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ARBEIT/1771: Arbeitszeitverkürzung (spw)


spw - Ausgabe 5/2009 - Heft 173
Zeitschrift für Sozialistische Politik und Wirtschaft

Arbeitszeitverkürzung

Von Jürgen Kromphardt


Zur Sicherung der Beschäftigung in der Krise werden zurzeit zwei bestimmte Formen gezielter Arbeitszeitverkürzung in Deutschland in großem Umfang herangezogen: Es sind derzeit deutlich mehr als eine Million ArbeitnehmerInnen in Kurzarbeit versetzt.(1) Dabei sinkt ihr Einkommen dank des Kurzarbeitgeldes deutlich weniger als ihre Arbeitszeit. Zuvor mussten viele ArbeitnehmerInnen ihre auf Jahresarbeitskonten angesammelten Guthaben in Anspruch nehmen: Ihre tatsächliche Arbeitszeit wurde reduziert (als Korrektur vorangegangener Arbeitszeitverlängerung), ihr Einkommen aber floss unberührt weiter.

Beide Formen interner Flexibilität durch gezielte Arbeitszeitverkürzung und ihr positiver Effekt auf den Beschäftigungsstand werden in der öffentlichen Diskussion uneingeschränkt begrüßt.

Da jedoch vielfach die Guthaben auf den Jahresarbeitskonten bald aufgebraucht sein dürften und die Zuschüsse zur Kurzarbeit zeitlich (bis Ende 2010) begrenzt sind, stellt sich die Frage, ob eine generelle Arbeitszeitverkürzung oder andere Varianten gezielter Arbeitszeitverkürzung an ihre Stelle treten sollten, um den Anstieg der Arbeitslosigkeit abzubremsen. Mit diesem Problem befasst sich dieser Beitrag.


Voraussetzungen erfolgreicher genereller Arbeitszeitverkürzung

In den frühen 1980er Jahren, als die IG-Metall die 35-Stunden-Woche propagierte und erste Schritte in dieser Richtung in den Tarifverhandlungen vereinbarte, entbrannte eine heftige Diskussion darüber, ob eine solche Arbeitszeitverkürzung (im folgenden: AZV) wirklich günstig für die Beschäftigung sei. Die verschiedenen Positionen sind gut nachzulesen in dem von Peter Hampe herausgegebenen Sammelband "Zwischenbilanz der Arbeitszeitverkürzung"(2). Es wäre schön, wenn sich diese Frage empirisch klar beantworten ließe. Eine eindeutige Antwort ist jedoch schwierig, weil - jedenfalls in Deutschland - die Verkürzung der durchschnittlichen Arbeitszeit in vielen kleinen Schritten Jahr für Jahr abläuft(3) und in einen Prozess des wirtschaftlichen Wachstums eingebunden ist, sodass die Entwicklung der Beschäftigung von sehr vielen Faktoren abhängt und der Effekt der Arbeitszeitverkürzung sich kaum isolieren lässt.

Deshalb soll zunächst theoretisch abgeleitet werden, unter welchen Voraussetzungen ein positiver Beschäftigungseffekt eintreten kann. Dafür stelle man sich eine Volkswirtschaft mit konstanter Erwerbsbevölkerung, gegebener durchschnittlicher Jahresarbeitszeit und konstantem Preisniveau vor. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) wächst dank steigender Arbeitsproduktivität je Stunde gleichmäßig und die Stundenlöhne steigen im Ausmaß der Arbeitsproduktivität. Dadurch steigt das Einkommen der Beschäftigten proportional zum BIP an, sodass (bei konstanter Konsumquote der ArbeitnehmerInnenhaushalte) auch der private Konsum mit dem BIP mitwächst. Die Lohnstückkosten und die Lohnquote bleiben konstant. Daher bleibt das Land international wettbewerbsfähig und die Exporte können mit dem BIP steigen. Dank guter Wachstumsaussichten erhöhen die Unternehmen ihre Investitionen ebenfalls parallel zum BIP, sodass die durch die Produktivitätssteigerung mögliche Mehrproduktion auch nachgefragt wird. Allerdings sei dieser Wachstumsprozess mit einer unerwünschten hohen Arbeitslosigkeit verbunden.

Kann in dieser Wirtschaft durch eine generelle AZV die Arbeitslosigkeit reduziert werden? Für die Antwort gehe ich von einer AZV aus, durch die die Arbeitszeit genau um soviel verkürzt wird, wie die Stundenproduktivität steigt, sodass die Monatseinkommen der ArbeitnehmerInnen zunächst unverändert bleiben. Produktivität und Löhne pro Stunde steigen z.B. um 2,5 Prozent, die bezahlte Arbeitszeit reduziert sich entsprechend, die Lohnsumme der bisher Beschäftigten bleibt konstant.

Auf der Kostenseite ergeben sich keine grundsätzlichen Probleme: Die Lohnkosten bleiben konstant, die Kapitalstückkosten, die bei verringerten Laufzeiten der Maschinen steigen dürften, können durch Entkopplung von individueller Arbeitszeit und Betriebszeit konstant gehalten oder sogar gesenkt werden. Eine solche Entkopplung besteht z.B. in allen Kaufhäusern und in produzierenden Betrieben bei Zwei- oder Drei-Schichten-Betrieb.


Kein dauerhaftes Wachstum ohne steigende Lohneinkommen

Damit eine steigende Produktion auch nachgefragt wird, reicht auf Dauer eine konstante Lohnsumme nicht aus; denn es müsste entweder die Sparquote der ArbeitnehmerInnen ständig zurückgehen oder die Exportüberschüsse bzw. das Staatsdefizit relativ zum BIP ständig steigen. Folglich muss in einer wachsenden Volkswirtschaft bei wegen der AZV konstanten Stundenlöhnen die Beschäftigung ansteigen. Dazu müssen die Unternehmen zusätzliche Beschäftigte einstellen. Sie tun dies, wenn sie - wie in der Zeit vor der AZV - eine steigende Nachfrage erwarten. Wenn die Unternehmen im Durchschnitt eine im Ausmaß der Produktivitätserhöhung steigende Nachfrage erwarten und ein entsprechend höheres Produktionsvolumen geplant hatten und weiterhin planen, hätten sie bei unveränderter Arbeitszeit weder Entlassungen noch Neueinstellungen vorgenommen. Bei AZV müssen sie dagegen zusätzliche Arbeitskräfte einstellen, um die geplante Mehrproduktion realisieren zu können.

Die noch offene Frage lautet: Veranlasst AZV die Unternehmen zu einer Revision ihrer Produktionsplanung oder nicht?(4) Für eine Planrevision wird folgende Überlegung angeführt: Wenn die beschäftigten ArbeitnehmerInnen statt einer Lohnerhöhung im Ausmaß der Produktivitätssteigerung, die bei unveränderter Arbeitszeit ihre Monatsverdienste erhöht hätten, eine AZV vereinbaren, die ihre Monatsverdienste unverändert lässt, dann bleibt die Steigerung der Lohnsumme der beschäftigten ArbeitnehmerInnen aus. Dementsprechend muss damit gerechnet werden, dass ihre Konsumgüternachfrage ebenfalls nicht steigt. Hatten die Unternehmer ohne AZV mit steigendem Konsum gerechnet und revidieren nun diese Erwartung nach unten, so hat die AZV keinen Beschäftigungseffekt in der Konsumgüterindustrie: Die Produktionsplanung wird im Ausmaß der AZV heruntergefahren, und die Unternehmer benötigen wegen der verringerten Produktion trotz der AZV keinen zusätzlichen ArbeitnehmerInnen im Vergleich zur Situation ohne AZV.

Von dieser Planrevision würden auch die Zuliefererbetriebe betroffen; ob die Investitionsgüterindustrie tangiert würde, hängt von vielen Faktoren ab und lässt sich nicht generell festlegen (einige Überlegungen dazu finden sich bei Vorkötter(5)). Nicht betroffen wäre die gerade für Deutschland so wichtige Exportgüterindustrie, deren Absatz nicht von der inländischen Nachfrage abhängt. Rückwirkungen auf die Staatsnachfrage wären denkbar, da die Steuereinnahmen zurückgehen bzw. weniger steigen als ohne Planrevision.

Die befürchtete Planrevision würde also nicht in allen Sektoren erfolgen und mithin nicht überall dazu führen, dass die AZV keinen Beschäftigungseffekt hat. Vor allem aber gibt es mehrere Argumente gegen eine Planrevision:

a)
Manche private Haushalte, die in der Vergangenheit ihren Konsum kontinuierlich ausgeweitet haben, werden dies - wenn durch die AZV ihr Monatseinkommen unverändert bleibt - auf Kosten ihrer Sparquote auch weiterhin tun.

b)
Mehr Freizeit löst neue Konsumanreize aus und ermöglicht mehr zeitaufwendigen Konsum (Tennis, Segeln etc. etc.).

c)
Die AZV erfolgt in fast allen Industriestaaten (mit Ausnahme Frankreichs)(6) mittels branchenbezogener Tarifvereinbarungen und nicht einheitlich für alle Bereiche. Daher kann der einzelne Unternehmer nicht von einer AZV in seiner Branche auf einen allgemeinen Stillstand bei den Einkommen der ArbeitnehmerInnenhaushalte schließen.

d)
Die Überlegung, die zur Planrevision führt, gilt nur, wenn jeder einzelne Unternehmer davon ausgeht, dass alle anderen Unternehmer, also auch die Unternehmen der Exportwirtschaft, ihre Pläne ebenfalls nach unten revidieren. Ohne diese Reaktion ergäbe sich ein positiver Beschäftigungseffekt der AZV mit der Folge, dass die von ihnen ausgezahlte Lohnsumme genau so ansteigt wie ohne AZV; denn die insgesamt geleisteten Arbeitsstunden gehen ohne Planrevision nicht zurück. Der private Konsum könnte zwar trotz dieser Entwicklung der Lohneinkommen langsamer steigen, weil die zusätzlich beschäftigten Personen auch während ihrer Nichterwerbstätigkeit konsumiert und dies aus Arbeitslosenunterstützung oder anderen Quellen finanziert hatten. Da der einzelne Unternehmer jedoch nicht weiß, wie seine Konkurrenten handeln, ist es eher unwahrscheinlich, dass er seine Produktionsplanung im Ausmaß der AZV reduziert.

Ein Indiz für die Erwartung, dass die möglichen Planrevisionen unterbleiben und die AZV die Nachfrage nach Arbeitskräften erhöht, kann darin gesehen werden, dass die Arbeitgeberverbände in den Auseinandersetzungen des Jahres 1989 überwiegend anders argumentierten als in den Auseinandersetzungen um den ersten Einstieg in die 35-Stunden-Woche am Anfang der 1980er Jahre. Sie wandten nämlich jetzt gegen die AZV ein, die damit verbundene höhere Nachfrage nach Arbeit könne nicht befriedigt werden, vor allem, weil es an den zusätzlich benötigten FacharbeiterInnen fehle. So schreiben Husmann/ Neifer-Dichmann (vom Deutschen Arbeitgeberverband)(7): "Die mit den jüngsten AZV angestrebte Umverteilung von Arbeit auf mehr Köpfe funktioniert in der Realität nicht, weil die Arbeit nicht beliebig teilbar ist, sich der Mangel an qualifizierten ArbeitnehmerInnen weiter verschärft und dadurch auch die Beschäftigung anderer ArbeitnehmerInnengruppen verhindert wird, angebotene und nachgefragte Qualifikationen nicht übereinstimmen, so dass das ausgefallene Arbeitsvolumen der Beschäftigten nicht ohne weiteres durch Arbeitslose ersetzt werden kann."


Fehlende Grundlagen für eine Durchsetzung genereller Arbeitszeitverkürzung

Eine wichtige Grundlage dafür, dass generelle AZV durchgesetzt werden, ist die Bereitschaft von ArbeitnehmerInnen und Gewerkschaften, sich in den Tarifverhandlungen für diese Maßnahme zu engagieren. Damit ist jedoch nicht zu rechnen, wenn die Monatseinkommen durch die AZV zurückgehen. Deshalb muss sich die Lohnentwicklung an den Produktivitätssteigerungen orientieren und die Stundenlöhne mit der Stundenproduktivität ansteigen. Dann können die ArbeitnehmerInnen im Durchschnitt trotz AZV ein unverändertes Monatseinkommen beziehen; sie verzichten zugunsten der bislang Arbeitslosen allerdings auf sonst mögliche Zuwächse.

An der Produktivität orientierte Lohnsteigerungen hat es - nach einem Zurückbleiben der Lohneinkommen in den 1980er Jahren in West-Deutschland - bei konjunkturell bedingten Abweichungen nach oben und nach unten in Deutschland von 99 bis zum Jahre 2003 annähernd gegeben. In dieser Zeitspanne entwickelten sich dementsprechend auch die ArbeitnehmerInnenentgelte und die Unternehmer- und Vermögenseinkommen weitgehend parallel. Dies ändert sich schlagartig ab 2004. Seitdem haben sich diese beiden Größen drastisch auseinander entwickelt: Die ArbeitnehmerInnenentgelte stiegen nur noch um wenige Prozente, wohingegen die Unternehmer- und Vermögenseinkommen bis 2008 um ca. 40 Prozent hochschossen. Spiegelbildlich dazu ist die (Brutto)Lohnquote von 70,8 auf 65,2 zurückgegangen(8), die um den steigenden Anteil der ArbeitnehmerInnen bereinigte Lohnquote sogar von 67 auf 61 Prozent.(9) Preisbereinigt, also real, sind die ArbeitnehmerInnenentgelte sogar zurückgegangen, und zwar sowohl brutto als auch netto (d.h. nach Abzug von Steuern und Sozialabgaben).(10)

Es ist den ArbeitnehmerInnen also nicht mehr gelungen, eine mehr als geringfügige Beteiligung am Produktionsfortschritt durchzusetzen. Die Schwächung der ArbeitnehmerInnenseite ist wohl vor allem auf die verringerte Bindungskraft der Flächentarifverträge zurückzuführen (u.a. wegen der zunehmenden Tarifflucht der Arbeitgeber), auf die Zunahme von betrieblichen Öffnungsklauseln und auf die Maßnahmen der Agenda 2010, die die ArbeitnehmerInnen veranlassen, für den Erhalt der Arbeitsplätze in ihren Betrieben Konzessionen bei der Bezahlung zu machen.

Die direkte gesamtwirtschaftliche Folge dieser Lohnentwicklung ist die schwache Entwicklung der privaten Konsumausgaben: Während das nominale BIP in 2008 um 5, Prozent höher lag als 2003, stiegen die privaten Konsumausgaben nur um 9,3 Prozent. Sie stiegen dabei noch etwas schwächer als das verfügbare Einkommen aller privaten Haushalte (+9,8). Dies verwundert angesichts der strukturellen Verschiebungen innerhalb dieses Aggregats wenig: Die nominalen Nettolöhne und -gehälter stiegen nur um 9 Prozent, die monetären Sozialleistungen sanken sogar um 1 Prozent. Die Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen erhöhten sich dagegen um 23,8 Prozent. Dazu passt die Zunahme der Ersparnisse der privaten Haushalte um 22,1 Prozent.(11) Die zögerliche Konsumentwicklung dämpft auch die Investitionen in diesem Bereich. Das Ergebnis ist eine schwache Entwicklung der Binnennachfrage; diese kann weder in Deutschland noch in vergleichbaren Volkswirtschaften durch den positiven Einfluss der zurückbleibenden Löhne auf die Exporte ausgeglichen werden, wie empirische Studien zeigen.(12)

Trotz dieser Analysen hängen die meisten Nationalökonomen, - vor allem die in medienwirksamen Gremien wie dem Sachverständigenrat und den Wirtschaftsforschungsinstituten Tätigen - dem neoklassisch geprägten Glauben an, Lohnzurückhaltung führe zu mehr Beschäftigung. Dies gilt verständlicherweise auch für die meisten einzelwirtschaftlich denkenden Unternehmer. Darüber hinaus sind den ArbeitnehmerInnen in den Betrieben und ihren Interessenvertretern meistens die eigenen Arbeitsplätze wichtiger als die gesamtwirtschaftlichen Zusammenhänge, also die Tatsache, dass die Lohnzurückhaltung, indem sie die verfügbaren Einkommen der ArbeitnehmerInnenhaushalte abbremst, die Konsumgüternachfrage langsamer steigen lässt als die Arbeitsproduktivität und damit in diesem größten Bereich der Wirtschaft (und indirekt auch in anderen Bereichen) Arbeitsplätze überflüssig werden lässt.

Solange die realen Stundenlöhne der ArbeitnehmerInnen wegen dieser Lohnzurückhaltung nicht ansteigen, kann nicht erwartet werden, dass die ArbeitnehmerInnen sich für eine Kampagne einer generellen Verkürzung der tariflichen Arbeitszeit gewinnen lassen. Schon deshalb wäre es ein schlechter Rat, Gewerkschaften aufzufordern, hier eine neue Front zu eröffnen - sie sollten sich auf die Lohnentwicklung konzentrieren, die wieder an der mittelfristigen Produktionsentwicklung orientiert werden muss. Dies wird schwierig genug sein: Der Arbeitgeberpräsident Hundt spricht schon davon, eine Senkung der Tariflöhne sei "aus rein betriebswirtschaftlicher Sicht" angemessen (Süddeutsche Zeitung vom 29.07.09). Er macht damit ungewollt deutlich, dass eine rein betriebswirtschaftliche Sicht eben nicht ausreicht, gesamtwirtschaftlich relevante Fragen sinnvoll zu behandeln.

Gegen die Möglichkeit, eine generelle AZV zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit durchzusetzen, spricht auch die Struktur der Arbeitslosigkeit: Ungefähr die Hälfte der Arbeitslosen hat keinen berufsqualifizierenden Abschluss. Dies liegt daran, dass die Höhe der Arbeitslosenquoten sehr stark von der Qualifikation abhängig ist: Je höher diese, desto niedriger ist der Anteil der arbeitslosen Erwerbspersonen. So war im Jahre 2005(13) laut IAB-Kurzbericht Nr. 8/2008 die Arbeitslosenquote bei den Personen ohne beruflichen Abschluss mit 26,0 Prozent über 6-mal so hoch wie bei den HochschulabsolventInnen (dort nur 4, Prozent), und eine verbesserte Arbeitsmarktlage wäre für sie besonders dringlich. Gerade diese im Durchschnitt niedrig bezahlten, wenig qualifizierten Arbeitskräfte trifft jedoch eine Kürzung ihrer Monatseinkommen besonders hart, sodass sie sich in der jetzigen Situation stagnierender realer Stundenlöhne schwerlich für einen Kampf zwecks AZV gewinnen lassen werden. Auf der anderen Seite sind von den Hochqualifizierten nur (relativ) wenige von Arbeitslosigkeit bedroht, sodass sie sehr solidarisch sein müssen, um eine AZV zwecks Verringerung der Arbeitslosigkeit zu unterstützen.


Formen gezielter Arbeitszeitverkürzung

Der Verzicht auf eine generelle AZV bedeutet jedoch nicht, dass nicht versucht werden sollte, gezielt die Arbeitszeit dort zu verkürzen, wo eine Chance dazu besteht. Die eingangs genannten Regelungen von Kurzarbeit und Jahresarbeitszeitkonten sind gute Instrumente, wobei letztere, die den Ausgleich von Überstunden durch spätere Freizeit ermöglichen, noch ausbaufähig sind. Andere Wege könnten darüber hinaus begangen werden:

a)
Angebot von mehr sozialversicherungspflichtigen Teilzeitarbeitsplätzen (also nicht Minijobs aller Art): Viele Erwerbstätige wären froh, wenn sie etwas weniger als die volle Wochenarbeitszeit arbeiten müssten, z.B. in Form einer Viertage-Woche. Durch geschickte rollierende Systeme ließe sich diese in vielen Fällen organisieren, ohne dass die Betriebslaufzeiten deswegen verringert werden müssten.

b)
Kampagnen der qualifizierten Arbeitskräfte für die Einhaltung der tariflich vereinbarten Arbeitszeit. Viele insbesondere gut qualifizierte Angestellte arbeiten derzeit wesentlich länger, als es den Tarifverträgen entspricht, und sie werden häufig für ihre Überstunden nicht einmal bezahlt. Die Arbeitsmarktlage ist für solche ArbeitnehmerInnen nicht so schlecht, dass sie sich nicht stärker gegen diese Zumutungen ihrer Arbeitgeber zur Wehr setzen könnten. Wenn diese dann zusätzliche Personen einstellen, so hätte dies, selbst wenn keine Personen ihrer Qualifikation mehr arbeitsuchend auf dem Arbeitsmarkt vorhanden sind, den positiven Effekt, dass sich Arbeitskräfte, die sich jetzt auf einem Arbeitsplatz befinden, der Anforderungen unterhalb ihrer Qualifikation stellt, um die zusätzlichen Arbeitsplätze bewerben könnten. Dadurch würden weniger häufig Arbeitskräfte mittlerer Qualifikation von besser (eigentlich über-)qualifizierten Personen verdrängt, was dann auch diesen (mit höherer Arbeitslosenquote) zugute käme. Das Ausmaß solcher Verdrängung ist nicht gering. Weißhuhn/ Große Rövekamp (14) zitieren eine Studie, wonach 2002 in Deutschland ungefähr jede/r zehnte ArbeitnehmerIn mit Universitäts- oder Fachhochschulabschluss und sogar ca. 5 Prozent der ArbeitnehmerInnen mittlerer Qualifikation (d.h. mit abgeschlossener Berufsausbildung, aber ohne akademischen Abschluss) nicht ausbildungsadäquat beschäftigt wurden.

c)
Vereinbarung verringerter Wochenarbeitszeiten für ältere ArbeitnehmerInnen, allerdings deutlich geringer subventioniert als die jetzt auslaufende Regelung der Altersteilzeit. Solche Regelungen werden umso wichtiger, je mehr sich das abschlagsfreie Renteneintrittsalter dem Wert von 67 Jahren annähert.

d)
(Vorübergehende) AZV in Betrieben, in denen die Produktion wegen mangelnder Nachfrage zurückgefahren werden muss, sodass - abgesehen von staatlich geförderter Kurzarbeit - nur die Alternative besteht, entweder die Arbeitszeit für einen Teil der Belegschaft auf Null zu setzen, d.h. sie zu entlassen, oder alle Betriebsangehörige kürzer arbeiten zu lassen (eine derartige Lösung wurde 1992-93 bei der Volkswagen-AG einvernehmlich vereinbart).


Ist Arbeitszeitverkürzung mittel- und langfristig nötig?

Die Förderung und Propagierung von AZV ist eine defensive Strategie, die davon ausgeht, dass es weiterhin schwierig bleiben wird, Investitionen in der Höhe zu generieren, die dem Volumen an Ersparnissen entspricht, das sich bei Vollbeschäftigung ergäbe (ganz abgesehen von der Belastung, die ein entsprechendes Produktions- und Konsumniveau für Umwelt und Ressourcen bedeutet). Diese Schwierigkeit wird umso größer, je weniger der private Konsum aufgrund der mit der zunehmend ungleichen Einkommensverteilung steigenden Sparquote mit der wachsenden Produktion Schritt halten kann.

Keynes hat diesen Aspekt für sehr dramatisch angesehen und daher schon im Jahre 1943 in einer kurzen, internen Notiz für die Nachkriegszeit nach Abschluss der Wiederaufbauphase die Gefahr eines dauerhaften Nachfragemangels vorhergesehen. Er meinte, danach werde es nicht mehr gelingen, ohne Rückgriff auf "verschwenderische und unnötige" Projekte Investitionen in Höhe der Ersparnisse bei Vollbeschäftigung zu erzielen. Dann werde es nötig sein "to encourage wise consumption and discourage saving, and to absorb some part of the unwanted surplus by increased leisure, more holidays (which are a wonderful good way of getting rid of money) and shorter hours". (15)


Ausblick

Die Sorge, es werde immer schwieriger, zu einem hohen Beschäftigungsgrad oder gar zu Vollbeschäftigung (wie sie in West-Deutschland 1970-1972 bestanden hatte) zurückzukehren, wird weithin geteilt. Die zeigt u.a. die kritische Reaktion auf das von Frank Steinmeier für die Bundestagswahl am 27. September 2009 Anfang August formulierte Ziel, durch verschiedene Maßnahmen (zur Hälfte durch ökologischen Umbau der Industrie) bis 2020 vier Millionen neue Arbeitsplätze zu schaffen und dadurch trotz Arbeitsplatzverlusten an anderen Stellen in die Nähe der Vollbeschäftigung zu gelangen. Dennoch sperren sich in den Tarifverhandlungen die Arbeitgeber aus einzelwirtschaftlichem Eigeninteresse zumeist nicht nur gegen generelle, sondern auch gegen gezielte AZV, sofern sie auf Dauer angelegt ist. Trotz aller empirischen Studien und trotz der hier dargelegten theoretischen Überlegungen werden sie darin in der politischen und wirtschaftspolitischen Diskussion überwiegend unterstützt. Nicht wenige TeilnehmerInnen an der Debatte fordern stattdessen Steuersenkungen, obwohl diese die Ungleichheit der verfügbaren Einkommen noch weiter verstärken und damit die Beschäftigungsprobleme verschärfen.


Anmerkungen

(1) Laut Prognose des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) könnten im Jahresdurchschnitt 2009 rund 450.000 ArbeitnehmerInnen als KurzarbeiterInnen beschäftigt sein, mit einem Arbeitsausfall je KurzarbeiterIn von 40 Prozent (IAB-Kurzbericht Nr. 6/2009, Tabelle A2).

(2) Peter Hampe, Zwischenbilanz der Arbeitszeitverkürzung. München (V. Hase & Koehler), 1993.

(3) Laut Berechnungen des IAB ist - wie auch früher in West-Deutschland - die durchschnittliche Jahresarbeitszeit weiter Jahr für Jahr gesunken, und zwar von 1993 bis 2006 um 0,2 bis 1,2 Prozent gesunken (im Durchschnitt ca. 0,5 Prozent). 2007 und 2008 gab es keine Veränderung mehr (Zahlen ab 2000 im IAB-Kurzbericht 6/2009)

(4) Dieser Unterabschnitt stützt sich stark auf die entsprechenden Ausführungen in: Jürgen Kromphardt, Arbeitslosigkeit und Inflation, Eine Einführung in die makroökonomischen Kontroversen. Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht), 1998, S. 256 ff.

(5) Uwe Vorkötter (1982), Auswirkungen einer Verkürzung der Wochenarbeitszeit auf die Nachfrage der Unternehmen nach Arbeitskräften, Frankfurt etc. (Lang), S. 142ff.

(6) Nur in Frankreich wurde im Jahre 2000 von der damaligen Regierung eine generelle Verkürzung der Wochenarbeitszeit (auf 35 Stunden) per Gesetz vorgeschrieben. Dies wurde mit einer Erhöhung des Mindestlohns (SMIG) und einer Verringerung der Sozialabgaben für Bezieher niedriger Erwerbseinkommen verbunden, damit deren verfügbare Monatseinkommen sich nicht verringern. Außerdem wurden Unternehmen begünstigt, die die Wochenarbeitszeit rasch verkürzten. (Vgl. zu diesem (und anderen) Teilen der Arbeitsmarktpolitik in Frankreich Gustav Horn u.a., Frankreich: Ein Vorbild für Deutschland? Ein Vergleich wirtschaftspolitischer Strategien mit und ohne Mindestlohn. IMK Report Nr. 31, September 2008, sowie zu den (deutlich positiven) Wirkungen Camille Logeay und Sven Schreiber, Testing the Effectiveness of the French Work-sharing Reform: A Forecasting Approach. "Applied Economics", Vol. 38 (2006), S. 2053-68.

(7) J. Husmann/E. Neifer-Dichmann, Arbeitszeitverkürzungen - Ein Beschäftigungspolitischer Fehlschlag, In: Peter Hampe, Zwischenbilanz der Arbeitszeitverkürzung. V. Hase & Koehler, 1993, S. 63.

(8) Jahresgutachten des Sachverständigenrats, 2008/9, S. 505 sowie Wirtschaft und Statistik, 1/2009, S. 21. Für eine detailliertere Analyse siehe die Untersuchung von K. Brenke im DIW-Wochenbericht 33/2009, die auch die enttäuschende Netto- und Reallohnentwicklung darstellt und kommentiert.

(9) K. Brenke, Reallöhne in Deutschland über mehrere Jahre rückläufig. DIW-Wochenbericht 33/2009, S. 558.

(10) K. Brenke, a.a.O., S. 552

(11) Zahlen der VGR aus Wirtschaft und Statistik, 1/2009, S. 23 und Statistisches Jahrbuch 2008.

(12) Für einen detaillierten Überblick über theoretische und empirische Analysen der Lohnzurückhaltung siehe J. Kromphardt/St. Schneider, "Wer hat von der zurückhaltenden Lohnentwicklung profitiert?". WSI Mitteilungen, 61. Jahrgang, Heft 8/2008, S. 431-438. Dort wird nachgewiesen, dass in großen offenen Volkswirtschaften wie in Deutschland die Vorteile der Lohnzurückhaltung für die Exportindustrie ihre Nachteile für die Binnennachfrage nicht kompensieren können. Hingewiesen sei auch auf Thomas von der Vring, Bilanz der Lohnzurückhaltung 2000-2007 im volkswirtschaftlichen Kreislauf Deutschlands. WSI-Mitteilungen Nr. 6/2009, S. 319-323).

(13) Nach 2005 können diese Quoten laut IAB-Auskunft nicht mehr berechnet werden.

(14) G. Weißhuhn/J. Große Rövekamp, Bildung und Lebenslagen in Deutschland - Auswertung und Analysen für den zweiten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung. Herausgegeben vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF). Berlin 2004.

(15) John Maynard Keynes (1943), "The Long-term Problem of Full Employment". The Collected Writings of John Maynard Keynes, Vol. 27. London&Basingstoke (Macmillan) 1980, S. 323-325.


Dr. Jürgen Kromphardt ist emeritierter Professor für Volkswirtschaftslehre, insb. Wirtschaftstheorie an der TU Berlin. Von 1999-2004 war er Mitglied des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Seit 2004 ist er Vorsitzender und Gründungsmitglied der Keynes Gesellschaft e.V.


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Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 5/2009, Heft 173, Seite 21-27
mit freundlicher Genehmigung der HerausgeberInnen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 5. November 2009