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DISKURS/096: Die Wirtschaft braucht neue Maßstäbe (FUE Rundbrief)


Forum Umwelt & Entwicklung - Rundbrief 2/2010
Wohlstand durch Wachstum? Wohlstand ohne Wachstum? Wohlstand statt Wachstum?

Die Wirtschaft braucht neue Maßstäbe
Wann beginnt der Umbau?

Von Friedel Hütz-Adams


Das Bruttoinlandsprodukt als Kompass oder Maßstab für erfolgreiche Wirtschaftspolitik wird zunehmend fraglich. Alternative Denkmodelle und Erfassungssysteme für Wohlfahrt, Glück und Zufriedenheit sind seit Jahrzehnten in der Diskussion. Die veränderte Zählweise wird aber nur dann Folgen haben, wenn das Umdenken zum Umbau der Wirtschaft führt.


Die Diskussionen um das Wohlergehen von Menschen drehen sich immer noch fast ausschließlich um die Frage, ob ein Wirtschaftswachstum stattfindet oder nicht. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist bisher der zentrale Maßstab zur Berechnung der Wirtschaftsentwicklung eines Landes. Allerdings gehen weite Teile der Wirtschaft, darunter beispielsweise die Hausarbeit und ehrenamtliches Engagement, gar nicht erst in die Rechnung ein. Die Beseitigung von Umweltschäden oder der Verbrauch nicht nachwachsender Rohstoffe hingegen lässt die Wirtschaftsleistung wachsen und damit nach gängiger Lesart auch den Wohlstand. Nach dieser Art der Berechnung muss beispielsweise auch die Ölkatastrophe im Golf von Mexiko zumindest kurzfristig als ein Wachstumsschub für die Wirtschaft gelten.

Neben der Frage, was wie gezählt wird, gibt es massive Kritik an dem Glauben, wirtschaftliches Wachstum alleine werde die Lebenssituation der Menschen und hier vor allem der Armen verbessern. Zahlreiche Beispiele belegen, dass die Situation der Armen oft durch Maßnahmen verbessert wird, die nicht zum höchstmöglichen Wachstum der Wirtschaft führen. Die Verteilung von Land kann beispielsweise dazu führen, dass Nahrungsmittel für den eigenen Bedarf statt Exportprodukten angebaut werden, was zu einer deutlichen Senkung des BIP führen würde. Für viele Staaten hat es sich als ein Weg in eine Sackgasse erwiesen, über Steuerbefreiungen und Subvention in sogenannten Freien Exportzonen Unternehmen anzulocken, die dort zu Niedrigstlöhnen produzieren lassen. Zwar steigen dadurch die Exporte und das BIP, doch sind die Arbeitsbedingungen häufig sehr schlecht, die Löhne gering und die lokale Wertschöpfung tendiert gegen Null.


Profit für alle?

Das Wachstum der Weltwirtschaft hat nachweislich in vielen Staaten nicht zur Verbesserung der Lebensverhältnisse beigetragen. Einer Berechnung der "New Economics Foundation" zufolge kamen von dem massiven Wachstum des BIP der Weltwirtschaft zwischen 1990 und 2001 je 100 US-Dollar Zuwachs nur 1,3 US-Dollar bei den Menschen an, die von weniger als einem US-Dollar pro Tag leben müssen und 2,8 US-Dollar bei denen, die täglich zwischen 1 und 2 US-Dollar zur Verfügung haben. Anders gesagt: Mehr als 97 % des Zuwachses kamen nicht den Ärmsten zugute. Um deren Bedürfnisse durch ein Wachstum der weltweiten Produktion zu befriedigen, wären demnach enorm hohe Wachstumsraten erforderlich. Allein durch eine Steigerung der Produktion wird es somit nicht möglich sein, die Armut nachhaltig zu lindern, ohne die Grundlagen menschlichen Lebens auf der Erde zu zerstören. Daher kann eine Verbesserung der Situation der Armen nur durch eine Umverteilung erreicht werden.


Vielschichtige Probleme auch in den Industrienationen

Selbst in den Industrienationen konnten viele der Erwartungen, die mit dem Wachstum des BIP verbunden werden, nicht erfüllt werden. Trotz steigender Produktion konnte weder die Zahl der Arbeitslosen noch die Staatsverschuldung gesenkt werden. Die sozialen Sicherungssysteme, und hier insbesondere die Bereiche Gesundheit und Renten, stehen vor Problemen, die mit den derzeitigen Lösungsansätzen nicht aufzufangen sind. Durch den Klimawandel verursachte Kosten werden diese Probleme noch verschärfen.

Mit anderen Worten: ein höheres Bruttoinlandsprodukt ist nicht gleichzusetzen mit einem besseren Leben, schon gar nicht mit einem besseren Leben für alle. Mit dieser Erkenntnis könnte man es bewenden lassen, wenn die Politik nicht alles daran setzen würde, das Bruttoinlandsprodukt permanent weiter zu steigern und wir nicht an einem Punkt angekommen wären, wo genau das zu einem weniger guten Leben für viele führt.


Bedeutung von Wohlergehen

Hinter der Frage, wie man Wohlergehen misst, steckt selbstverständlich die Frage, was Wohlergehen ist. Oder, kürzer: Was ist eigentlich ein gutes Leben? Das umfasst offensichtlich mehr als materiellen Reichtum.

Darüber hinaus befinden sich die Rahmenbedingungen für ein gutes Leben in großen Umbrüchen. Angesichts von Klimawandel und schrumpfenden natürlichen Ressourcen wird die Suche nach einer neuen Wirtschaftsweise zur Überlebensfrage. Zugleich ist offensichtlich, dass die zwei Milliarden Menschen, die weltweit unterhalb der Armutsgrenze leben, mehr materiellen Konsum benötigen, um ihre Grundbedürfnisse zu befriedigen.

In der Entwicklungszusammenarbeit besteht eine Diskussion darüber, wie ein Wachstum der Wirtschaft, welches zur Versorgung der Menschen mit ihren Grundbedürfnissen in vielen Entwicklungsländern weiterhin notwendig ist, so gestaltet werden kann, dass es tatsächlich auch den Armen zugute kommt (Pro Poor Growth).


Wachstumsdebatte im Aufschwung

Die Zweifel mehren sich, dass die Politik mit einer Steigerung des BIP als politisches Ziel gut beraten ist. Alternative Denkmodelle und Erfassungssysteme für Wohlfahrt, Glück und Zufriedenheit sind seit Jahrzehnten in der Diskussion. In Frankreich beispielsweise lässt Staatspräsident Nicolas Sarkozy eine international hochkarätig besetzte Kommission alternative Maßstäbe für die Wirtschaftsleistung entwickeln, Großbritannien arbeitet an neuen Konzepten, die Europäische Union und die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) haben Kommissionen eingesetzt. In Deutschland beginnt die Debatte dagegen erst, eine breitere Öffentlichkeit zu erreichen.

Vor dem Hintergrund weltweiter massiver sozialer und ökologischer Probleme stellt sich die Frage, wie lange die deutsche Regierung die Steigerung des BIP noch als wichtigstes wirtschaftspolitisches Ziel ansehen möchte.


Neuer Maßstab erforderlich

Es geht somit um mehr als eine Rechenmethode. Die Fixierung der Politikgestaltung auf das Wachsen des Bruttoinlandsprodukts sollte daher ersetzt werden durch die Suche nach einer Wirtschaftsform, die das Wohl der Menschen in den Mittelpunkt stellt. Das bedeutet, sich von der Betrachtung zu lösen, die Steigerung der Wirtschaftsleistung sei die Voraussetzung für eine Verbesserung der Situation der Menschen.

Wenn das Wohlbefinden tatsächlich im Mittelpunkt stehen soll, so müssen neue Bewertungsmaßstäbe entwickelt werden. Diese müssen die Notwendigkeit des Erhalts der natürlichen Lebensgrundlagen ebenso berücksichtigen wie die Vielschichtigkeit und Multidimensionalität von Armut. Dies wird dann zu dem Schluss führen, dass weniger häufig mehr ist. Betroffen sind sehr unterschiedliche Bereiche und es stellen sich viele neue Fragen: Sollten

• umweltschädigende Projekte begonnen werden?
• Arbeitsplätze, von denen die Beschäftigten nicht (über-)leben können, zugelassen werden?
• Umverteilungen von Reichtum auch dann vorgenommen werden, wenn dies das Wirtschaftswachstum nach der jetzigen Berechnungsmethode schwächt?
• ein Wertewandel der wohlhabenden Schichten hin zu weniger Konsum und einem anderen Lebensstil politisch gewollt und unterstützt werden?
• die bilaterale und multilaterale Entwicklungszusammenarbeit weiterhin weitgehend auf nachholende Entwicklung und wirtschaftliches Wachstum setzen?


Raus aus der (Entwicklungs-)Sackgasse

Vorschläge für eine Umgestaltung der Wirtschaft hin zu einem System ohne Wachstum liegen vor. Einige von ihnen setzen an den theoretischen Grundlagen an, andere zeigen an vielen Beispielen auf, wie neue Lebensziele und -formen - um nicht mehr und nicht weniger geht es in der Debatte - aussehen könnten.

Eine Umsetzung der Vorschläge wird massive Veränderungen nach sich ziehen. Ein erheblicher Teil dieser Veränderungen ist jedoch zugleich die Folge der Umsetzung von Forderungen, die auf der internationalen Ebene schon lange laut werden. Im Mittelpunkt steht dabei die Forderung, die Wirtschaft nicht daran zu bemessen, ob sie in Geld bewertet wächst, sondern ob durch Veränderungen die Lebenssituation der Menschen verbessert wird.

Viele Begriffe aus der Entwicklungszusammenarbeit spielen dabei eine wichtige Rolle. Zugleich zeigt die derzeitige Debatte über die Folgen der Wirtschaftskrise auf die Menschen in Deutschland, wie nahe die Interessen von Menschen hier und in ärmeren Staaten oft beieinander liegen.

Veränderungen wird auch das Alltagsleben der Menschen erfahren. Bestandteile eines neuen Lebensstils sind:

• veränderte Konsumstrukturen,
• eine Neuordnung der Arbeitswelt und -zeiten,
• eine veränderte Wertschätzung von Hausarbeit, Ehrenamt und Freizeit,
• neue Ansätze im Verkehrsbereich. Auf der politischen Ebene ist eine


Umsetzung dessen erforderlich, was die Kommissionen von EU, OECD, französischer Regierung etc. erarbeitet haben. Dies führt zu einer Neugestaltung der Politik:

• Staatshaushalte, Rentensysteme und Sozialausgaben müssen so geplant werden, dass sie nicht von einem Wachstum des Bruttoinlandsproduktes abhängig sind,
• die Arbeitsmarktpolitik benötigt Perspektiven ohne ein Wachstum der Produktion von Gütern,
• Steuergesetze, staatliche Ausgaben und Wirtschaftsförderung müssen den Umbau der Wirtschaft fördern,
• nachhaltige Lebensmodelle inklusive neuen Mobilitätsansätzen benötigen veränderte gesetzliche Rahmenbedingungen.

Angesichts der Klimakrise und der Instabilitäten in der Weltwirtschaft sollte eine Orientierung der Politik an neuen Werten möglichst schnell in Angriff genommen werden. Rein quantitatives Wachstum bietet keine Perspektive mehr. Ein "weiter so wie bisher" stellt eine Verschwendung von Zeit und Ressourcen dar. Und davon haben wir wahrlich nicht genug.


Der Autor befasst sich bei SÜDWIND e.V. mit den Themen Öffentlichkeitsarbeit und Welthandel.

Details zur Debatte siehe:
Friedel Hütz-Adams / Michael Frein:
Die Wirtschaft braucht neue Maßstäbe - Plädoyer für eine Neuorientierung,
http://www.suedwind-institut.de/downloads/2010-03-01_Studie_Wirtschaft-brauchtneue-Massstaebe.pdf.


Das Forum Umwelt & Entwicklung wurde 1992 nach der UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung gegründet und koordiniert die Aktivitäten der deutschen NRO in internationalen Politikprozessen zu nachhaltiger Entwicklung. Rechtsträger ist der Deutsche Naturschutzring, Dachverband der deutschen Natur- und Umweltschutzverbände (DNR) e.V. Diese Publikation wurde vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) offiziell gefördert. Der Inhalt gibt nicht unbedingt die Meinung des BMZ wieder.

Der Rundbrief des Forums Umwelt & Entwicklung, erscheint vierteljährlich, zu beziehen gegen eine Spende für das Forum.


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Quelle:
Forum Umwelt & Entwicklung - Rundbrief 2/2010, S. 9-11
Herausgeber: Projektstelle Umwelt & Entwicklung
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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. August 2010