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ARBEIT/2696: Kreativwirtschaft - Arbeit 4.0 oder hochqualifiziertes Prekariat? (spw)


spw - Ausgabe 2/2017 - Heft 219
Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft

Kreativwirtschaft - Arbeit 4.0 oder hochqualifiziertes Prekariat?

von Lisa Basten(1)


Stellen wir uns einmal vor, wir säßen mit einem spritzigen Getränk in einem Straßencafé einer europäischen Großstadt, irgendwo zwischen Gentrifizierung und orientalischem Streetfood. Wir kennen uns nicht sehr gut. Man unterhält sich über dies und das und schließlich kommt die Frage, um die es, seien wir ehrlich, doch eigentlich geht: "Und, was machst Du so?"

Stellen wir uns verschiedene Antworten vor: aus der Immobilien- oder Versicherungsbranche, aus dem Bank- oder Erziehungswesen, der Pharmaindustrie oder allen Facetten des Einzelhandels. Und da ist eine vom Film.

Über was werden wir uns weiter unterhalten? Wird sich jemand für den unbefristeten Vertrag interessieren oder nach dem 13. Monatsgehalt fragen? Wird es Eindruck machen, wie viel sich jemand schon bei der Deutschen Rentenversicherung erarbeitet hat? Wahrscheinlich nicht. Wahrscheinlich werden die Geschichten über den Nachtdreh in Kalkutta und das Anklingen der Stars und Sternchen sehr viel besser ankommen.

Was einmal im Randbereich der Gesellschaft stattfand, ist Mainstream geworden. Was einmal als Alternative zur bürgerlich-starren Gesellschaft von der Pariser Bohème versucht wurde, sind heute mehrheitstaugliche Konzepte: Autonomie, Selbstverwirklichung und Innovation. Kreativität ist zur harten Wirtschaftswährung geworden. Die Kultur- und Kreativwirtschaft setzt Milliarden um und beschäftigt zehnmal so viele Menschen wie die Stahlindustrie. Wo sie boomt, steigt zuverlässig der Quadratmeterpreis.

Der Blick auf die kreativen Branchen ist mit einem grundlegenden Wandel unserer Arbeitswelt verknüpft. Die Projektarbeit mit flexiblen Mitarbeitern in wechselnden Teams gewinnt an Bedeutung, das Normalarbeitsverhältnis unter gesetzlich verankerten Bedingungen verliert sie.

Allerdings: Bei einem genaueren Blick auf die zukunftsträchtigen kreativen Branchen stellt man unterdurchschnittliche Löhne und Honorardumping, ungenügende Altersvorsorge und Arbeitspraktiken fest, in denen Burn-Out zur Jobbeschreibung gehört. Doch das mindert nicht die Anziehungskraft kreativer Lebensentwürfe. Der Blick auf die "neuen" Branchen beinhaltet die "alte" Annahme, dass kreatives Schaffen einen Mehrwert bietet, der sich nicht in Arbeitsverträgen niederschlägt. Einen Mehrwert ohne finanzielle Entsprechung, der sich irgendwo zwischen Freiheit und Selbstentfaltung finden lässt.

Diese Annahme hat fatale Auswirkungen. Denn so zukunftsträchtig die Kreativwirtschaft auch sein mag, bislang bringt sie vor allem prekäre Arbeitsverhältnisse hervor. Den großen Gewerkschaften gelingt es nicht, dem viel entgegenzusetzen. Sie tun sich traditionell schwer in Arbeitsbereichen, die nicht auf Unternehmen und Betrieben, auf Belegschaften und Festanstellungen basieren. Genauso wenig sind gesetzliche Rahmenbedingungen, etwa die Arbeitslosenversicherung oder das Recht auf Mitbestimmung auf diesen Wandel der Erwerbstätigkeit ausgerichtet.

Entsprechend gilt: Der Blick auf die Kultur- und Kreativwirtschaft ist doppelt zukunftsgerichtet. Einerseits zeigen sich Branchen, die gerade im Zuge der Digitalisierung enormes Wachstumspotential haben. Andererseits zeigen sich Branchen, in denen Erwerbstätigkeit trotz hoher Qualifikation innerhalb der existierenden Strukturen deutscher Arbeitsorganisation in prekäre Verhältnisse führt.

Die Branchen der Kultur und Kreativwirtschaft

Im Oktober 2006 wurden Empfehlungen für die Europäische Union entwickelt, die das wirtschaftliche und gesellschaftliche Potential der "Economy of Culture in Europe" als zentral für die Zukunft Europas beschreiben. Die Studie untersuchte im Auftrag der europäischen Kommission die Wirtschaftskraft von einigen Branchen, die in Deutschland als "Kultur- und Kreativwirtschaft" einige Bekanntheit erlangten.

Die Ergebnisse sind unerwartet: 655 Milliarden Euro setzte der Sektor im Jahr 2003 in der EU um. Über 4,7 Millionen Menschen arbeiten in der europäischen Kultur- und Kreativwirtschaft. Doch die Schlüsselrolle, die die Autoren der Kultur- und Kreativwirtschaft für die Zukunft Europas zuweisen, geht über den eigentlichen Umsatz hinaus. Von Kreativität können alle Wirtschaftsbereiche profitieren: sie sei die essentielle Ressource im globalen Wettbewerb unserer Zeit. Aus dieser Überlegung entstanden erste Untersuchungen zur wirtschaftlichen Bedeutung der Kreativen. Heute hat jedes Bundesland seinen Kreativindex, alle möglichen Städte loben sich als creative cities und der Beauftragte der Bundesregierung für kreative digitale Ökonomie fordert mehr Akzeptanz für die Kultur- und Kreativwirtschaft als Speerspitze einer entstehenden wissensbasierten Ökonomie".

Die Autoren der europäischen Studie "The Economy of Culture in Europe" definieren Felder, die den schöpferischen Kern der Kultur- und Kreativwirtschaft bilden: insbesondere die Bildende und die Darstellende Kunst. Es handele sich bei diesen Bereichen um nicht-industrielle Tätigkeiten, die individuell ausgeübt und an einem bestimmten Ort konsumiert, also nicht massenhaft reproduziert werden: zum Beispiel Aufführungen und Ausstellungen.

Anders die Teilbranchen der Kulturindustrie (Cultural Industries) Film und Video, Fernsehen und Radio, Videospiele, Musik sowie Buch und Presse. Dies seien industrielle Tätigkeiten mit systematisch geschützten Produkten, die auf eine Massenreproduktion zielen.

Als Kreativindustrie werden Design, Architektur und Werbung beschrieben. Ihre Produkte, die zum Teil durch das Urheberrecht, aber auch etwa durch das Markenrecht geschützt sein können, basieren auf Kreativität. Als Related Industries werden Wirtschaftsbereiche bezeichnet, die vom "creative input" der genannten Teilbranchen abhängen. Damit lässt sich etwa der wirtschaftliche Einfluss auf andere Wirtschaftsbereiche umfassen.

Die bundesdeutsche "Initiative Kultur- und Kreativwirtschaft", in der die Beauftragte für Kultur und Medien (BKM) und das Bundeswirtschaftsministerium (BMWi) sich 2007 zusammentun, übernimmt die Definition der europäischen Variante:

"Unter Kultur- und Kreativwirtschaft werden diejenigen Kultur- und Kreativunternehmen erfasst, welche überwiegend erwerbswirtschaftlich orientiert sind und sich mit der Schaffung, Produktion, Verteilung und/oder medialen Verbreitung von kulturellen/kreativen Gütern und Dienstleistungen befassen."

In sogenannten Monitoringberichten werden seit 2009 im Auftrag des Bundeswirtschaftsministeriums und der Beauftragten für Kultur und Medien Kennzahlen zur Kultur- und Kreativwirtschaft erfasst. Die Konzentration der Datenerhebung auf die Fähigkeit der Produkte und Tätigkeiten zur ökonomischen Verwertbarkeit führt in den deutschen Daten zu dem Umstand, dass all die Unternehmen, die komplett von öffentlicher Förderung abhängen oder rein durch Gebühren finanziert werden, nicht mit einfließen: Der öffentlichen Kulturbereich (z.B. Theater, Bibliotheken, Museen) sowie der intermediäre Sektor (inklusive aller öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten) sind also nicht Teil dieser offiziellen Datenerhebung. Es sollen die privatwirtschaftlichen Aktivitäten im Zentrum stehen, die einen ökonomischen Beitrag jenseits der Förderung leisten.

Elf Branchen werden in Deutschland der Kultur- und Kreativwirtschaft zugeordnet. Gemeinsam stehen sie 2013 für einen Umsatz von über 145 Milliarden Euro und eine Umsatzsteigerung von fast 20 Prozent innerhalb von zehn Jahren. Die elf Teilmärkte hatten unterschiedliche Anteile an diesem Ergebnis: Der Bereich Software-/Games steht genau wie der Pressemarkt für 19, der Werbemarkt für 15 und die Designwirtschaft für 12 Prozent des Umsatzes. Film und Rundfunk erwirtschaften gemeinsam 11, der Buchmarkt 9 Prozent. Dann folgen die Musikwirtschaft (5 Prozent) und der Architekturmarkt (6 Prozent). Insbesondere bei den Schlusslichtern, dem Markt für darstellende Künste (2 Prozent) und dem Kunstmarkt (1 Prozent) sei nochmal darauf hingewiesen, dass die Bereiche mit öffentlicher Förderung nicht Teil dieser Zahlen sind.

Die Kultur- und Kreativwirtschaft steuert 2013 mehr zum deutschen Bruttoinlandsprodukt bei als das Baugewerbe oder etwa der Finanzsektor. Damit zählt die Kultur- und Kreativwirtschaft heute zu den bedeutendsten Wirtschaftsfeldern in Deutschland.

Das Ziel des Konzepts der Kultur- und Kreativwirtschaft ist es, Möglichkeiten der ökonomischen Verwertbarkeit zu identifizieren. Das wird immer wieder als Angriff auf den Sonderstatus der Kunst gewertet. Denn tatsächlich wird kein Unterschied zwischen mehr oder weniger künstlerisch ausgerichteten Feldern gemacht.

Die verwischenden Grenzen zwischen der ökonomischen Zwängen unterliegenden Produktion kreativer Güter einerseits und der durch ihre gesellschaftliche Relevanz öffentliche Förderung beanspruchenden Kunst andererseits kann Chance und Bedrohung sein. Bedrohung, wenn die Logik der ökonomischen Verwertbarkeit die Freiräume künstlerischen Schaffens vernichtet. Chance, wenn die steigende Bedeutung kreativer Arbeit zu einer Schwerpunkt Auseinandersetzung über die Gleichstellung atypischer Arbeitsverhältnisse in deutschen Sozialsystemen führt. Bedrohung, wenn mit der Verwertungslogik das wirtschaftliche Risiko allein auf das Individuum übertragen wird. Chance, wenn das Bewusstsein gegenüber der Bedeutung kreativer Produktion für neue Formen kollektiven Handelns genutzt wird.

Arbeit in den kreativen Branchen

Aufgrund ihrer wachsenden Beschäftigtenzahlen wird die Kultur- und Kreativwirtschaft als Arbeitgeber der Zukunft gehandelt. Durch ihre Arbeitsweise wird sie immer wieder als zukünftiges Arbeits- und Geschäftsmodell genannt: flexibel, projektbasiert, hochqualifiziert, innovativ und technikaffin. Mit 1,6 Millionen machen die Kreativen 3,6 Prozent aller 42 Millionen Erwerbstätigen in Deutschland aus. Auch von den Beschäftigungszahlen her spielt die Kultur- und Kreativwirtschaft also in einer Liga mit etablierten Wirtschaftsbranchen.

Ein genauerer Blick offenbart allerdings deutliche Verschiebungen im Vergleich zu anderen Beschäftigungsfeldern: Der Anteil der Selbständigen liegt in der Kultur- und Kreativwirtschaft bei 28 Prozent. In der Gesamtwirtschaft Deutschlands sind es 10,5 Prozent, wovon knapp die Hälfte Mitarbeiter beschäftigt - als typisches Bild mag der selbständige Bauunternehmer gelten. Auch Freiberufler mit Personal (etwa niedergelassene Ärzte oder Rechtsanwälte mit eigenen Kanzleien) zählen dazu. In der Kultur- und Kreativwirtschaft sind die meisten Selbständigen sogenannte "Soloselbständige", haben also keine weiteren Beschäftigten. Soloselbständigkeit bedeutet eine völlig andere wirtschaftliche Existenz. Hier wird kein Unternehmen, keine Praxis und keine Kanzlei geführt, sondern schlicht die eigene Arbeitskraft vermarktet. Der Wegfall des Arbeitgeberanteils bei der sozialen Absicherung kann hier nicht, oder nur weitaus schwerer, durch unternehmerisches Handeln ausgeglichen werden.

Jeder fünfte Erwerbstätige der Kultur- und Kreativwirtschaft geht einer geringfügigen Beschäftigung nach, die also entweder mit maximal 450 Euro entlohnt oder kurzfristig ausgeübt wird. Immerhin 50 Prozent befinden sich allerdings laut den Zahlen des Monitoringberichts in einer sozialversicherungspflichtigen Anstellung. Allerdings beinhaltet das sowohl Voll- und Teilzeit als auch jede Art von Befristung. Selbstverständlich ist es insbesondere hinsichtlich der sozialen Absicherung von größter Relevanz, welcher Art das sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnis ist. Denn nur im sogenannten Normalarbeitsverhältnis, der unbefristeten Vollzeitstelle, kann über staatliche Vorsorgesysteme etwa eine existenzsichernde Rente aufgebaut werden. Projektbasierte Verträge und Soloselbständigkeit, wie sie in allen kreativen Bereichen üblich sind, erlauben dies nur im Einzelfall.

Der hohe Anteil von Solo-Selbständigkeit und geringfügiger Beschäftigung sowie die Projektnatur der sozialversicherungspflichtigen Anstellung lassen den Schluss zu, dass die Arbeit in der Kultur- und Kreativwirtschaft in Deutschland als vergleichsweise ungesichert und prekär gelten muss. Ebenfalls wird hier deutlich, dass die Solidarsysteme der Bundesrepublik auf projektbasierte Arbeitsverhältnisse bislang nicht ausgerichtet sind.

Um diese Einschätzung zu stützen wären gesicherte Zahlen zum Einkommen in den kreativen Branchen wünschenswert. Leider wissen wir dazu bislang weit weniger als über die wirtschaftliche Relevanz und was wir wissen, widerspricht sich. Sicher kann von einer hohen Heterogenität ausgegangen werden: der Marktwert einzelner Kreativer ist immens, die Verhandlungsmacht der meisten verschwindend gering. Die Monitoringberichte geben über die Umsatzzahlen hinaus wenig Einblick in die Einkommens- oder Lebenssituation der Kreativen. Alarmierend erscheint, dass knapp die Hälfte der Selbständigen der Kultur- und Kreativwirtschaft weniger als 17.500 Euro Umsatz pro Jahr erwirtschaften. Die Künstlersozialkasse, bei der ein Teil der Kreativen versichert ist, gibt ein monatliches Durchschnittseinkommen von 1300 Euro an. Andere Quellen, etwa der "Berliner Kreativbericht" benennen das durchschnittliche Nettoeinkommen deutscher Kreativschaffender mit 2016 Euro pro Monat. Interessant ist hier, dass die ausgehandelten Tarifverträge, Honorarregelungen und Vergütungstabellen der einzelnen Gewerke keine bis wenig Wirkung zu entfalten scheinen. Wo es sie gibt, werden sie nur sporadisch eingehalten. Ohne starke Gewerkschaften und ohne rechtlichen Schutz finden sich die Kreativen in ihren individuellen Gehaltsaushandlungen in ungleichen Machtverhältnissen wider.

Zukunft der Arbeitswelt?

Natürlich müssen wir uns an dieser Stelle fragen: Begründen auch der große Anteil der Soloselbständigen und Geringverdiener sowie die Normalität der befristeten Anstellung die "Vorreiterrolle" der Kultur- und Kreativwirtschaft? Bei Schwangerschaft gibt es keinen Mutterschutz. Zwar bekommen auch selbständige Eltern Elterngeld in Höhe von zwei Dritteln des Vorjahresgewinns aus der Selbständigkeit. Es gibt aber keinen Anspruch auf Rückkehr in den Job und keine Unterstützung bei den laufenden Kosten des Unternehmens. Krankentagegeld, Urlaubsgeld & Co.: Alles weitere Errungenschaften unserer Gesellschaft, die das Normalarbeitsverhältnis betreffen und weder für die Selbständigkeit noch die geringfügige Beschäftigung zutreffen und auch für die befristete Anstellung nur sehr bedingt funktionieren. Die Debatte um Vereinbarkeit von Familie und Beruf, um die sichere Rente oder um den Pflegenotstand geht an einem Großteil der Menschen, deren Arbeitsweise als Zukunftsmodell Europas gilt, derzeit völlig vorbei. Überspitzt formuliert können wir also festhalten: Ein sehr großer Teil der "Speerspitze unserer wissensbasierten Ökonomie" arbeitet entkoppelt von den Grundlagen des deutschen Sozialsystems.

Entsprechend dürften beispielsweise die Ergebnisse einer von Jörg Langer durchgeführten Umfrage innerhalb der Film- und Fernsehwirtschaft nicht überraschen: Danach hat nur einer von zehn Befragten ausreichend für das Alter vorgesorgt. Auch andere kreative Branchen betonen, das Einkommen reiche nicht aus, um für das Alter vorzusorgen: Die Initiative "Art but Fair" veröffentlichte jüngst mit Maximilian Norz Zahlen, nach denen acht von zehn Künstlern im Theater und Musikbereich von Altersarmut betroffen seien. Der Deutsche Kulturrat warnt, die Solo-Selbständigen im Kulturbereich seien "trotz lebenslanger Erwerbstätigkeit von Altersarmut bedroht". Auch jenseits der Selbständigkeit führen die unsteten Beschäftigungsverhältnisse zu Sozialversicherungsbeiträgen, die nicht ausreichen, um eine Altersvorsorge aufzubauen.

Ähnliches gilt für die Absicherung in Phasen der Erwerbslosigkeit - während für Solo-Selbständige schlicht kein praktikables System der Arbeitslosenversicherung besteht, zahlen auf Projektbasis Beschäftigte zwar während ihres Engagement in die Arbeitslosenversicherung ein. Allerdings erwerben sie nur sehr selten auch Anspruch auf Arbeitslosengeld (ALG-I).

Insbesondere bei dem Blick auf die Renten- und Arbeitslosigkeitsversicherung zeigt sich die strukturelle Problematik bei der Integration der Arbeitsformen der Kultur- und Kreativschaffenden in bestehende Absicherungssysteme. Wie dringend hier Lösungsvorschläge her müssen wird deutlicher, wenn wie uns die zu Beginn beschriebene Verknüpfung mit einem allgemeinen Wandel der Arbeitswelt vor Augen führen.

Wenn Erwerbsbiographien auf Projektarbeit (entweder in der Selbständigkeit oder in wechselnden, befristeten Arbeitsverträgen) basieren, sind Phasen der Erwerbslosigkeit vorbestimmt: es sind die Phasen zwischen den Projekten. Sie bedeuten Flexibilität, sie ermöglichen Erholung von überlangen Drehtagen oder intensiven Projektphasen und sie sind nötig, um sich auf neue Projekte vorzubereiten oder sie zu akquirieren. Sie sind Teil des Deals.

Phasen der Erwerbslosigkeit dürften, damit Projektarbeit als Arbeitsmodell funktioniert, nicht Bedürftigkeit bedeuten. So an den Stellschrauben zu drehen, dass ein Anspruch auf ALG-I aus jeglicher Projektarbeit entsteht, käme der staatlichen Finanzierung eines Modells gleich, in dem Flexibilisierung Arbeitgeber aus ihrer sozialen Verantwortung entlässt und Bedürftigkeit durch Arbeit entsteht statt durch ihre Abwesenheit. Wenn sich nicht gleichzeitig das Lohnniveau im kreativen Sektor massiv erhöht, ist es auch im Bereich der Rentenversicherung müßig, darüber nachzudenken ob selbständige Kreativschaffende verpflichtet werden sollten, in staatliche Systeme einzuzahlen. Sie werden nicht genug einzahlen können, um sich eine existenzsichernde Rente aufzubauen.

Wenn wir davon ausgehen, dass die Kultur- und Kreativwirtschaft in Zukunft die Rolle spielt, die ihr aus wirtschaftlicher Sicht sowie im Hinblick auf die Herausforderungen durch Digitalisierung und Arbeit 4.0 zugesprochen wird, so ist es dringend nötig, sowohl auf eine Stabilisierung der Lohnentwicklung als auch, und damit verzahnt, auf eine Anpassung der staatlichen Solidarsysteme auf projektbasierte Arbeit hinzuwirken.


(1) Lisa Basten promoviert am Wissenschaftszentrum für Sozialforschung Berlin (WZB) in einem von der Hans-Böckler-Stiftung geförderten Kolleg zur Zukunft der Arbeitswelt im Fachbereich Wirtschaftswissenschaft. In ihrem 2016 erschienen Buch "Wir Kreative! Das Selbstverständnis einer Branche", auf dem der hier abgedruckte Artikel in weiten Teilen beruht, stellt sie die Frage nach dem Zusammenhang zwischen dem Selbstverständnis als "Kreative" und der Akzeptanz von Arbeitsbedingungen jenseits etablierter Standards.


Quellen:
  • Norz, Maximilian (2016). Faire Arbeitsbedingungen in den Darstellenden Künsten und der Musik, Düsseldorf.
  • Deutscher Kulturrat (2013). Arbeitsmarkt Kultur. Zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Kulturberufen, Berlin.
  • KEA European Affairs (2006). The Economy of Culture in Europe (= Studie im Auftrag der Europäischen Kommission).
  • Langer, Jörg (2017). Soziale Lage, Arbeitsbedingungen, Berufszufriedenheit und Perspektiven der Beschäftigten der Film- und Fernsehbranche 2015 (hg.v. Bundesvereinigung "Die Filmschaffenden").
  • BMWi (Bundesministerium für Wirtschaft und Energie) (Hg.) (2016). Monitoring zu ausgewählten wirtschaftlichen Eckdaten der Kultur- und Kreativwirtschaft 2014, Berlin.

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Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 2/2017, Heft 219, Seite 39-43
mit freundlicher Genehmigung der HerausgeberInnen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 29. Juni 2017

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