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DISKURS/114: Jahresbericht zum Stand der deutschen Einheit - Kritische Bilanz oder Selbstlob? (Sozialismus)


Sozialismus Heft 1/2014

Kritische Bilanz oder Selbstlob?
Der Jahresbericht zum Stand der deutschen Einheit

von Klaus Steinitz und Martin Schirdewan



Am 20. November hat die Bundesregierung den Jahresbericht 2013 zum Stand der deutschen Einheit vorgestellt. Der erste Abschnitt soll darstellen, wie die Aufgabe erfüllt wurde, die sozialen, ökonomischen, politischen und kulturellen Lebensbedingungen der Menschen im vereinten Deutschland anzugleichen: "Fast eine Generation nach der Wiedervereinigung haben sich die ökonomischen Lebensverhältnisse in den ost- und westdeutschen Bundesländern, insbesondere der materielle Wohlstand, deutlich verbessert."

Nach der Aufzählung von Erfolgen auf verschiedenen Teilgebieten wird festgestellt, dass derzeit eine anhaltende, wenn auch langsame Konvergenz der ostdeutschen Wirtschaftskraft pro Einwohner an das westdeutsche Niveau stattfindet.

Was ist von dieser generellen Einschätzung zu halten?

1. In der Kommentierung des Berichts durch den Innenminister und andere Vertreter der alten Bundesregierung werden fast ausschließlich die positiven Ergebnisse der vergangenen 23 Jahre angeführt. Über die ungelösten Probleme in Ostdeutschland und das Erreichen gleichwertiger Lebensverhältnisse ist kaum ein Wort zu hören oder zu lesen.

2. Im Bericht werden zwar die wichtigsten Faktoren der ökonomischen Leistungskraft - BIP, Arbeitsproduktivität je Einwohner und je Beschäftigten, Umfang der Investitionen und ihr Anteil an der Verwendung des BIP und des materiellen Lebensniveaus, der Höhe und Struktur der Arbeitseinkommen und anderer Einkommen - zur Charakterisierung des bis 2012 erreichten Ost-West Angleichungsprozesses angeführt. Ein entscheidendes Defizit dieses Berichts (und auch der vorangegangenen) besteht darin, dass eine fundierte und aussagefähige Gesamtanalyse des erreichten Standes bei der Herausbildung gleichwertiger Lebensverhältnisse und der dazu notwendigen Konvergenz fehlt. Mit der Bemerkung, derzeit finde "eine anhaltende, wenn auch langsame Konvergenz der Wirtschaftskraft pro Einwohner zwischen Ost- und Westdeutschland statt", wird der Eindruck erweckt, der Prozess der Angleichung geht voran, nur vielleicht nicht ganz so schnell wie erhofft. Veränderungen in der Politik sind also nicht notwendig, es kann im Prinzip so weiter gehen wie bisher.

3. Eine Vorausschau, bis wann wirklich gleichwertige Lebensverhältnisse, insbesondere bei der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit, in der Arbeit und bei den verfügbaren Einkommen erreicht sein werden, fehlt im Bericht ebenso wie eine Benennung möglicher Hindernisse. Es werden auch nur einzelne Maßnahmen zur Förderung der ostdeutschen Wirtschaftsentwicklung aufgezählt, ohne dass wenigstens in Umrissen ein Gesamtkonzept für den nächsten Zeitabschnitt, etwa bis 2020, zu erkennen ist.

4. Beschönigt werden die Aussagen auch dadurch, dass als Vergleichs-(Basis-)jahr 1991 genommen wird, das Jahr mit dem größten Absturz und dem niedrigsten Stand der wirtschaftlichen Leistungen, des BIP und speziell der Produktion des verarbeitenden Gewerbes in Ostdeutschland. Weit aussagekräftiger ist ein Vergleich mit 1989, dem letzten vollständigen Jahr der DDR-Wirtschaft. Hierzu liegen seit 2005 gründliche Umrechnungen der Ergebnisse der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung (VGR) der DDR auf die in der Bundesrepublik angewendete Methodik der VGR vor.(1) Das ostdeutsche BIP stürzte von 1989 bis 1991 auf 76,5% und die Bruttowertschöpfung des verarbeitenden Gewerbes noch viel stärker auf rund 40% ab. Wenn 1991 als Basisjahr genommen wird, ist die Verringerung der Ost-West-Differenz natürlich weit größer als bei dem Jahr 1989. Damit erscheint auch das Aufholen Ostdeutschlands in einem weit günstigeren Licht. Beim BIP je Einwohner lag z.B. das relative Niveau Ostdeutschlands (Westdeutschland = 100) 1989 bei rund 55%, während es 1991 auf 43% zurückgegangen war. Bis 2012 erhöhte sich dieses Niveau auf gut 70%. Wenn das Basisjahr 1991 zugrunde gelegt wird, konnte der Rückstand um rund die Hälfte verringert werden, gegenüber dem in der DDR 1989 schon einmal erreichten Niveau jedoch nur um ein Drittel.(2) So gibt der Bericht ein stark geschöntes Bild vom Tempo des Aufholprozesses Ostdeutschlands.

Zum Verlauf der Konvergenz heißt es im Bericht: "Im wirtschaftlichen Konvergenzprozess zwischen Ost- und Westdeutschland sind drei Phasen erkennbar, eine Phase der rapiden Konvergenz (bis 1996), eine Phase der erneuten Divergenz, insbesondere in Folge der Strukturanpassung im Baugewerbe (bis 2001) und eine Phase der kontinuierlichen, aber langsamen Konvergenz (seit 2001). Seitdem verringert sich alle drei Jahre dieser Abstand um einen Prozentpunkt. Unterbrochen wurde diese Entwicklung lediglich in den Jahren der Wirtschaftskrise aufgrund des besonders starken BIP-Rückgangs und der anschließenden stärkeren Erholung in Westdeutschland. Zwischen 2004 und 2012 stieg damit das ostdeutsche BIP je Einwohner (einschließlich Berlin) von 68% auf 71% des Westniveaus (34.244 Euro).(3) Ob diese positive Entwicklung auch in den kommenden Jahren anhalten wird, bleibt abzuwarten. Dies hängt insbesondere von vielen strukturellen Faktoren ab. Die Politik für Ostdeutschland muss auch in den kommenden Jahren konsequent fortgesetzt werden." (7f.) Zu dieser Darstellung sind mindestens drei kritische Einwände bzw. Korrekturen notwendig.

Erstens müsste von vier Phasen die Rede sein, da die erste Phase zwischen 1989 und 1991 unterschlagen wird: die Zeit, in der die Ost-West-Divergenz infolge der falschen Einigungspolitik - insbesondere durch die überstürzte, unvorbereitete Einführung der DM und die Kahlschlagpolitik der Treuhandanstalt - sprunghaft zunahm. Der Ost-West-Abstand erhöhte sich beim BIP/Einwohner von 45% 1989 auf 67% 1991, 1990 und 1991 um jeweils 11%.

Zweitens ist nach einer Periode von 1992 bis 1996 mit einem jahresdurchschnittlich äußerst hohen Wachstumstempo des BIP je Einwohner von rund 9% der eigentliche Aufholprozess Ostdeutschlands weitgehend zum Erliegen gekommen. In den 16 Jahren von 1997 bis 2012 erhöhte sich die Konvergenz Ostdeutschlands bei diesem Indikator nur um insgesamt 3%, von 68% auf 71%, d.h. um rund 1% in fünf Jahren. Wenn dieses Tempo fortgesetzt wird, würden die heute in den neuen Bundesländern Lebenden, auch die Jüngsten, kaum noch einen erfolgreichen Abschluss der Konvergenz erleben.

Drittens widerspricht die im Bericht gezogene Schlussfolgerung, dass die Politik für Ostdeutschland auch in den kommenden Jahren konsequent "fortgesetzt werden muss", angesichts der faktischen Stagnation der Konvergenz und der vielen ungelösten Probleme den realen Erfordernissen. Ein "Weiter so" wird der Forderung nach gleichwertigen Lebensverhältnissen, insbesondere der Aufgabe, der Jugend in den neuen Ländern eine lebenswerte Perspektive zu geben, auch nicht gerecht. Trotz beachtlicher Steigerungsraten z.B. der Produktivität, hoher Zuwächse im Export, bemerkenswerter Verbesserungen der Infrastruktur und auch des Aussehens der Städte wird deutlich, dass das Ziel gleichwertiger Lebensverhältnisse in weite Entfernung gerückt ist. Anstatt neuer kreativer Ideen und praktisch wirksamer Ansätze kommt lediglich die magere und unbefriedigende Forderung nach der Fortsetzung der bisherigen Politik. Die Selbstzufriedenheit der Bundesregierung ist angesichts der Finanzkrise, der Zunahme prekärer Arbeits- und Lebensverhältnisse und der gewaltigen ökologischen Herausforderungen nicht zu akzeptieren.

Mit Blick auf den stockenden Aufholprozess ist interessant zu sehen, wie in den verschiedenen Jahresberichten einerseits das Konvergenzziel unverbindlicher und nach unten korrigiert wird und andererseits hinsichtlich der zeitlichen Realisierung die Aussagen immer vager und weniger fassbar werden. Ulrich Busch zeigt diese Entwicklung anschaulich auf.(4)

Der Jahresbericht 2013 fällt zeitlich zusammen mit der Fertigstellung des Koalitionsvertrages zwischen CDU/CSU und SPD. Die ostdeutschen Ministerpräsidenten hatten gefordert, darin ein "Ost-Kapitel" aufzunehmen. Formal wurde dies berücksichtigt: Ein Abschnitt im Umfang von zweieinhalb Seiten (von 185 Seiten) hat die Überschrift "Regionale Strukturpolitik - Deutsche Einheit stärken" aufgenommen. Dort sind einige zwar richtige, aber bekannte Förderinstrumente enthalten.

Wer erwartet hat, hier neue Überlegungen und Politikansätze oder konkrete Vorhaben und Ziele für die nächste Zeit zu gleichwertigen Lebensverhältnissen zu finden, wird enttäuscht. So gibt es nicht einmal konkrete Vorhaben, um die nach fast einem Vierteljahrhundert deutscher Einheit unverständliche Ungleichheit bei den Renten oder die noch hohen Lohnunterschiede zu verringern.

Im Folgenden sollen einige für die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse und für das Erreichen einer selbsttragenden wirtschaftlichen Entwicklung wichtige Indikatoren näher betrachtet und bewertet werden. Die Daten der Tabellen 1 und 2 sind dem Tabellenteil des Berichts entnommen. Darin sind die neuen Länder einschließlich Berlin angeführt.

Tabelle 1: Anteil ausgewählter Indikatoren der neuen Länder an Deutschland insgesamt in % (*)
(*) Angaben zusammengestellt auf Grundlage der Tabelle 2.1, Wichtige gesamtwirtschaftliche Daten im Ost-West-Vergleich des Jahresberichts zum Stand der deutschen Einheit 2013
Tabelle 1: Anteil ausgewählter Indikatoren der neuen Länder 
 an Deutschland insgesamt in % *
Indikator
1991
2012
Wohnbevölkerung
22,6
19,9
Erwerbstätige (Inland)
21,9
18,2
Arbeitnehmer (Inland)
22,8
18,0
Arbeitslose
39,1
31,0
Bruttoinlandsprodukt in jeweiligen Preisen
11,1
15,0
Arbeitnehmerentgelt
14,4
15,2


Die in der Tabelle 1 zusammengestellten Daten enthalten die Veränderungen in den Jahren 1992 bis 2012, jedoch nicht die in 1990 und 1991 schon eingetretenen. Diese aber waren bei allen aufgeführten Indikatoren beträchtlich: Die Zahl der Bevölkerung, der Erwerbstätigen, der Arbeitnehmer und die Höhe der Brutto-Produktion (BIP) haben sich in diesen Jahren beträchtlich reduziert. Die Bevölkerung durch Abwanderung, Erwerbstätige und Arbeitnehmer Vor allem durch die massenhafte Vernichtung von Arbeitsplätzen und das BIP durch einen in der deutschen Geschichte einmaligen, nur mit der Weltwirtschaftskrise 1929ff. vergleichbaren Produktionsabsturz. Der Anteil Ostdeutscher an den Arbeitslosen in Deutschland ist in zwei Jahren von einer zu vernachlässigenden geringen Größe auf einen Anteil hochgeschnellt, der fast das Doppelte des entsprechenden Bevölkerungsanteils betrug. Die (ostdeutschen) Arbeitnehmergehälter je Arbeitstunde haben sich gegenüber 1989 in den ersten Jahren des wiedervereinigten Deutschlands stark erhöht. Der Ost-West-Abstand ist bei diesem Indikator, wie die Tabelle 2 zeigt, bis heute kaum geringer geworden.

Tabelle 2: Verhältnis neue zu alten Ländern für wichtige Indikatoren in % (alte Länder = 100)
Angaben zur Tabelle:
(*) Quelle wie Tabelle 1
(**) Die starken Abweichungen, die im Jahr 1991 zwischen den Kennziffern des BIP und den Arbeitsentgelten je Stunde und je Erwerbstätigen bzw. Arbeitnehmer bestanden, sind darauf zurückzuführen, dass zu dieser Zeit ein beträchtlicher Teil der Erwerbstätigen, die faktisch ihren Arbeitsplatz verloren hatten, noch in den Betrieben als Beschäftigte mit null Stunden Arbeitszeit abgerechnet wurde.
Tabelle 2: Verhältnis neue zu alten Ländern für
wichtige Indikatoren in % (alte Länder = 100)
Indikator
1991
2012
BIP je Einwohner in
jeweiligen Preisen
43,3
  
71,2
  
BIP je Erwerbstätigen
in jeweiligen Preisen
45,1
  
79,4
  
BIP je Arbeitsstunde
der Erwerbstätigen
70,2**

73,8
  
Arbeitnehmerentgelt
je Arbeitnehmer
57,0

81,6
  
Arbeitnehmerentgelt
je Arbeitnehmerstunde
72,5**

75,4
  
Bruttoanlageinvestitionen
je Einwohner
69

76

Kapitalstock je Erwerbstätigen
45
85
Kapitalstock je Einwohner
45
76


Von 1991 bis 2012 sind die Anteile der ostdeutschen Bevölkerung, der Erwerbstätigen, der Arbeitnehmer und auch der Arbeitslosen gesunken. Dabei war der ostdeutsche Anteil an den Arbeitslosen mit 31% immer noch um mehr als 50% höher als der Bevölkerungsanteil. Für die Bewertung der Veränderungen der Arbeits- und Lebensverhältnisse der DDR-Bevölkerung nach der Wiedervereinigung ist es wichtig, dass infolge der im Vergleich zu Westdeutschland höheren Erwerbsquote der Anteil an den Erwerbstätigen in der DDR-Zeit wesentlich über dem Bevölkerungsanteil lag.

Das Verhältnis zwischen den neuen und den alten Ländern hat sich zwar bei allen hier angeführten Indikatoren zugunsten der neuen verbessert; es bestehen aber 2012 noch immer relativ große Abstände von 15 bis 30%.

Interessant ist auch, dass sich einige Relationen zwischen verschiedenen Indikatoren heute im Vergleich zur DDR-Zeit umgekehrt haben. So betrug z.B. beim BIP je Erwerbstätigen das relative Niveau in Ostdeutschland im Vergleich zu Westdeutschland 1989 rund 45%, lag aber beim BIP je Einwohner, das die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit eines Landes umfassender widerspiegelt, infolge der höheren Erwerbsbeteiligung in der DDR um 10% höher (55%). Heute hat sich aufgrund der wesentlich geringeren Erwerbsquote die Relation umgekehrt, der Angleichungsprozess ist bei der Arbeitsproduktivität (BIP je Erwerbstätigen) weiter fortgeschritten als beim BIP je Einwohner. Diese Umkehrung widerspiegelt sowohl die weit höhere Arbeitslosigkeit im Vergleich zu den alten Ländern als auch die gegenüber der DDR-Zeit niedrigere Erwerbsbeteiligung der Frauen.

Im Folgenden wollen wir noch drei Komplexe anführen, die im Jahresbericht 2013 unzureichend beachtet werden: die Rolle des verarbeitenden Gewerbes, die Investitionen und die Entwicklung der Renten.

Das verarbeitende Gewerbe, das den Kern der Industrie umfasst, spielt für die Entwicklung einer innovativen, modernen Volkswirtschaft eine Schlüsselrolle. In der Zeit nach der Einführung der Währungsunion am 1.7.1990 wurde das verarbeitende Gewerbe am stärksten vom Absturz der Wirtschaftsleistung getroffen (1992 - ohne Berlin - nur noch rund 40% der Produktion von 1989). Danach wurden bis 2005 hohe Zuwachsraten verzeichnet. Die absolute Höhe der Bruttowertschöpfung bleibt jedoch bis heute - bei einer stark veränderten Zweig- und Erzeugnisstruktur - noch unter der von 1989. Der Anteil des verarbeitenden Gewerbes an der Bruttowertschöpfung (BWS) betrug 2012 in den neuen Bundesländern (mit Berlin) 17,8% und lag damit noch um ein Viertel unter dem Anteil der alten Bundesländer von 23,5%. Das bleibt ein wesentliches Hemmnis für den Aufholprozess.

Die Investitionen der neuen Länder (ohne Berlin) erreichten bis 1995/96 infolge bedeutender West-Ost-Transfers eine hohe Dynamik. Dies betraf insbesondere die Investitionen in neue Bauten, die in den neuen Ländern je Einwohner das westdeutsche Niveau um mehr als 80% überstiegen. Auch die Investitionen je Einwohnerin neue Ausrüstungen und Anlagen erreichten 1995 das westdeutsche Niveau, übertrafen es sogar ein wenig. Danach gingen diese absoluten Größen zehn Jahre lang zurück und lagen 2012 beträchtlich unter dem westdeutschen Niveau. Die absoluten Größen der Bruttoinvestitionen stiegen in den neuen Ländern (ohne Berlin, Angaben in jeweiligen Preisen) von 64,3 Mrd. Euro im Jahr 1992 um 50% auf 99,1 Mrd. Euro im Jahr 1995 und sanken danach auf unter 70 Mrd. Euro im Jahr 2001 und ähnliche Größen in den Folgejahren. 2010 (das letzte im Bericht ausgewiesene Jahr) lagen sie mit 58,0 Mrd. Euro sogar noch unter dem Stand von 1992. Wenn die gestiegenen Preise für Investitionsgüter berücksichtigt werden, muss von einem noch stärkeren Rückgang der realen Investitionskraft der neuen Länder in der Zeit nach der Jahrtausendwende ausgegangen werden. Der starke Rückgang der realen Investitionen, darunter auch der Investitionen in neue Ausrüstungen und Anlagen, ist wahrscheinlich langfristig der Hauptfaktor für die faktische Stagnation des Konvergenzprozesses und das größte Hemmnis für den notwendigen weiteren ostdeutschen Aufholprozess.

Die Höhe und Entwicklung der Renten gehört zu den wichtigsten Elementen der Lebensverhältnisse. Für deren realistische Beurteilung ist es notwendig, die Höhe aller Alterseinkommen einzubeziehen. Im Bericht wird ein Ost-West-Vergleich vorgenommen, der die durchschnittliche Rentenhöhe auf Grundlage der gesetzlichen Rentenversicherung ausweist und zeigt, dass die Ostrenten im Durchschnitt bisher noch etwas höher sind als die Westrenten. Die gesamten Alterseinkommen aber (unter Berücksichtigung der Pensionen der Beamten und der Betriebsrenten in den alten Ländern) liegen in den alten Ländern bei Ehepaaren und alleinstehenden Männern um rund 20% höher als in den neuen Ländern. Dabei wurden offensichtlich die weit höheren Vermögenseinkommen der Senioren in den alten Bundesländern nicht berücksichtigt. Auch diese Darstellung ist also nicht frei von einer Beschönigung der Probleme. Es fehlt der Hinweis darauf, dass nach wie vor der ostdeutsche Rentenwert unter dem westdeutschen liegt und ein Ausblick darauf, dass die Auswirkungen hoher Zeiten der Arbeitslosigkeit bei den ostdeutschen Neurentnern dazu führen wird, dass auch der Vorsprung der Ostrentner in der durchschnittlichen Rentenhöhe der gesetzlichen Rentenversicherung bald wegschmelzen und sich in eine Abweichung nach unten verwandeln wird.

In einem Bericht zum Stand der Einheit erwarten wir auch Aussagen dazu, wie sich diese im Bewusstsein der Menschen widerspiegelt. Diese Erwartung wird leider nicht erfüllt. Dabei zeigen doch vorliegende Meinungsumfragen des Allensbach Instituts eine sehr unterschiedliche Wertung. So glaubt die westdeutsche Bevölkerung, dass sich die Lebensverhältnisse zwischen Ost und West weitgehend angeglichen hätten. Dies wird jedoch von 78% der Ostdeutschen angezweifelt.

Abschließend wollen wir kurz die Anforderungen an ein tragfähiges Zukunftskonzept für Ostdeutschland skizzieren. Der Solidarpakt II hat sich als ein Eckpfeiler für die Entwicklung der ostdeutschen Bundesländer erwiesen und darf bis zu seinem Auslaufen nach 2019 nicht angetastet werden. Doch bereits jetzt steht die Politik vor der Aufgabe, über mögliche Mechanismen und Instrumente einer Anschlussförderung auch nach 2019 für strukturschwache Regionen in Ost und West nachzudenken. Angestoßen von der Partei DIE LINKE wird mittlerweile in allen politischen Lagern über einen Solidarpakt III diskutiert.

Der sozial-ökologische Umbau als zentrales Zukunftsprojekt darf nicht den üblichen Kapitalverwertungsinteressen unterworfen werden. Die soziale und die ökologische Frage können nur im Interesse der Bevölkerungsmehrheit beantwortet werden, wenn die Antworten demokratisch legitimiert und auf Teilhabe ausgerichtet sind sowie durch lokale bzw. regionale Verankerung breite Akzeptanz finden. Für die Einbettung der Entwicklung der ostdeutschen Wirtschaft und Gesellschaft bedeutet das unter anderem, dass die "Gemeinschaftsaufgabe Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur" als wichtiges Wirtschaftsförderinstrument langfristig politisch abzusichern ist. Sie sollte vorrangig der Förderung von Zukunftsbranchen und Zukunftstechnologien dienen. Dies gilt ebenso für die bestehenden Innovationsprogramme für den ostdeutschen Mittelstand. Das Nahziel lautet, die Innovationsleistungen in Ostdeutschland weiter zu erhöhen, um den gescheiterten Aufbau Ost als Nachbau West aufzugeben und auf einen selbstragenden sozial-ökologischen Entwicklungspfad einzuschwenken.

Außerdem muss endlich der politische Wille aufgebracht werden, die bestehenden sozialen Disparitäten zu beseitigen. Die Angleichung des Rentenwerts Ost an das Westniveau kann bis Ende 2017 erreicht werden. Dabei muss die Hochwertung der ostdeutschen Löhne und Gehälter erhalten bleiben, solange es noch die bestehenden Lohndifferenzen zwischen Ost und West gibt. Die fortgesetzte Spaltung insbesondere am ostdeutschen Arbeitsmarkt muss beendet, der Kahlschlag bei der aktiven Arbeitsmarktpolitik gestoppt werden. Kürzungen in diesen Bereichen stellen insbesondere finanzschwache Kommunen vor unlösbare Aufgaben. DIE LINKE fordert deshalb eine Umkehr in der Arbeitsmarktpolitik, in der das Leitmotiv der "guten Arbeit" sowohl am west- als auch am ostdeutschen Arbeitsmarkt gilt. Die Tarifsysteme müssen funktionieren, Niedriglöhne ausgeschlossen, flächendeckende Mindestlöhne schnellstens eingeführt und die Tarifbindungen der Unternehmen erhöht werden.


Klaus Steinitz ist Mitglied der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften und der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik,
Martin Schirdewan ist Mitglied des Bundesvorstands der Partei DIE LINKE.



Anmerkungen

(1) Gerhard Heske (2005): Bruttoinlandsprodukt, Verbrauch und Erwerbstätigkeit in Ostdeutschland 1970-2000. Neue Ergebnisse einer volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung, Köln. Zentrum für historische Sozialforschung.

(2) Berechnet nach Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik (2010): Deutsche Zweiheit - Oder: Wie viel Unterschied verträgt die Einheit. Bilanz der Vereinigungspolitik, Köln, Tabelle 3, und Bericht zum Stand der deutschen Einheit, S. 8.

(3) Berechnet in den jeweiligen Preisen, d.h. die in der aktuellen Berichtsperiode beziehungsweise zum Berichtszeitpunkt geltenden (Markt-)Preise.

(4) Vgl. hierzu: Ulrich Busch (2013), Fortwährende Zielkorrektur - auch nach 24 Jahren keine Angleichung der Lebensverhältnisse in Ost und West, Das Blättchen, Nr. 22/2013.

*

Quelle:
Sozialismus Heft 1/2014, Seite 36 - 40
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veröffentlicht im Schattenblick zum 8. Mai 2014