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DISKURS/088: Wachstumszwang durch Ungleichheit...? (spw)


spw - Ausgabe 2/2010 - Heft 177
Zeitschrift für Sozialistische Politik und Wirtschaft

Wachstumszwang durch Ungleichheit und Ungleichheit als Wachstumsbremse?

Von Simon Sturn und Till van Treeck


Es erscheint widersinnig, mitten in der schwersten Wirtschaftskrise seit Jahrzehnten die Frage nach der Notwendigkeit von Wachstum zu stellen: Angesichts flächendeckend steigender Arbeitslosenzahlen erscheint nichts dringlicher als eine baldige Rückkehr kräftiger Produktionszuwächse. Denn selbst in den reichen Industrieländern verschärft die Krise das Paradox der "Armut, mitten im Überfluss", das schon John Maynard Keynes anlässlich der Großen Depression der 1930er Jahre beschrieben hatte.

Zeitgleich steht die Menschheit vor großen Herausforderungen, deren Lösung durch immer weiteres Wirtschaftswachstum behindert werden könnte. Wirtschaftswachstum schafft und erhält zwar Einkommen und Arbeitsplätze, bedeutet aber - unter den gegenwärtigen Bedingungen - auch, dass allerhand Aktivitäten zunehmen, die mit negativen ökologischen Folgen verbunden sind. Aufgrund der ungleicher werdenden Einkommensverteilung profitieren zudem immer weniger Menschen von Wachstum. Viele haben außerdem den Eindruck, Wirtschaftswachstum äußere sich zunehmend darin, dass in mühsamer Arbeit viele "unnütze" Waren hergestellt werden und andere Facetten des Menschseins zu kurz kommen.

Wirtschaftswachstum kann also ein besseres Leben ermöglichen, es zugleich aber auch verhindern. Was sind die Dimensionen dieses Widerspruchs und wie kann die Politik darauf reagieren? Wir fassen unsere Überlegungen schematisch in vier Punkten zusammen.

1.
Güterproduktion ist kein Selbstzweck: Laut allen ökonomischen Theorien ist mehr Freizeit und weniger Arbeit eine attraktive Wahlmöglichkeit in hochproduktiven Volkswirtschaften.


Konsum oder Freizeit? Die Optimierungsaufgabe des neoklassischen Individuums

Im Zentrum der neoklassischen Theorie steht die Figur des/der selbstbestimmten Konsumenten/in. Das ökonomische Leben des Individuums besteht in der Lösung einer intertemporalen Optimierungsaufgabe: Welchen Anteil meiner Lebenszeit möchte ich mit Arbeit verbringen (deren Entlohnung mir - sofortige oder spätere - Konsummöglichkeiten eröffnet), und wie viel mit Freizeit (die mir den Genuss der Konsumgüter und nicht-marktwirtschaftlich vermittelte Betätigungen ermöglicht)? Wenn die Individuen ihre materiellen Konsumbedürfnisse weitgehend befriedigt sehen, werden sie auf Produktivitätssteigerungen, die sich in höheren Realeinkommen pro Arbeitsstunde niederschlagen, mit einer Reduktion der angebotenen Arbeitsstunden reagieren. Es kommt dann - gesamtgesellschaftlich - ohne weitere politische Eingriffe zu entsprechend geringerem Wirtschaftswachstum.


Keynes und die Lösung des "ökonomischen Problems"

Keynes wird oft auf seine Vorschläge zur staatlichen "Wachstumsankurbelung" beschränkt. Dabei zieht sich kaum ein Gedanke so systematisch durch das Keynessche Werk wie die Vorstellung, dass die Menschheit "das ökonomische Problem" insgesamt im Sinne einer Überwindung der materiellen Knappheit lösen kann.

Keynes erinnerte in seinem Artikel "Economic Possibilities for our Grandchildren" (1931) seine Zeitgenossen mitten in der Weltwirtschaftskrise daran, dass selbst bei vorsichtigen Erwartungen bzgl. des technischen Fortschritts die Produktionskapazitäten der Industrieländer bald so groß sein würden,dass die materiellen Bedürfnisse ihrer Enkelkinder ohne große Mühe befriedigt werden könnten:

"Drei-Stunden-Arbeitstage oder eine 15-Stunden-Woche reichen völlig aus ..., um den alten Adam in den meisten von uns zu befriedigen! ... Zum ersten Mal seit seiner Erschaffung wird der Mensch vor seine eigentliche Aufgabe gestellt sein - wie soll er seine Freiheit von bedrückenden wirtschaftlichen Sorgen nutzen, wie soll er seine Freizeit beschreiten, die die Wissenschaft ... ihm ermöglicht haben wird, um weise, angenehm und gut zu leben."

Keynes glaubte jedoch nicht, dass dieser Prozess sich in spontaner Harmonie als Marktergebnis herausbilden würde. Vielmehr sei es notwendig, durch koordinierte Konjunktur-, Lohn- und Verteilungspolitik dafür zu sorgen, dass das gesamtwirtschaftliche Produktionspotenzial nicht nur voll ausgeschöpft wird, sondern es auch so verteilt wird, dass nicht "Armut mitten im Überfluss" entstünde.


Marx und das "Reich der Freiheit"

Wie viele Neoklassiker/innen und Keynes geht auch Karl Marx davon aus, dass das "Reich der Notwendigkeit" begrenzt ist und durch den technischen Fortschritt zurückgedrängt werden kann. Marx schreibt im "Kapital", dass im "Reich der Notwendigkeit" nicht der Marktmechanismus sondern "die assoziierten Produzenten, diesen ihren Stoffwechsel mit der Natur rationell regeln" sollten.

Wie auch immer das zu verstehen ist: Das "Reich der Freiheit" beginnt laut Marx erst jenseits der "notwendigen" Güterproduktion, "da, wo das Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört; es liegt also ... jenseits der Sphäre der eigentlichen materiellen Produktion." Zur Erreichung sei "die Verkürzung des Arbeitstages, die Grundbedingung".

2.
Ein Hauptgrund dafür, dass viele Menschen so viel arbeiten und konsumieren (wollen), ist die hohe Ungleichheit in der Verteilung von Einkommen und Macht

Warum haben die Menschen ihre Konsumbedürfnisse in den letzten Jahrzehnten deutlich ausgeweitet, anstatt den gigantischen Produktivitätsfortschritt viel stärker in mehr Freizeit umzuwandeln? Ökonomienobelpreisträger Joseph Stiglitz hat in dem Beitrag "Toward a General Theory of Consumerism" (2008) wichtige Gründe hierfür herausgearbeitet.

Ein erster Grund ist schlicht, dass die Realeinkommen vieler Menschen trotz des hohen Wachstums in den reichen Ländern in den letzten Jahrzehnten kaum gestiegen sind (vgl. Abschnitt 3 unten). Auch in reicheren Ländern müssen daher viele Menschen viel arbeiten, um ein Einkommen zu erzielen, das ein Mindestmaß an gesellschaftlicher Teilhabe ermöglicht.

Hinzu kommt, dass die Befriedigung aus dem Konsum sich oberhalb eines bestimmten Einkommensniveaus vor allem daraus ergibt, "mehr" als andere zu haben. Die Reicheren arbeiten soviel, um den Abstand zu den Ärmeren zu verteidigen. Die Ärmeren dagegen arbeiten soviel,um mit den Reicheren mitzuhalten und um aus ihrer relativen Armut auszubrechen. Je mehr sich die Menschen in einer Gesellschaft über den Konsum definieren, desto mehr erhöht dieser Konkurrenzmechanismus die Arbeitsbereitschaft aller Gesellschaftsschichten.

Als einen weiteren wichtigen Grund für die scheinbar geringe Freizeitpräferenz vieler Menschen führt Stiglitz ein Koordinationsproblem an, das auf unterregulierten Märkten entsteht. Menschen verbringen ihre Freizeit gerne mit anderen Menschen. Wenn es aber - wegen mangelnder Arbeitsmarktregulierung - kaum noch feste Zeiten gibt, zu denen eine allgemeine Arbeitsniederlegung stattfindet (Abende, Wochenenden, Ferien, Feiertage), sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass Freizeit zusammen mit Freunden und Familienangehörigen verbracht werden kann. Der Wunsch nach mehr Freizeit verliert so seinen Reiz, hingegen steigt die Nachfrage nach Arbeit und isoliertem, kompensatorischem Konsum. Der freie Markt versagt und verhindert eine optimale Arbeit-Freizeit-Entscheidung nach Maßgabe der tatsächlichen Präferenzen der Individuen. Aus Sicht der Kapitalbesitzer/innen (die sowohl für möglichst wenig regulierte Arbeitsmärkte eintreten als auch marktfähige Güter verkaufen wollen) ist dies ein willkommener Nebeneffekt der zunehmend ungleichen Machtverteilung zwischen ihnen und der Arbeitnehmer/innenschaft.

Schließlich bricht Stiglitz mit einem großen Tabu der herrschenden ökonomischen Konsumtheorie, indem er die (für den gesunden Menschenverstand eigentlich selbstverständliche) Überlegung anstellt, dass individuelle Präferenzen stark kulturell beeinflusst sind: Eine stark auf Arbeit ausgerichtete, von großer Ungleichheit und ökonomischer Unsicherheit geprägte Zivilisation "verlernt" schrittweise den Genuss der schönen, sich selbst genügenden Dinge, wie den Wert des Kochens und langsamen Essens, des Beisammenseins, des Spiels, oder künstlerischer Tätigkeiten. Fast Food, Zigaretten, Medikamente und Fernsehen kompensieren die Einsamkeit des/der isolierten Arbeitnehmers/in. Der Verlust sozialer Bindungen und gemeinschaftlichen Lebens (in der Familie, in Nachbarschaften und sozialen Netzwerken) erhöht die Kosten des Lebensunterhalts (Wohnraum, Garten, Fortbewegungsmittel, Versicherungen, usw. werden weniger gemeinschaftlich genutzt). Werbung macht Menschen (von frühester Kindheit an) anfällig für Versprechen kurzfristigen Glücks durch Konsumgüter. Doch ein längerfristig erfüllendes Leben lässt sich nicht käuflich erwerben. "Kultur" muss erlernt werden, aber sie ist ein öffentliches Gut, und es besteht für private Unternehmen kein einzelwirtschaftliches Interesse an der Förderung einer Kultur, die einer immer weiteren Ausweitung materieller Bedürfnisse hinderlich wäre.

Diese theoretischen Überlegungen, deren Relevanz Joseph Stiglitz vor allem für die USA betont, werden empirisch von den Epidemiologen Richard Wilkinson und Kate Pickett bestätigt. Sie zeigen in ihrem jüngst erschienen Buch "Gleichheit ist Glück" (2009), "warum gerechte Gesellschaften für alle besser sind". In Ländern mit hoher Ungleichheit - wie etwa den USA und Großbritannien - wird nicht nur mehr gearbeitet, weniger recycelt und mehr Geld für Werbung ausgegeben als in egalitäreren Gesellschaften - wie etwa den skandinavischen Staaten. Eine Reihe weiterer Faktoren zersetzt die Funktionsfähigkeit ungleicher Gesellschaften: Es kommt signifikant häufiger zu psychischen Erkrankungen, Fettleibigkeit, Teenager-Geburten, Drogenabhängigkeit, Morden und Gefängnisstrafen. Hingegen sind die Lebenserwartung, der Bildungsstandard der Kinder, der Status der Frauen und die soziale Durchlässigkeit in egalitären Gesellschaften höher.

Diese Ergebnisse zeigen, dass das Wohlbefinden der Menschen in reichen Gesellschaften weitaus weniger vom Pro-Kopf-Einkommen als von der Verteilung des Wohlstands abhängt. Ungleichheit führt demnach zu einer Reihe sozialer Probleme, höherer Arbeitsbereitschaft, geringer ausgeprägtem Gemeinwesen und einer starken Definition des eigenen Status über Konsum.

3.
Die ökonomische Ungleichheit muss aus sozialen und ökologischen Gründen reduziert werden; dies ist aber ohne Wachstum noch viel schwieriger als mit Wachstum.

Die Ungleichheit hat sich in den meisten reichen Ländern in den letzten Jahren bzw. Jahrzehnten dramatisch verschärft, Löhne und Einkommen vieler Haushalte sind trotz Wachstum kaum gestiegen.

In den USA entfielen im Jahr 1978 auf das reichste Zehntel der Bevölkerung ca. 33 Prozent der Vorsteuereinkommen der Privathaushalte. 2007 waren es ca. 50 Prozent. Der reale Medianlohn des durchschnittlichen männlichen Arbeitnehmers im Alter zwischen 30 und 40 Jahren war 2004 trotz drei Jahrzehnten Wachstums niedriger als 1974. Nur eine kleine Oberschicht hat vom ökonomischen Wachstum der letzten drei Jahrzehnte profitiert.

In Deutschland waren die Einkommen traditionell gleichmäßiger verteilt als im Durchschnitt der Industrieländer. In den letzten zehn Jahren ist es aber zu einem dramatischen Anstieg der Ungleichheit gekommen. Die OECD stellte 2008 sogar fest:

"Seit dem Jahr 2000 haben in Deutschland Einkommensungleichheit und Armut stärker zugenommen als in jedem anderen OECD Land."

Die Einkommensarmut ist allein zwischen 1998 und 2008 um etwa 40 Prozent gestiegen. Rund 11,5 Millionen Menschen lagen nach neuesten Zahlen des Sozioökonomischen Panels (SOEP) im Jahr 2008 unter der Armutsrisikoschwelle - dies entspricht rund 14 Prozent der Gesamtbevölkerung. Personen im unteren Zehntel der Einkommensverteilung hatten im Jahr 2008 real 8 Prozent weniger Einkommen zur Verfügung als im Jahr 2000, und das reale Medianeinkommen ist um knapp 2 Prozent gefallen. Im Jahr 2007 hielten die reichsten 20 Prozent der Bevölkerung knapp 90 Prozent der gesamten Vermögen der Privathaushalte. Auch in Deutschland profitierten im letzten Jahrzehnt nur die Reichen vom Wirtschaftswachstum.

Diese ökonomische Ungleichheit muss aus sozialen und ökologischen Gründen reduziert werden. Dabei ist zu berücksichtigen, dass unsere Kultur derzeit stark auf die Beteiligung am Arbeitsmarkt und die Erwartung steigender Einkommen fixiert ist. Wenn Kultur über längere Zeit erlernt werden muss und das Erlernte gesellschaftliche Macht- und Einkommensverhältnisse widerspiegelt, kann aber gerade von ökonomisch benachteiligten Menschen nicht erwartet werden, dass sie sich "von heute auf morgen" über Konsumismus und eine hohe "Präferenz" für Arbeit und Einkommen erheben. Erst eine gleichmäßigere Verteilung von Macht und Einkommen dürfte das Klima erzeugen, das Aussicht auf eine weniger konsumeristische und konfliktuelle Kultur verspricht. Vieles spricht dafür, eine solche Kultur auch mit Maßnahmen zu fördern, die unabhängig von Wirtschaftswachstum sind. Aber ganz ohne Wachstum dürfte der Wandel hin zu einer egalitären und nachhaltigen Gesellschaft aus politischen Gründen nicht zu bewerkstelligen sein. Denn Wachstum entlastet den Staatshaushalt und eröffnet mehr Spielräume zur staatlichen Umverteilung. Auch allgemeine Arbeitszeitverkürzungen sind in der Vergangenheit zumeist in Perioden hohen Wirtschafts- und Lohnwachstums durchgesetzt worden. Ohne Wachstum lassen sich die Einkommen der ärmeren Haushalte nur erhöhen, wenn die Einkommen der reicheren Haushalte sinken. Das mag zwar manche/r befürworten, wäre aber mit großen ökonomischen und politischen Unwägbarkeiten verbunden.


4.
Die Ungleichheit ist eine der wesentlichen Ursachen der Weltwirtschaftskrise und ein großes Hindernis für ein stabiles künftiges Wachstum.

Bisher haben wir argumentiert, dass die ökonomische Ungleichheit eines der Haupthindernisse für einen Übergang zu einem Wirtschaftsmodell ist, das weniger stark durch einen dysfunktionalen Konsumismus und den Zwang zum Wachstum geprägt ist. Wir sind außerdem der Auffassung, dass kurz- bis mittelfristig weiteres Wirtschaftswachstum nötig sein wird, um die Ungleichheit zu reduzieren und damit längerfristig die Chancen für eine weniger wachstumsorientierte und solidarischere Kultur zu steigern.

Zugleich setzt sich unter Ökonom/innen zunehmend die Auffassung durch, dass die extreme Zunahme der Ungleichheit in den letzten Jahren und Jahrzehnten nicht nur Folge der neoliberalen Politik war, wie es etwa Ökonomienobelpreisträger Paul Krugman in seinem Buch "Nach Bush" (2008) beschreibt, sondern eine der Hauptursachen für die gegenwärtige Weltwirtschaftskrise ist. Diese Zusammenhänge wurden an anderer Stelle ausführlich beschrieben (vgl. z.B. IMK-Report 41, 2009). Im Wesentlichen geht es darum, in den nächsten Jahren ein Wirtschaftsmodell zu schaffen, in dem eine ausreichend starke Expansion der realen Masseneinkommen eine weniger krisenanfällige Wachstumsentwicklung ermöglicht, um - ggf. in Kombination mit gezielten Arbeitszeitverkürzungen - Vollbeschäftigung herzustellen. Ein solches Modell wäre weder auf den kreditfinanzierten Konsum und die steigende Überschuldung der unteren und mittleren Einkommensgruppen angewiesen (wie zuletzt in den USA), noch auf die immer weitere Steigerung der Exportfähigkeit bei binnenwirtschaftlicher Nachfrageschwäche im Zuge von extremer Lohnzurückhaltung (wie zuletzt in Deutschland).


Schlussfolgerungen

Es lässt sich nur beklagen, dass drei Generationen nach der Großen Depression das von Keynes beschriebene Problem der "Armut, mitten im Überfluss" noch immer nicht überwunden ist und im Zuge der aktuellen Wirtschaftskrise erneut dramatische Ausmaße anzunehmen droht. In den letzten Jahrzehnten ist aus der Sicht vieler Menschen das "Reich der Notwendigkeit" trotz anhaltenden Wirtschaftswachstums wieder sehr dominant geworden. Weil in den letzten Jahrzehnten versäumt wurde, die Grundlagen für ein freiheitlicheres Wirtschaftsmodell zu legen, in dem Individuen optimale Konsum-Freizeit-Entscheidungen treffen können, ist unsere Kultur weiterhin stark durch den Wunsch nach steigendem Konsum und einer erfolgreichen Karriere auf dem Arbeitsmarkt geprägt.

Aus dieser Darstellung folgt aus unserer Sicht:

In der kurzen Frist muss eine Wirtschaftspolitik verfolgt werden, die rasch zur Überwindung der aktuellen Krise beiträgt, und die in den letzten Jahrzehnten gestiegene Ungleichheit bekämpft. Völlig kontraproduktiv ist es in diesem Kontext, wenn insbesondere in den Handelsbilanzüberschuss-Ländern (wie Deutschland) eine Politik der Lohnzurückhaltung und fiskalischer Restriktion verfolgt wird, das Gegenteil wäre dringend notwendig. Die reicheren Haushalte müssten über das Steuersystem viel stärker zur Finanzierung gesellschaftlicher Aufgaben herangezogen werden. Vollbeschäftigung und ein Ausbau der sozialen Sicherung versetzen die unteren Einkommensgruppen in eine verbesserte Verhandlungsposition und erleichtern die Realisierung einer egalitäreren und postmaterialistischen Gesellschaft. Verstärkt müsste bereits kurzfristig darauf geachtet werden, dass Wachstum auch umweltverträglicher gestaltet wird.

Zudem bedarf es mittelfristig der Entwicklung kultureller Alternativen zum jetzigen konsumeristischen Lebens- und Wirtschaftsstil. Die Durchsetzung dieses Lebensstils ist nicht bereits durch eine egalitärere Verteilung von Einkommen und Macht garantiert. Hierfür ist insbesondere auch die politische Bildungsarbeit von Parteien, Gewerkschaften, NGOs, usw. eine weitere Grundvoraussetzung. Gleichzeitig sollten die Ausweitung des öffentlichen Raums, ein nicht auf Konkurrenz sondern Kooperation basierendes Bildungssystem, die stärkere Forcierung wirtschaftsdemokratischer Elemente und insbesondere die Reduktion der Arbeitszeit das Erlernen einer weniger materialistischen Kultur unterstützen.

Wir können nicht einschätzen, wie viel Zeit aus ökologischer Sicht für den beschriebenen Richtungswechsel hin zu einem weniger wachstumsorientierten Wirtschaftsmodell bleibt. Auch wissen wir nicht, inwieweit Hoffnungen auf ein weniger umweltschädliches "qualitatives" Wachstum berechtigt sind. Wir können lediglich zur Kenntnis nehmen, dass die wissenschaftliche Forschung massive Kosten des Klimawandels für den Fall befürchtet, dass nicht bald ein deutlicher Kurswechsel eingeschlagen wird. Gleichzeitig sehen wir aus polit-ökonomischer Sicht keinen Ausweg aus diesem scheinbaren Widerspruch: Die große Ungleichheit zwingt zu mehr Wachstum und behindert es zugleich. Erst durch mehr Wachstum wird eine effektive Stärkung der unteren Einkommensgruppen möglich, und weniger Ungleichheit reduziert schließlich die Notwendigkeit von Wachstum. Unklar ist freilich, ob die Umwelt solange warten kann.


Simon Sturn und Till van Treeck sind Wirtschaftswissenschaftler am Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) in der Hans-Böckler-Stiftung, Düsseldorf.


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Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 2/2010, Heft 177, Seite 15-20
mit freundlicher Genehmigung der HerausgeberInnen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 5. Juni 2010