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DISKURS/128: Zusammen stark für eine gerechte Arbeitswelt der Zukunft - Das Weißbuch Arbeiten 4.0 (spw)


spw - Ausgabe 6/2016 - Heft 217
Zeitschrift für Sozialistische Politik und Wirtschaft

Debatte: Zusammen stark für eine gerechte Arbeitswelt der Zukunft - Das Weißbuch Arbeiten 4.0

von Thorben Albrecht


Mit der Vorlage eines Entwurfes für das Weißbuch "Arbeiten 4.0" schließt das BMAS einen achtzehnmonatigen Dialogprozess über den Wandel der Arbeitswelt ab, den Bundesministerin Andrea Nahles im April 2015 mit der Vorlage eines Grünbuchs begonnen hatte.

Diese Entwicklungen haben Auswirkungen auf die Organisation von Arbeit und die soziale Sicherung. Berufsbilder und Anforderungen an Qualifizierung werden sich ändern, neue digitale Märkte entstehen und Arbeits- und Datenschutz von Beschäftigten werden vor neue Herausforderungen gestellt. Es entsteht ein Spannungsfeld zwischen betrieblichen Bedarfen, Kundenanforderungen und dem Bedürfnis nach mehr Eigenverantwortung und Arbeit in flexiblen Strukturen einerseits und dem Bedürfnis nach Verlässlichkeit und Sicherheit andererseits.

Das Weißbuch analysiert diese und weitere Entwicklungen und enthält konkrete Vorschläge zur sozialen Ausgestaltung der neuen Arbeitswelt. Ich will hier beispielhaft die Bereiche Wahlarbeitszeit, Arbeitsversicherung und Absicherung von Solo-Selbständigen kurz erläutern.


Selbstbestimmtere Arbeitswelt: Wahlarbeitszeit und befristete Teilzeit

Arbeitszeitpolitik muss auch in der digitalen Arbeitswelt Schutz vor Entgrenzung und Überforderung bieten. Deshalb wäre eine Umstellung von täglicher auf eine nur wöchentliche Höchstarbeitszeit der falsche Weg. Zugleich muss der Instrumentenkasten für mehr Zeitsouveränität ausgebaut werden (Recht auf befristete Teilzeit, mehr Optionen bei Lage der Arbeitszeit und Ort der Arbeit, weiterer Ausbau der Betreuungsinfrastruktur, stärkere Nutzung von Langzeitkonten, flexible Übergänge in den Ruhestand). Schließlich brauchen wir einen Rahmen für ausgehandelte Flexibilitätskompromisse auf tariflicher und betrieblicher Ebene.

Die genannten Ziele könnten mittelfristig in einem neuen Wahlarbeitszeitgesetz verankert werden. Dieses Wahlarbeitszeitgesetz sollte die folgenden Elemente beinhalten:

Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben das Recht, unter bestimmten Voraussetzungen und in einzuhaltenden Fristen die Dauer ihrer Arbeitszeit zu wählen. Sie haben ein Erörterungsrecht in Bezug auf die Lage der Arbeitszeit, und auf den Arbeitsort. Auch Arbeitgeber können selbstverständlich im Falle einer gewünschten Reduzierung der Arbeitszeit die Lage der Arbeitszeit und den Arbeitsort mit den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern erörtern.

Möglich ist eine konditionierte und begrenzte Abweichung von den derzeit bestehenden Regelungen des Arbeitszeitgesetzes hinsichtlich der Tageshöchstarbeitszeit und der Ruhezeit auf Initiative der Beschäftigten oder des Arbeitgebers, wenn folgende Voraussetzungen erfüllt sind:

Ein Tarifvertrag muss diese Öffnung zulassen und in dessen Rahmen muss eine Betriebsvereinbarung über Wahlarbeitszeitkonzepte vorliegen. Hierzu gehören zumindest klare Festlegungen zur Aufzeichnung der Arbeitszeit und die Durchführung von Gefährdungsbeurteilungen. Dem Mehr an Flexibilität müssen in der Umsetzung neue Schutzrechte entgegengestellt werden, z.B. durch verkürzte Ausgleichszeiten. Der Öffnung müssen auch betroffene Arbeitnehmer individuell zustimmen. Eine Öffnung wird auch an die Bereitschaft der Betriebe gebunden, die Auswirkungen im Rahmen eines Experimentierraums zu evaluieren oder evaluieren zu lassen und die Ergebnisse der Bundesregierung zur Verfügung zu stellen.

Die Ergebnisse der betrieblichen Experimentierräume sollten nach zwei Jahren im Hinblick u.a. auf innovative sozialpartnerschaftliche und betriebliche Kompromisse sowie die Auswirkungen hinsichtlich der Arbeitszufriedenheit und des Arbeitsschutzes ausgewertet und durch die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin mit Blick auf die Aspekte der Zeitsouveränität und des Arbeitsschutzes evaluiert werden. In einem nächsten Schritt könnten diese Ergebnisse gegebenenfalls in dauerhafte Regelungen im Wahlarbeitszeit sowie im Arbeitszeitgesetz festgeschrieben werden. Ein Wahlarbeitszeitgesetz könnte so dazu beitragen, Anreize für das Aushandeln innovativer Arbeitszeitarrangements zu schaffen, die den jeweiligen betrieblichen Bedingungen gerecht werden und auf dem Prinzip basieren: "flexibel, aber selbstbestimmt".


Auf die Jobs von morgen vorbereiten: gut qualifiziert durch die Arbeitsversicherung

Einen massenhaften Verlust von Arbeitsplätzen durch Automatisierung wird es den Prognosen des Weißbuches nach nicht geben. Wahrscheinlicher sind ein Wandel der Berufe sowie Verschiebungen zwischen Branchen. Die Umbrüche der Arbeitswelt 4.0 erfordern es, frühzeitig in die Stärkung der Qualifikation und die Verbesserung von Aufstiegsperspektiven zu investieren. Nur damit stellen wir sicher, dass das Angebot an Fachkräften zu der Nachfrage von morgen passen wird. Deshalb muss die Unterstützung präventiv ausgerichtet sein und darf nicht nur bei unmittelbar drohendem Arbeitsplatzverlust greifen.

Dafür brauchen wir eine starke Bundesagentur für Arbeit. Wir haben bereits damit begonnen, Qualifizierungsberatung als Modellprojekt einzuführen. Langfristiges Ziel ist es, die Arbeitslosenversicherung zu einer Arbeitsversicherung weiterzuentwickeln, die auch Leistungen für Beschäftigte anbietet. Ein wichtiges Element ist hierbei das Recht auf eine unabhängige Berufs- und Weiterbildungsberatung; perspektivisch sogar ein Recht auf Weiterbildung, das mit einem persönlichen Erwerbstätigenkonto unterlegt ist.


Selbstständigkeit absichern: Rentenversicherungspflicht für Selbständige

Aufgrund des digitalen Wandels werden neue selbstständige Erwerbsformen zunehmen und die Grenzen zwischen abhängiger Beschäftigung und selbstständiger Arbeit weiter verschwimmen. Wenn Selbständigkeit nur eingesetzt wird, um die Arbeitsbedingungen zu verschlechtern, müssen wir dem einen Riegel vorschieben. Aber wir müssen uns auch um die Alterssicherung der Selbstständigen kümmern. Nur bei einem kleinen Teil besteht eine gesetzliche Altersvorsorgepflicht. Die überwiegende Mehrheit der Selbstständigen, ca. drei Millionen Personen, ist nicht ausreichend für das Alter abgesichert. Um bestehende Schutzlücken zu schließen und die Beanspruchung von Grundsicherungsleistungen infolge ungenügender Altersvorsorge zu vermeiden, sollten Selbstständige grundsätzlich in die gesetzliche Rentenversicherung einbezogen werden. Die Rentenversicherung könnte gerade für jüngere Menschen, die vermutlich mal selbständig und dann wieder abhängig beschäftigt sind, eine sichere Altersversorgung aus einer Hand sicherstellen. Dabei muss gerade in der Gründungsphase oder bei niedrigem Einkommen sichergestellt werden, dass die soziale Sicherung nicht zu einer Überforderung führt und Selbständigkeit damit abgewürgt wird.


Arbeit weiter denken

Die Diskussion über die Arbeitswelt 4.0 wird weitergehen. Neue Trends müssen weiter beobachtet werden, manches muss mit Blick auf die konkreten Auswirkungen ausprobiert werden. Es braucht eine bessere Datengrundlage darüber, wie sich unsere Arbeitswelt in den nächsten Jahren entwickelt.Daher schlägt das BMAS eine neue öffentliche Arbeitsweltberichterstattung unter Beteiligung der Wissenschaft und der Sozialpartner vor.

Als wichtige Voraussetzung für neue Flexibilitätskompromisse sollten weitere Anreize und Instrumente geprüft werden, mit denen Tarifpartnerschaft und Tarifbindung sowie die Gründung von Betriebsräten unterstützt werden kann. Ein entscheidender Aspekt ist es, gute Konzepte in die betriebliche Lebenswirklichkeit zu tragen. Eine neue ressortübergreifende Innovations-, Forschungs- und Transferstrategie "Arbeiten 4.0" ist dafür notwendig. Gemeinsam mit den Sozialpartnern sollten Themen für Experimentierräume abgestimmt werden, die in Branchen und Betrieben umgesetzt und wissenschaftlich begleitet werden. Experimentierräume (oder auch Lernräume) sind der Oberbegriff im Weißbuch für die Erprobung neuer Ansätze, um im digitalen und demografischen Wandel gute Arbeitsbedingungen zu stärken und die Fachkräftebasis zu sichern. Sie sind ein Beitrag zu einem gemeinsamen Lernprozess von Betriebspartnern, Sozialpartnern, Wissenschaft und Politik.


Thorben Albrecht, geboren am 2. Februar 1970 in Lüneburg, ist beamteter Staatssekretär im Bundesministerium für Arbeit und Soziales. Er ist dort u.a. zuständig für die Abteilungen für Grundsatzfragen und Arbeitsmarktpolitik. Er ist dem spw-Zusammenhang seit über 20 Jahren verbunden.

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Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 6/2016, Heft 217, Seite 15-17
mit freundlicher Genehmigung der HerausgeberInnen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 31. Dezember 2016

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