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ARBEIT/2721: Politik der Arbeitsmarktreform (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 7-8/2017

Politik der Arbeitsmarktreform

von Günther Schmid


Auch im Jahr 2017 spaltet die Agenda 2010 Deutschland immer noch. Dutzende haben sich bilanzierend daran abgearbeitet und endeten dabei leider oft nur mit politischen Bekenntnissen - dafür oder dagegen. Während die Kanzlerin Angela Merkel kaum eine Gelegenheit auslässt, ihren Vorgänger Gerhard Schröder dafür zu loben, mit seiner Agenda nicht nur die Arbeitslosigkeit halbiert, sondern Deutschland wieder wettbewerbsfähig gemacht zu haben, behauptet DIE LINKE, die Agenda habe nur eine Unterschicht von Niedriglohnempfängern oder Minijobbern mit prekären Arbeitsplätzen geschaffen, die deren Armut zementiert und keine Entwicklungsperspektiven bietet. In diesem Schwarz-Weiß-Denken, von dem selbst die Wissenschaft nicht völlig frei ist, zermürbt sich die SPD seit einem Jahrzehnt und findet für Außenstehende kaum mehr einen glaubwürdigen Stand.

SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz versucht nun seit ein paar Monaten vergeblich, aus dieser Klemme auszubrechen und im Namen der sozialen Gerechtigkeit die Agenda 2010 zu korrigieren. Mit seinem Vorschlag, die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes zu verlängern, brach er an der wundesten Stelle der Schröder-Reformen ein Tabu. Nach erstaunten Reaktionen innerhalb der Partei verband er seinen Vorschlag mit Qualifikation, also das "Fördern" wieder mit dem "Fordern". Da ein solches Fordern wiederum nur dann Sinn macht, wenn für die Qualifizierten auch neue Jobs geschaffen werden, steht bei ihm neuerdings der Investitionsgedanke im Vordergrund. Das ist richtig, aber ist das die entscheidende Lehre aus der Agenda-Bilanz?

Die Bilanz ist eine andere. Sie beginnt mit einem Tabubruch von Gerhard Schröder selbst. Kaum war die Tinte der Vorschläge (16.8.2002) der Kommission für die Modernisierung der Dienstleistungen am Arbeitsmarkt - die sogenannte Hartz-Kommission, die übrigens, neben Peter Hartz, mit 14 weiteren Experten aus Wirtschaft, Politik, Wissenschaft und Gesellschaft besetzt war - getrocknet, brach er sein Versprechen, diese Vorschläge "1:1" umzusetzen. Am 14. März 2003 kündigte er in seiner Agenda 2010 an, die Dauer des Arbeitslosengeldbezugs drastisch zu senken. Die Vermutung war, der Druck auf die Arbeitslosen müsse durch Kürzung der Lohnersatzleistungen erhöht werden. Um diesen Punkt gab es in der Kommission die heftigsten Auseinandersetzungen. Schließlich einigte man sich auf das Konzept der "atmenden Arbeitslosenversicherung". Erst wenn die damals schon angestrebte Halbierung der Arbeitslosigkeit halbwegs gesichert sei, könne man an die Kürzung des Arbeitslosengeldbezugs denken. Dieses Konzept ist mittlerweile auch in der Wissenschaft weitgehend unumstritten. Selbst Barack Obama verlängerte den Arbeitslosengeldbezug auf dem Höhepunkt der amerikanischen Wirtschaftskrise. Dahinter steckt die theoretische Einsicht, dass das Arbeitslosengeld keine "passive" Leistung ist, sondern - neben und mit der Einkommenssicherung - eine Investition in die erfolgreiche Suche nach einem neuen Job. Lahmt die Arbeitsplatzdynamik in der Krise, ist jede Erhöhung des Drucks auf Arbeitslose kontraproduktiv: Sie zwingt nämlich zur Annahme minderwertiger Jobs, erzeugt Drehtüreffekte, erhöht die Schmutzkonkurrenz um Jobs und befeuert die Entwicklung des Niedriglohnsektors, aus dem dann später kaum noch ein Entkommen ist. Ein generöses und atmendes Arbeitslosengeld, wie es selbst die konservative Schweiz praktiziert, ist die richtige Antwort für Krisenzeiten.

Eine andere Bilanz betrifft die Diskussion um "Hartz IV". Auch hier traf die Umsetzung nicht voll den Kern der Reformvorschläge, d. h. die Zusammenlegung der Arbeitslosen- und Sozialhilfe zum Arbeitslosengeld II. Die Vermutung struktureller Faulheit verdrehte das Konzept einer armutsfesten, freilich bedarfsgeprüften Grundsicherung - zumindest in Teilen - nicht nur zu einem die Menschenwürde beleidigenden Disziplinierungsinstrument, sondern auch zu einem bürokratischen Monster. Der Kernpunkt dieser Reform war jedoch nicht nur ein Effektivitätsargument, sondern auch eine (heute fast vergessene) Gerechtigkeitserwägung.

Zur Effektivität: Vor der "Hartz-IV"-Reform waren die Zuständigkeiten für die langzeitarbeitslosen Arbeitslosenhilfeempfänger zwischen Arbeitsamt und Kommunen verwischt. Diese arbeitsmarktpolitische "Zielgruppe" wurde zwischen diesen Behörden hin- und hergeschoben, keine Institution fühlte sich voll verantwortlich. Kurz: Es herrschte eine institutionelle Verantwortungslosigkeit. Mit der Grundsicherung übernahm der Bund die Hauptlast der Finanzierung, und die Arbeitsgemeinschaften ("Jobcenter") oder - in gewünschten Ausnahmefällen - die Kommunen übernahmen die arbeitsmarktpolitische Verantwortung. Dabei wurde der Kreis der Zielgruppen konsequenterweise auf erwerbsfähige Sozialhilfeempfänger ausgeweitet, was - so nebenbei - erst einmal zu einer Erhöhung der statistisch ausgewiesenen Arbeitslosenzahlen um etwa 700.000 führte. Hinsichtlich des Niveaus der Grundsicherung hatte sich die Kommission zwar nicht festgelegt. Dem Geist ihrer Vorschläge ist jedoch deutlich zu entnehmen, dass ein Kompromiss zwischen der durchschnittlichen Arbeitslosenhilfe (damals 517 Euro) und der Sozialhilfe anzustreben wäre. Der tatsächlich gewählte Basissatz der Grundsicherung (anfangs 345 Euro im Westen, 331 Euro im Osten) wie auch die Behandlung des bedarfsgeprüften Schonvermögens wurde in der Praxis jedoch den Kriterien der damaligen Sozialhilfe angepasst. Die weitere Entwicklung dieser mageren Grundsicherung blieb darüber hinaus hinter dem Anstieg des durchschnittlichen Lohneinkommens zurück: Während der durchschnittliche Reallohn von 2007 bis 2016 um 21,8 % stieg, erhöhte sich der Hartz-IV-Basissatz nur um 16,4 %.

Zur Gerechtigkeitserwägung: Tatsächlich variierten die Sätze der Arbeitslosenhilfe erheblich, da sie lohnbezogen konstruiert waren und 53 % des vor der Arbeitslosigkeit bezogenen Nettolohns garantierten. So konnten vormals gut verdienende Erwerbspersonen (selbstverständlich meist männlichen Geschlechts) monatliche Lohnersatzleistungen von 1.500 Euro oder gar erheblich mehr erhalten und das jahrelang womöglich bis zur Rente, solange ihnen kein adäquater, d. h. ihrem (beruflichen) Status gemäßer Job angeboten werden konnte. Gegenüber einfachen Verdienern und vor allem Verdienerinnen mit monatlichen Bruttoeinkommen von 1.500 Euro oder gar erheblich weniger war dies eine schreiende Ungerechtigkeit. Wer heutzutage dafür plädiert, anstelle von Hartz IV die Arbeitslosenhilfe wieder einzuführen (wie Peter Bofinger im Tagesspiegel vom 2. April 2017), übersieht diese Zusammenhänge und unterschätzt die Macht des Gefühls von Fairness. Selbst von beruflich Etablierten kann, wenn sie vom Strukturwandel betroffen sind, Anpassungswilligkeit auch im Alter verlangt werden. Im digitalen Zeitalter kann kein Verständnis mehr dafür aufgebracht werden, die Verpflichtung zur Weiterbildung ab einem bestimmten Alter zu verbieten, was in manchen Tarifverträgen oder Betriebsvereinbarungen im angeblich goldenen Zeitalter vor der Wende (Bofinger ebenda) noch vorkam.

Eine andere Bilanz der Agenda 2010 ist auch für die "aktive" Arbeitsmarktpolitik zu ziehen. Zunächst die positive Seite: Alle Arbeitslosen werden nun in das Regelwerk der Arbeitslosenversicherung (SGB III) oder der Grundsicherung für Arbeitslose (SGB II) einbezogen. Vor den Arbeitsmarktreformen fielen viele Erwerbslose aus der Arbeitslosen- oder Sozialhilfe und insbesondere aus der aktiven Arbeitsförderung heraus, weil die Zuständigkeiten nicht klar geregelt waren oder die Leistungen aus Scham nicht in Anspruch genommen wurden. Die Zahl der betreuenden Personen (Vermittler, Arbeitsberater, Fallmanager) ist gestiegen, auch wenn sie nach wie vor noch nicht hoch genug ist, ihre Qualifikation lässt (u. a. wegen vieler befristeter Arbeitsverhältnisse) häufig allerdings zu wünschen übrig. Das von der "Hartz-Kommission" besonders stark betonte Überwachungssystem (Monitoring) und die wissenschaftliche Erfolgskontrolle (Evaluierung) hat die Effektivität der Maßnahmen deutlich erhöht. Eine Studie kam sogar zu dem Ergebnis, dass die Organisationsreform der Arbeitsagentur etwa 20 % des Arbeitslosenrückgangs erklärt, während die Arbeitslosengeldreform lediglich 5 % erklärt; auch das IAB stellte eine robuste Verbesserung des Arbeitsmarktausgleichs ("Matching") fest.

Die Schattenseiten der Agenda

Die negative Seite schält sich jedoch immer deutlicher heraus. Die Bundesagentur für Arbeit (BA) ist selbst alles andere als eine Modellarbeitgeberin. Viele Befristungen werden sachlich nicht begründet, sorgen für hohe Fluktuation und ermöglichen keinen kontinuierlichen Aufbau von Professionalität, die bei komplexen Dienstleistungen wie Beratung und Vermittlung erforderlich ist. Nach wie vor sind für das BA-Personal die Anreize schneller Vermittlungen (etwa über Leih- und Zeitarbeit) gegenüber der Förderung der Nachhaltigkeit von Beschäftigungskarrieren zu groß. Vielfach entsprechen die Betreuungsrelationen nicht den amtlichen Zielgrößen. Der Umfang der Arbeitsförderung ist nicht gestiegen, sondern gefallen: Die Teilnehmerzahlen haben sich nahezu halbiert (von etwa 1,6 auf 0,8 Millionen), vor allem bei beschäftigungsfördernden Maßnahmen. Besonders im Weiterbildungsbereich kann von einer institutionellen "Aktivierung" nicht die Rede sein, was im krassen Gegensatz zum steigenden Beklagen eines Fachkräftedefizits steht. Die durchschnittliche Teilnehmerzahl beträgt nur knapp 180.000 (Stand: April 2017). Vor allem wurde die Aktivität bei den zwar teuren, aber effektiven Umschulungen nahezu eingefroren. Und mangels nachhaltige Beschäftigung schaffender Maßnahmen ist die Zahl der Langzeitarbeitslosen nach wie vor auf demselben unerträglichen Niveau wie zu Beginn dieses Jahrzehnts, d. h. bei etwa einer Million. Davon ist die Hälfte wiederum über zwei Jahre, und viele sind sogar vier oder mehr Jahre arbeitslos. Demgegenüber verzeichnete die Bundesagentur in den letzten Jahren Überschüsse von zwei bis drei Milliarden Euro.

Wo klemmt da der Schuh? Am politischen Willen? An der sozialpolitischen Rechtslage? Sicher an beidem, strategisch jedoch an Letzterem. Solange von unten kein Druck auf mehr Aktivitäten zur Erhaltung und Verbesserung der Arbeitsfähigkeit im Lebensverlauf aufgebaut wird, wird an der Trägheit bis hin zur partiellen Unfähigkeit etablierter Institutionen nicht gerüttelt werden. Darum - und das ist die zentrale Lehre aus der anderen Bilanz der Agenda 2010 - ist in erster Linie eine weitere Stärkung der Rechte der Arbeitsmarktbürger im Hinblick auf autonom verfügbare und sozial abgesicherte Arbeitszeiten im Lebensverlauf notwendig, insbesondere im Zusammenhang mit Weiterbildung, Erziehung von Kindern und Pflege kranker Familienangehöriger. Hierzu bietet das Konzept der Übergangsarbeitsmärkte eine konkrete Umsetzungsperspektive. Das Ziel wäre die Erweiterung der Arbeitslosenversicherung zu einer Arbeitsversicherung, die nicht nur Arbeitslosigkeit, sondern auch riskante Übergänge zwischen verschiedenen Arbeitsverhältnissen (Teilzeit-Vollzeit, Selbstständigkeit, Befristung oder Zeitarbeit, Weiterbildung oder Umschulung, Arbeitsplatzwechsel, Eltern-, Pflege- und längere Erholungszeiten) sozial absichert. Insbesondere gälte es, das Recht auf Weiterbildung, inklusive auf regelmäßige Weiterbildungsberatung, gesetzlich zu etablieren und bei Teilzeit (oft in Kombination mit Weiterbildung erforderlich) das Recht auf Rückkehr auf eine adäquate Vollzeitstelle zu garantieren.

Wenn soziale Gerechtigkeit bedeutet, nicht nur gleiche Teilhabechancen zu gewährleisten, sondern diese auch zu vermehren, dann bietet in einer wirtschaftlich boomenden Periode die Verlängerung des Arbeitslosengeldes für die Abgehängten auch bei einem Qualifikationsangebot allein noch keine Perspektive. Zusätzlich muss für passende Arbeitsplätze gesorgt werden, denn die meisten Arbeitslosen wollen nichts dringlicher als Arbeit, und vielen - vor allem den Langzeitarbeitslosen - ist durch formale Qualifizierung nicht geholfen. An den Aufgaben in einer sinnvollen Arbeit zu wachsen, wäre für sie das erste Ziel und eine ihnen angemessene Form der Qualifizierung. Der derzeitige Hype um die Auswirkungen der Digitalisierung in der Arbeitswelt ("Arbeit 4.0") bedarf dringend einer Korrektur durch ein politisches Bekenntnis zur Schaffung von Arbeitsplätzen im vielfältigen Bereich humaner (privater oder öffentlicher) Dienstleistungen, in denen in erster Linie Zuwendung und Fürsorge und nicht der clevere Umgang mit Smartphone oder Tablet gefragt ist.


Günther Schmid ist Professor (em.) für Politische Ökonomie an der FU Berlin und war Direktor im Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB).
guenther.schmid@wzb.eu

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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 7-8/2017, S. 50 - 53
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Sigmar Gabriel, Klaus Harpprecht (†), Jürgen Kocka, Thomas
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veröffentlicht im Schattenblick zum 22. August 2017

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