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DISKURS/090: Neue Wirtschaft - neuer Wohlstand? (spw)


spw - Ausgabe 2/2010 - Heft 177
Zeitschrift für Sozialistische Politik und Wirtschaft

Neue Wirtschaft - neuer Wohlstand?

Von Cordula Drautz


Die Wiederkehr der Bescheidenheit, eine neue unternehmerische Ethik oder das Ende des Profitstrebens sind nur einige Forderungen, die als Konsequenz aus der Wirtschaftskrise eingeklagt wurden. In der Tat kann mit Fug und Recht auch moralisch hinterfragt werden, ob die Motive, die Unternehmenslenker und Politiker ihren Entscheidungen und Taten zugrunde legten, auch ausreichend ethischen Überlegungen folgten. Viele konservative und neoliberale Politiker und Ökonomen und daran angeschlossene meinungsmachende Institutionen wie die Neue Soziale Marktwirtschaft, Meinhard Miegel, versuchen uns glaubhaft zu machen, es genüge, die "Gier" der Manager zu geißeln und den Verfall der Werte zu beklagen, um zukünftigen Krisen vorzubeugen. Dazu bemerkt Burkhard Müller in der Süddeutschen Zeitung im Juli letzten Jahres zutreffend:

"Wenn es in der Begleitmusik dieser Wirtschaftskrise einen hartnäckig vorklingenden Ton gibt, dann ist es der moralische: als wäre die gegenwärtige Misere das bei besserem Willen und besserer Kontrolle vermeidbare Resultat eines Exzesses statt logisches Produkt des ökonomischen Systems, wie wir es nun einmal haben."

Ein Schelm, wer glaubt, die rhetorischen Nebelkerzen, die die härtesten Verfechter und Verursacher der Wirtschaftskrise unter dem Druck der öffentlichen Kritik werfen, dienten nur dazu, unter dem beklagenden, reuigen Deckmantel teils öffentlicher Buße, nur weitermachen zu wollen, wie bisher.

Neben diesen Einzelbefunden aus der polit-kommunikativen Arena ist daher der in der Krise liegende systemische Befund über Triebkräfte und Katalysatoren unserer Wirtschaftsweise wichtig, um tatsächlich wirksame politische Instrumente vorzuschlagen. Nötig ist zudem eine Verständigung über Ziel und Funktion von Wirtschaft(spolitik) in unserer Gesellschaft, die eine Debatte um Werte und eine Verständigung darüber, welche Eigenschaften unser Zusammenleben in Zukunft prägen sollen, mit einschließen muss. Der gesamten "politischen Ökonomie" der Klassiker um Adam Smith, John Stuart Mill und Thomas Robert Malthus lag die Vorstellung zu Grunde, dass Wirtschaft in die normative Ordnung der Gesellschaft eingebettet sein muss. Erst mit der Ablösung der politischen Ökonomie durch die neoklassische Wirtschaftstheorie erfolgte der Schritt zu einer "reinen" Ökonomik, in der moralische Gesichtspunkte bewusst ausgeklammert werden. Die so entstandene "Zwei-Welten-Konzeption" aus wertfreier Wirtschaftstheorie und außerökonomischer Ethik wird heute in Theorie und Praxis aber zunehmend als Problem erkannt - außer von den Unbelehrbaren Westerwelles und Ackermännern.

In der aktuellen Debatte liegt also auch eine große Chance, ein neues Wirtschaftsmodell zu entwickeln. Die Herausforderung besteht darin, kurzfristig zu handeln, um die Situation zu stabilisieren und mittelfristig ein messbares ökonomisches Programm aufzulegen, das eine diversifizierte, regionale, nachhaltige Wirtschaft entwickelt, die Finanzen und ihren Märkten eine dienende Funktion zuweist und die soziale und ökologische Werte schafft.

Kurzfristig sind bereits viele wirksame Maßnahmen ergriffen worden, um die sozialen Auswirkungen der Krise zu kontrollieren. Das unter dem sozialdemokratisch geführten Bundesarbeitsministerium entwickelte Instrument der Kurzarbeit kann hier beispielhaft genannt werden. Über die mittelfristigen Maßnahmen sozialdemokratischer Wirtschaftspolitik besteht hingegen noch Diskussionsbedarf. Klarheit hierüber kann eine Debatte um unser Verständnis von Wohlstand und Wachstum bringen. Die Diskussion muss dabei ein Dilemma politisch auflösen, das mit unserer wachstumsorientierten Wirtschaftsweise und dem darauf basierenden Sozialsystem verbunden ist: Entweder beschleunigen wir mit mehr Wachstum den ökologischen Kollaps oder mit weniger Wachstum den sozialen. Integrierte wirtschafts-, umwelt- und sozialpolitische Konzepte sind also gefragt. Der auch von linker Seite formulierte reine Katastrophen- und Verzichtsjargon macht jedoch die Mobilisierung vieler Menschen unmöglich, die für die Transformation unseres Wirtschaftsmodells nötig sind.

Hohe Wachstumsraten, die auf exzessivem Schuldenmachen und virtuellen Spekulationskreisläufen aufbauen, sind mitverantwortlich für Finanz- und Wirtschaftskrisen wie die derzeitige mit fatalen Folgen für die Realwirtschaft, so etwa in Form des Verlustes von tausenden Arbeitsplätzen und damit einhergehender sozialer Unsicherheit und Destabilisierung. Auf der anderen Seite jedoch steht eine ebenso wichtige Frage im Raum: Welche gesellschaftlichen Perspektiven hat ein Land wie Deutschland, hochverschuldet und mittendrin im demographischen Wandel, ohne oder mit geringerem Wachstum? Ist ein Wirtschaftssystem denkbar, das nicht oder anders wachsen muss und trotzdem gesellschaftlichen Wohlstand, wirtschaftliche Stabilität, beschäftigungspolitische Wirksamkeit und ökologische Verträglichkeit garantieren kann?

An dieser Stelle können nur einige Aspekte angerissen werden, die darauf erste Antworten liefern können. Sie sollen gleichzeitig als Anregung zur weiteren Debatte um die zentralen politischen Aufgaben dieser Zeit verstanden werden.


Ökonomische Strukturen, die die Grundlage für gesellschaftliche Prosperität bildet, sind dysfunktional geworden. Die Finanzmärkte haben ihre ursprüngliche Funktion als Kapitalvermittlungsinstanz erweitert und bilden nun eigendynamische Märkte, in der die Absicherung von Risiken wiederum selbst zum hochspekulativen Geschäft geworden ist. Die Durchsetzung des share-holder-value-Prinzips birgt massive Probleme, da es durch Innovationshemmnisse, institutionelle Unsicherheiten und durch die Instabilität der Finanzmärkte Blockaden für eine nachhaltige Entwicklung der gesamten Volkswirtschaft bedeutet.
Eine Ökonomie aber, die sich im Kurzfristwettlauf befindet, hat wenig Spielraum für Neuerung und ist auf mittlere Sicht rückständig. Wenn Deutschland im internationalen Wettbewerb zurückfällt, dann nicht aus Kostengründen, sondern weil der bet-and-win-Kapitalismus auf Kosten der Substanz lebt. Die Summe der globalen Finanzanlagen (200 Billionen Dollar) ist fast viermal so hoch wie das globale Bruttoinlandsprodukt (55 Billionen Dollar). Diese Ungleichgewichte können dauerhaft nicht durch Tarifpolitik, Verlängerung von Kurzarbeit, neue Produkte o.ä. aufgefangen werden. Stabilität und Effizienz von Märkten sind nicht durch sich selbst gewährleistet.
Die Notwendigkeit eines globalen Ordnungsrahmens, der insbesondere die Finanzmärkte reguliert und ihnen wieder eine "dienende" Funktion zuweist, ist angesichts ihrer Entkopplung von der realen Wirtschaftsleistung zwingend. Vorschläge hierzu sind bereits entwickelt. Sie umfassen eine globale Finanzmarkttransaktionssteuer, die wirtschaftskulturelle Einbettung und gesellschaftliche Gestaltung der Fondsökonomie, also von Investmentfonds (insbes. Pensionsfonds) und Kapitalbeteiligungen, die Überprüfung der Kriterien und Systematik der betriebs- und volkswirtschaftlichen Rechnungsführung und Bilanzierung, die keineswegs "objektiv", sondern hochgradig wirtschaftskulturell bestimmt sind. Eine Politik für Menschen und nicht für Märkte muss die Richtschnur der kulturellen und inhaltlichen Auseinandersetzung sein. Dies muss im Diskurs und in den vorgeschlagenen Instrumenten konsistent und konsequent vertreten werden.

Nach dem Urteil des britischen Schatzamtes hat sich die Krise aufgrund von Risikofehleinschätzungen auf dem US-Subprime-Markt entwickelt. Die sich daraus ergebenden Verluste der Banken führten dazu, dass die Banken wechselseitig ihre Kreditwürdigkeit anzweifelten, was dann in einer allgemeinen Kreditverknappung resultierte. Der Fall von Lehman Brothers machte die Systemkrise schließlich offenkundig. Dringend erforderlich ist eine positive Vision davon, welche übergreifende Aufgaben das Banken- und Finanzsystem überhaupt erfüllen soll. "Banken müssen Menschen verstehen und nicht die Menschen das Bankensystem" lautet ein Werbespruch einer neuseeländischen Bank. Der Nobelpreisträger Robert Merton definiert die Kernfunktionen des Finanzsektors wie folgt: "Die Bereitstellung und Verteilung von ökonomischen Ressourcen - räumlich und zeitlich für nachhaltige Aktivitäten gewährleisten, die langfristige finanzielle und soziale Erträge unter den Bedingungen von Unsicherheit maximieren."

Die Exportausrichtung der deutschen Volkswirtschaft ist zum Verhängnis geworden. Mit der Verbesserung der preislichen Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft hat Deutschland offensiv den eigenen Handelsüberschuss vergrößert. Durch Lohnzurückhaltung, Versuche, die Lohnnebenkosten zu senken, sowie durch Abwälzung von Lasten wie die Senkung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung auf die Arbeitnehmer sind deutsche Exporte im internationalen Vergleich billiger geworden. Die Konsumnachfrage im Inland wurde dadurch jedoch abgeschwächt. Ein (international) stabiles Wirtschaftsmodell muss künftig stärker auf den Binnenmarkt bauen. Ziel muss es sein, Deutschland weniger exportabhängig aufzustellen, ohne dass die erfolgreichen exportorientierten Branchen (Chemie, Automobil, Maschinenbau) in absoluten Zahlen schrumpfen. Höhere öffentliche Investitionen - beispielsweise in Bildung und Infrastruktur -, neue Dienstleistungen - beispielsweise im Pflege- und Gesundheitssektor - und eine Wende in der Lohnpolitik - beispielsweise durch Mindestlöhne und Stärkung des Flächentarifs - sind Ansatzpunkte.

Obwohl Deutschland Vorreiter bei ökologischen Reformen ist, wächst im europäischen und globalen Maßstab der Verbrauch natürlicher Ressourcen rasant mit verheerenden Auswirkungen auf die Umwelt und den Menschen. Alle ökonomischen Erwägungen und Reformvorschläge sind durch die natürlichen Grenzen der Umwelt begrenzt. Der traditionelle Industriefordismus stieß an seine Wachstumsgrenzen. Märkte müssen wieder ins Gleichgewicht gebracht werden und innerhalb wissenschaftlich erkannter (ökologischer) Grenzen operieren. Die dort entstehenden Preise müssen reale und nicht fiktive gesellschaftliche Werte und ökologische Kosten reflektieren. Sie müssen an die öffentliche Sphäre und die Lebenswelt angebunden sein. Der Staat ist der Ort an dem Güter, die am besten oder nur kollektiv erreicht werden können, organisiert werden. Er unterstützt Bürger und arbeitet mit ihnen zusammen, um Wohlstand beispielsweise im Gesundheits- und Bildungsbereich gemeinsam zu produzieren. Das Verhältnis von Markt, Staat und Gesellschaft muss neu ausbalanciert werden.

Um den Anstieg der Arbeitslosigkeit durch die Finanzkrise zu begrenzen, sind der Staat und die Sozialpartner weiterhin gefordert, durch Maßnahmen wie die flexible Kurzarbeitsregelung sozial regulierend einzugreifen. Diese solidarische Säule unseres Wirtschafts- und Sozialsystems hat sich gerade in Krisenzeiten als effektive Schutzkomponente und zumindest als kurzfristiger Wohlstandsbewahrer bewährt. Die stetig hohe Massenarbeitslosigkeit bleibt jedoch ein grundlegendes Problem bei der Finanzierung des Sozialstaates. Das Problem ist in beitragsfinanzierten Sozialsystemen gravierender als in steuerfinanzierten, da die Einnahmebasis grundsätzlich auf weniger Schultern verteilt ist. Eine Herausforderung für den bundesdeutschen Sozialstaat ist deshalb die Verbreiterung der Finanzierungsbasis. Diese wurde durch die politisch forcierte sinkende Zahl von sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung zusätzlich geschwächt, u.a. durch die Einführung beitragsreduzierter Mini- und Midijobs oder der Förderung von neuer Selbständigkeit ("Ich-AG"). Die Hoffnung, durch die Senkung von Lohnnebenkosten, neue Arbeitsplätze zu schaffen, hat sich nicht erfüllt. Vielmehr wurden reguläre sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze verdrängt. Der Strukturwandel der Erwerbsarbeit hat zu einer Flexibilisierung und Prekarisierung von Arbeitsverhältnissen geführt. Die Ausrichtung des Sozialstaats am Normalarbeitsverhältnis und Erwerbsarbeit überhaupt bietet diesen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern daher keinen ausreichenden Schutz. Für eine Gesellschaft, die zur Zeit nicht mehr genügend Arbeit für alle bereitstellen kann, impliziert dies ein enormes Exklusionspotenzial. Die Sicherheit der einen wird mit der Unsicherheit der anderen erkauft. "Wer drin ist, bekommt alles, die Lohnfortzahlung, das Weihnachts geld, den Versicherungsschutz und was das deutsche Arbeitsrecht an Freundlichkeiten sonst noch kennt; wer draußen steht, bekommt nichts", stellte der Publizist Konrad Adam im "Merkur" schon vor einigen Jahren fest. Gerecht wäre es, die vorhandene Arbeit so zu verteilen, dass alle an ihrteilhaben können - und im Falle des Arbeitsplatzverlustes die Sicherheit haben, wieder eine andere Arbeit finden zu können. Deutlicher demografischer Druck auf die Sozialversicherungssysteme wird erst zwischen 2010 und 2015 erwartet. Wenn die geschilderten aktuellen Probleme durch konsequente und gerechte Umstrukturierung der Einnahmeseite der Sozialsysteme, in der gesellschaftlicher Reichtum, Produktivitätsfortschritt und Wirtschaftswachstum ihren Ausdruck findet, gelöst werden können, kann der Sozialstaat langfristig stabilisiert und der demografische Wandel besser bewältigt werden.

"Die Notwendigkeit des Wachstums ergibt sich unabhängig von allen lebenspraktischen Bedürfnissen der Leute. Das Fatale daran ist, dass auch die an sich konstanten und konservativen Bedürfnisse nur dann befriedigt werden können, wenn sie sich dieser Dynamik unterwerfen. Wer darauf beharrt, sein Staubsauger sei groß genug, einen größeren brauche er nicht, riskiert es, am Ende überhaupt keinen mehr zu haben, nicht einmal einen kleinen. Ohne Wachstum kann unser Wirtschaftssystem nicht funktionieren; und zwar deswegen nicht, weil jede Produktion in ihm an den Einsatz von Kapital gebunden ist", schreibt Müller in oben zitierten SZ-Artikel weiter. Nötig ist daher eine systematische Integration ökologischer und sozialer Kriterien auch in unsere Wirtschaftsindikatoren beispielsweise durch die Einführung eines alternativen Wohlfahrtsindex neben dem Bruttoinlandsprodukt, das "alles misst - außer das, wofür sich das Leben lohnt", wie Robert Kennedy, der Bruder des früheren US-Präsidenten, schon 1968 wusste. Der König der südasiatischen Monarchie Bhutan verkündete 1972, dass Glück das erstrebenswerteste Ziel von Entwicklung sein müsse und führte einen Glücksindex ein. Wenn wir unsere Maßstäbe und Messgrößen für vermeintlich wirtschaftlichen Erfolg nicht verändern, wird sich auch unsere Orientierung auf rein quantitatives, unter Umständen ressourcenverschwendendes und ausschließlich profitorientiertes Wachstum als Ziel ökonomischen Handelns nicht verändern.

Die angerissenen Debattenstränge zeigen: Es mangelt nicht an Vorstellungskraft, es mangelt an Tatkraft. Eine langfristige politische Strategie, die einem neuen Verständnis von Wohlstand und Wachstum Rechnung trägt, muss und kann sich vom schnellen Profit auf langfristiges ressourcenschonendes Wirtschaften umorientieren und damit eine an den veränderten Verbraucherinteressen und sozialen Bedürfnissen orientierte, werteschaffende Politik entwickeln und verfolgen. Die Krisenhaftigkeit der kapitalistischen Wirtschaftsweise selbst kann natürlich auch sie nicht aushebeln, wohl aber ihre Zerstörungskraft limitieren.


Cordula Drautz, Politikwissenschaftlerin, lebt in Berlin und ist Mitglied der spw-Redaktion.


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Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 2/2010, Heft 177, Seite 39-43
mit freundlicher Genehmigung der HerausgeberInnen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. Juni 2010