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DISKURS/094: Abschied vom Entkopplungsmythos - Ankunft in der Postwachstumsökonomie (FUE Rundbrief)


Forum Umwelt & Entwicklung - Rundbrief 2/2010
Wohlstand durch Wachstum? Wohlstand ohne Wachstum? Wohlstand statt Wachstum?

Abschied vom Entkopplungsmythos
Ankunft in der Postwachstumsökonomie

Von Niko Paech


Der Sinn weiteren wirtschaftlichen Wachstums wird zusehends hinterfragt. Trotzdem übt sich die Politik in Wachstumsbeschleunigungsrhetorik oder beschwört einen "Green New Deal". Dieses Dogma hängt an einem seidenen Faden, nämlich der ökologischen Entkopplung des Wirtschaftswachstums.



Wachstumsdämmerung

Woraus könnte sich eine auf industrieller Arbeitsteilung beruhende Wertschöpfung speisen, die einerseits eine Zunahme der in Geld und über Märkte transferierten Leistungen bewirkt - sonst ergäbe sich kein Wirtschaftswachstum - und andererseits zum ökologischen Nulltarif zu haben ist? Die beinahe schon folkloristische Antwort lautet: Nachhaltigkeitsinnovationen wie etwa Passivhäuser, Windkraft-, Solar- und Biogasanlagen, Ökotextilien, Elektro-, Hybrid- oder Wasserstoffautos, smarte Informationstechnologien zur Dematerialisierung von Wertströmen, energetische Sanierungen etc. Aber auch derlei Artefakte einer ökologischen Modernisierung sind stofflichen Ursprungs. Sie stehen am Ende einer komplexen, räumlich diffusen Wertschöpfungskette, deren Stationen und dazwischen liegenden Transaktionen alles andere als immateriell sind - es sei denn, die Axiome der Thermodynamik ließen sich außer Kraft setzen.

Würde zum Beispiel die Baubranche nur noch Passivhäuser anbieten, ginge jedes weitere Gebäude mit einer geringeren CO2-Belastung als ein konventionelles Gebäude (nach EnEV) einher, aber es bedeutete eine zusätzliche Belastung. Nur wenn keine weiteren Gebäude entstünden, sondern der Immobilienbestand saniert oder nur dort, wo dies aus der Perspektive einer Lebenszyklusanalyse sinnvoll wäre, durch Passivhäuser ersetzt würde, gelänge eine CO2-Reduktion. Aber gemessen an der momentan ungehindert in die Fläche expandierenden Baubranche, entspräche dies einer Schrumpfung - mit allen Konsequenzen: Weniger Wertschöpfung, Arbeitsplätze und Steuereinnahmen. Selbst für den utopischen Fall, dass alle momentanen Produktionskapazitäten der Bauindustrie durch eine Sanierungsoffensive profitabel ausgelastet würden, resultierte bestenfalls ein konjunkturelles Strohfeuer, denn das Potenzial an Sanierungsfällen wäre bald erschöpft.

Paradoxerweise wird die Unmöglichkeit eines "ökologischen" Wachstums umso eklatanter, je innovativer die Technologien, Produkte, Dienstleistungen sind, die als dessen Schrittmacher gesehen werden. Ein hoher Innovationsgrad nachhaltiger Lösungen überfordert die Anpassungsflexibilität vorhandener Produktionsstätten: Ein Geländewagenhersteller lässt sich ebenso wenig in einen Car-Sharing-Dienstleister verwandeln wie ein Kohlekraftwerk in einen Windpark. Folglich sind Umrüstungen, Konversionen oder Umstrukturierungen keine Option, sondern neue Märkte, Firmengründungen und Investitionen in neue Fertigungsstätten. Aber diese Addition neuer Wertschöpfungssysteme entfacht eine eigene Wachstumsdynamik, weil die hierzu notwendigen Investitionen einen Kapazitäts- und Einkommenseffekt induzieren. Ersterer erhöht das volkswirtschaftliche Gesamtangebot, letzterer erhöht die Kaufkraft, so dass die Nachfrage systematisch mit dem Output wachsen kann.

Wenn also der "ökologische" Wachstumsimpuls nicht mit einem Rückbau bisheriger Kapazitäten einhergeht (Beispiel: Windparks ersetzen fossile und atomare Kraftwerke), unterbliebe nicht nur jegliche Umweltentlastung. Die Schäden nähmen zu, weil zusätzlicher Output nie vollständig ökologisch neutral sein kann, auch dann nicht, wenn er aus Anlagen zur Nutzung erneuerbarer Energien stammt oder als neuartige Dienstleistung in Erscheinung tritt. Auch derlei Innovationen haben materielle Voraussetzungen. Durch deren Addition käme es insgesamt zu einer schleichenden Aufblähung der materiellen Infrastruktur, insbesondere - wie im Falle erneuerbarer Energien - zum Verzehr einer der inzwischen knappsten Ressourcen: Fläche, Landschaft, unverbauter und unversiegelter ökologischer Raum. Dies verdeutlicht nebenbei, dass die ökologische Modernisierung oft nur eine mediale, geographische oder temporale Verlagerung von Umweltbelastungen zuwege bringt. "Die Sonne schickt keine Rechnung" lautet ein Motto der Solarfreunde. Kein Wunder, die absehbar erforderlichen Flächen- und Landschaftsverbräuche, ganz zu schweigen von den (in)direkten Wirkungen des Wertschöpfungsprozesses der Solarindustrie, belasten ja auch nicht die Sonne, sondern die Erde - und zwar zusätzlich zu den bereits bestehenden Belastungen.

Verschärfend wirkt sich aus, dass jede Angebotsausdehnung, auch wenn der Zuwachs auf vergleichsweise ökologische(re)n Produktvarianten basiert - etwa neuer Wohnraum durch Passivhäuser oder zusätzliche Elektrizität aus regenerativen Ressourcen - den Marktpreis insgesamt senkt und damit die Nachfrage steigert: Die schon jetzt immens hohe Wohnfläche pro Kopf nähme zu; einer weiteren Anreicherung der Haushalte mit Energiesklaven, Komfort steigernden Konsumkrücken und Strom fressender IT-Hardware würde Vorschub geleistet. Am zweiten Weihnachtsfeiertag 2009 sank der Strompreis an der Leipziger Elektrizitätsbörse EEX auf unter Null. Dieser umweltökonomische Supergau - wer spart, wenn Verschwendung belohnt wird? - ist zuletzt auf das zusätzliche Angebot an Strom aus erneubaren Energieträgern zurückzuführen. Die Folgen: Moderne Konsumgesellschaften kennen keine Obergrenze für das, was sich noch mechanisieren, automatisieren, digitalisieren und damit unweigerlich elektrifizieren ließe. Angesichts einer Habitualisierung derartiger Lebensstilausstattungen, die vorwiegend aufgrund ihrer symbolischen und emotionalen Potenziale aufgetürmt werden, dürfte jeglicher Versuch einer späteren Rücknahme aussichtslos sein. Der von Politik und Wissenschaft verfolgte Pragmatismus, wonach erst die nachhaltigen Produktionskapazitäten bzw. Produkte bereitgestellt werden sollen, welche dann im nächsten Schritt die alten Versorgungsstrukturen und Produkte ersetzen können, muss scheitern. Denn während der vermeintlichen Übergangsphase erhöht die Parallelität alter und neuer Strukturen das Versorgungsniveau, folglich auch den materiellen und kulturellen Status Quo. Dessen spätere Rückführung auf das vorherige Niveau würde nichts weniger als eine Suffizienzleistung erfordern. Aber genau diese Zumutung soll doch mit Hilfe "grüner" Wachstumsversprechungen vermieden werden, andernfalls könnte doch direkt eine Reduktionsstrategie erwogen werden.

Eine Verhinderung der skizzierten "Reboundeffekte" würde mindestens voraussetzen, jeden Outputzuwachs an das Ausrangieren und die Entsorgung der weniger nachhaltigen Produkte und Infrastrukturen zu binden. Aber selbst wenn dies gelänge, drohte ein dreifaches Dilemma: (1) Der ökologische Aufwand des Rückbaus um der Vermeidung eines Wachstums an Produktion willen würde möglicherweise in ein Wachstum der Entsorgungsmasse umschlagen. Viele materielle Objekte lassen sich überhaupt nicht oder nur unter extrem hohem Energieaufwand aus der Welt schaffen. (2) Der Umwälzungsprozess entwertet Artefakte, deren optimierte und maßvolle Weiterverwendung möglicherweise zu einer höheren Nachhaltigkeitsperformance führen würde als deren (zu früher) Ersatz. Nicht nur die sog. "Abwrackprämie" bietet hier ein treffliches Lehrstück. (3) Der Rückbau von Kapazitäten, die durch nachhaltigere Varianten bzw. Innovationen ersetzt werden, bedeutet eine Reduktion von Wertschöpfung. Folglich liefe der Nettoeffekt einer ökologisch gelungenen Transformation mit hoher Wahrscheinlichkeit auf ein Nullsummenspiel oder eine insgesamt schrumpfende Wirtschaft hinaus.

Wäre es dann nicht ehrlicher, direkt eine Postwachstumsökonomie anzupeilen, statt Wohlstandserwartungen zu schüren, welche die Bereitschaft der Gesellschaft, sich auf einen überfälligen Wandel von Lebensstilen einzulassen, untergraben?


Postwachstumsökonomie

Eine vollständig entmaterialisierte Steigerung der Lebensqualität entzieht sich sowohl dem Ökonomie- als auch Wachstumsbegriff: Wenn die Quelle für ein Nutzen oder Glück stiftendes Etwas jeglicher Stofflichkeit enthoben sein soll, kann sie nur im Subjekt selbst liegen. Es ist die eigene Imagination und Fähigkeit, in das materiell Vorhandene neuen Sinn hinein zu konstruieren, ihm autonom zusätzliche Befriedigung abzuringen. Aber wie ließe sich dieser Vorgang als monetär zu beziffernde Wertsteigerung vermarkten, zumal das, was gemeinhin unter Ökonomie verstanden wird, immer eine Distanz zwischen Verbrauch und Leistungserstellung voraussetzt? In umgekehrter Blickrichtung gilt, dass eine Steigerung der ökonomischen Wertschöpfung niemals vollständig entmaterialisiert sein kann: Wenn die Quelle für das von einem Individuum empfundene zusätzliche Glück außerhalb seiner selbst liegt, also geplant, gestaltet, produziert, transportiert, monetarisiert und schließlich vermarktet werden muss - und zwar in steigendem Maße, sonst entfiele das Wachstum -, wie kann es dann jemals entmaterialisiert sein?

Demgegenüber bezweckt eine Postwachstumsökonomie primär die Reduktion und sekundär die Transformation des auf Geldwirtschaft und Spezialisierung basierenden Industriemodells. Eine Halbierung der monetär entgoltenen Erwerbsarbeit würde eine neue Balance zwischen Selbst- und Fremdversorgung ermöglichen. Dies könnte in fünf Schritten erfolgen. (1) Zunächst gilt es, Suffizienzpotenziale durch ein neues Zeitalter der materiellen Entrümpelung zu erschließen. Sich klug jenes Ballastes zu entledigen, der viel Zeit, Geld, Raum und ökologische Ressourcen kostet, aber nur geringen Nutzen stiftet, bedeutet keinen Verzicht, sondern Befreiung. (2) Von den verbleibenden Konsumansprüchen ließen sich manche durch eine punktuelle Reaktivierung von Eigenarbeit und (urbaner) Subsistenz in marktfreie Güter transformieren. (3) Ein weiterer Teil der Bedarfe könnte durch regionalökonomische Strukturen, verbunden mit regionalen Komplementärwährungen abgedeckt werden. (4) Der verbleibende Rest an industrieller Wertschöpfung wäre so umzugestalten, dass die Neuproduktion von Gütern, die viel langlebiger und reparaturfreundlicher sein müssten, eher eine untergeordnete Rolle spielt. Der Fokus läge auf dem Erhalt, der Um- und Aufwertung vorhandener Produktbestände und Infrastrukturen, etwa durch Renovation, Konversion, Optimierung, Nutzungsdauerverlängerung oder Nutzungsintensivierung. (5) Flankierend dazu wären drei institutionelle Innovationen erforderlich, nämlich eine Geld- und Bodenreform sowie eine Orientierung an individuellen CO2- oder Ökobilanzen als einzig verlässliche Zielgröße einer nachhaltigen Entwicklung.


Der Autor, apl. Prof. Dr. Niko Paech vertritt an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg den Lehrstuhl für Produktion und Umwelt. Forschungsinteressen: Nachhaltige Entwicklung, Umweltökonomik, Innovationsforschung und -management, Klimaschutz, Konsumforschung, Diffusionsforschung, Nachhaltigkeitskommunikation, Postwachstumsökonomik.


Das Forum Umwelt & Entwicklung wurde 1992 nach der UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung gegründet und koordiniert die Aktivitäten der deutschen NRO in internationalen Politikprozessen zu nachhaltiger Entwicklung. Rechtsträger ist der Deutsche Naturschutzring, Dachverband der deutschen Natur- und Umweltschutzverbände (DNR) e.V. Diese Publikation wurde vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) offiziell gefördert. Der Inhalt gibt nicht unbedingt die Meinung des BMZ wieder.

Der Rundbrief des Forums Umwelt & Entwicklung, erscheint vierteljährlich, zu beziehen gegen eine Spende für das Forum.


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Quelle:
Forum Umwelt & Entwicklung - Rundbrief 2/2010, S. 7-8
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. August 2010