesem Jahr rechnet, haben sich die EU-Staaten lediglich auf die Verteilung von 120.000 Migranten verständigt. Deutschland soll mit 17.036 Flüchtlingen die meisten Menschen aufnehmen, gefolgt von Frankreich (12.962), Spanien (8113), Polen (5082) und den Niederlanden (3900). Auf Tschechien und Rumänien, die zusammen mit Ungarn und der Slowakei gegen den Beschluss stimmten, entfallen 1591 und 2475. Ungarn muss 1294 aufnehmen. Die Slowakei, die sich jedoch gegen den Beschluss noch wehrt, soll 802 aufnehmen. Kroatien, das ebenfalls stark von der Krise betroffen ist, soll 568 Flüchtlinge erhalten.

Nicht nur wehren sich einige vor allem osteuropäische Staaten, Migranten aufzunehmen. Ungarn und Kroatien bauen Zäune, um die Durchreise zu verhindern, und auch die CSU in Deutschland hat ähnliche Vorschläge unterbreitet. In Deutschland werden außerdem Transitzonen für Flüchtlinge an den Grenzen diskutiert, um im Schnellverfahren über ihr Asylgesuch zu entscheiden.

Auf die ungarische Flüchtlingspolitik reagierte UN-Generalsekretär Ban Ki-moon mit Kritik. Bei einem Treffen mit dem ungarischen Präsidenten Janos Ader am 26. September sagte er, er verstehe die Herausforderungen, vor denen Ungarn stehe. Gleichzeitig forderte er Ader auf, "die Würde und Menschenrechte" zu respektieren.


UN fehlen mehrere Milliarden Dollar an Hilfsgeldern

Bei seiner Eröffnungsrede der 70. UN-Generalversammlung kritisierte Ban Ki-moon die fehlende Empathie der Weltgemeinschaft. Um 100 Millionen Menschen, die aktuell auf humanitäre Hilfe angewiesen seien, davon 60 Millionen Flüchtlinge, mit dem Nötigsten zu versorgen, brauche die UNO allein in diesem Jahr 20 Milliarden US-Dollar. Das ist das Sechsfache dessen, was die Vereinten Nationen noch vor zehn Jahren für humanitäre Krisen benötigt haben. Doch die Geldbörsen der Mitgliedstaaten sind fest zugeschnürt, stellte Ban fest.

"Wir bekommen nicht genug Geld, um alle Menschenleben zu retten. Wir haben ungefähr die Hälfte der Gelder, die wir brauchen, um den Menchen im Irak, in Südsudan und im Jemen zu helfen und nur ein Drittel dessen, was wir für Syrien brauchen", so Ban.

Auf der Veranstaltung am 30. September wies der UN-Sonderbeauftragte Sutherland darauf hin, dass die syrischen Nachbarstaaten wesentlich mehr Flüchtlinge aufgenommen haben als die europäischen Länder. "Warum sollte die Türkei 1,7 Millionen Flüchtlinge beherbern? Warum der Libanon ein Viertel seiner gesamten Bevölkerung? Oder auch Jordanien? Warum sollten diese Länder die größte Bürde tragen?" Auch stellte er das Dublin-Abkommen in Frage, demzufolge diejenigen europäischen Länder die Flüchtlinge aufnehmen müssen, die sie als erstes betreten haben. "Warum sollten Griechenland und Italien diese schwere Last tragen, nur weil die Flüchtlinge an den Küsten dieser Länder zuerst ankommen?" Letztlich stellte Sutherland die entscheidende Frage: "Gibt es ein neues internationales Verständnis von Anstand, das 'Nähe' mit 'Verantwortung' gleichsetzt?"

"Das schlimme Foto des toten Jungen am Strand hat innerhalb weniger Tage dafür gesorgt, dass einige Länder zugestimmt haben, mehr Flüchtlinge aufzunehmen. Wegen eines Fotos! Aber sind wir denn von Idioten umgeben?" erzürnte sich Sutherland. "Sie müssen doch wissen, dass jedes Jahr Tausende sterben, darunter viele Frauen und Kinder. Das hätte sie davon überzeugen sollen, ihre Politik zu überdenken, nicht das Foto eines einzelnen toten Jungen am Strand."

Sutherland forderte eine neue Flüchtlingspolitik von Europa und den USA. Die Länder der EU sollten genauso wie die USA humanitäre Visa ausstellen, die unter anderem die Familienzusammenführung erlauben. "Es gibt viele Wege, um die schwierige Situation von Flüchtlingen zu verbessern." (Ende/IPS/jk/05.10.2015)


Links:

http://www.ipsnews.net/2015/10/as-the-mediterranean-refugee-crisis-endures-international-morality-ebbs/
http://www.cfr.org/migration/global-response-mediterranean-migration-crisis/p37057

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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 5. Oktober 2015
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. Oktober 2015

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