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FINANZEN/102: Finanzkrise? (Archipel)


Archipel Nr. 184 - Zeitung des Europäischen BürgerInnenforums - Juli/August 2010

Finanzkrise?

Von Norbert Trenkle


Norbert Trenkle von der Gruppe "Krisis" schrieb zusammen mit Robert Kurz und Ernst Lohoff im Jahr 1999 das «Manifest gegen die Arbeit». Krisis (Gruppe "Exit" seit 2004) versteht sich als theoretisches Forum zur Reformulierung radikaler Gesellschaftskritik(*).

Der folgende Text ist die Zusammenfassung in sieben Thesen eines Vortrags, den Norbert Trenkle im Juni 2010 in der Schweizer Longo maï-Kooperative anlässlich eines Seminars zum Thema Geld gehalten hat.


Die Ursachen der gegenwärtigen Wirtschaftskrise sind nicht in der Spekulation und der Verschuldung zu suchen. Umgekehrt gilt: Die gewaltige Aufblähung der Finanzmärkte war und ist Ausdruck einer tiefgreifenden Krise von Arbeit und Kapitalverwertung, deren Ausgangspunkt gut 30 Jahre zurückliegt.

Seit dem Crash an den Finanzmärkten im Jahr 2008 ist es zu einer Art Volkssport geworden, «den Spekulanten» und «den Bankern» ihre «Gier» und ihre «Profitsucht» vorzuwerfen. Tatsächlich jedoch ist die Jagd nach immer höheren Profiten das grundlegende Antriebsmotiv der kapitalistischen Produktionsweise insgesamt. Diese funktioniert nach dem Prinzip «aus Geld muss mehr Geld werden» (G - W - G'). Man nennt das Kapitalverwertung. Die Produktion von Waren und die Verausgabung von Arbeitskraft in der Warenproduktion ist nur das Mittel für diesen Zweck. Vom Standpunkt der Kapitalverwertung ist es daher gleichgültig, was produziert wird (z.B. Streubomben oder Nudelsauce), wie es produziert wird (z.B. ständig wachsende Arbeitsverdichtung, Prekarisierung oder Kinderarbeit) und welche Konsequenzen dies hat (z.B. Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen).

Der kapitalistischen Verwertungslogik ist ein grundsätzlicher und unauflöslicher Selbstwiderspruch inhärent. Auf der einen Seite muss immer mehr Arbeitskraft in der Produktion von Waren vernutzt werden, um die Kapitalverwertung in Gang zu halten; denn der Selbstzweck der Vermehrung des Geldes durch Vernutzung von Arbeitskraft ist abstrakt-quantitativ und kennt daher in sich selbst keine logische Grenze. Auf der anderen Seite erzwingt die allgegenwärtige Konkurrenz eine ständige Steigerung der Produktivität durch «Rationalisierung» der Produktion. Und das bedeutet: immer mehr Produkte pro Zeiteinheit herzustellen, also die notwendige Arbeitszeit zu reduzieren und Arbeitskraft «überflüssig» zu machen.

Die grundsätzliche Krisenpotenz, die in diesem Widerspruch angelegt ist, konnte bis in die 1970er Jahre hinein durch eine Beschleunigung des Wachstumstempos immer wieder in die Zukunft verschoben werden. Durch die Ausdehnung der Kapitalverwertung auf die ganze Welt und auf neue Produktionszweige wurde der Bedarf an Arbeitskräften absolut gesteigert und dadurch der Rationalisierungseffekt kompensiert. Die «dritte industrielle Revolution» (auf Grundlage der IT-Technologien) hat diesen Kompensationsmechanismus jedoch außer Kraft gesetzt. Sie führte zu einer massenhaften Verdrängung von Arbeitskräften quer durch alle Bereiche der Produktion. Trotz einer weiteren Ausdehnung des Produktausstoßes und einer Globalisierung der Produktion wurden weltweit immer mehr Menschen für die kapitalistische Verwertung «überflüssig» gemacht. Damit kam ein grundlegender Krisenprozess in Gang, der die Grundlagen der kapitalistischen Produktions- und Lebensweise unaufhaltsam untergräbt.

Wie hängt die Aufblähung der Finanzmärkte damit zusammen? Krise der Kapitalverwertung heißt zunächst, dass Kapital keine ausreichenden Anlagemöglichkeiten mehr in der «Realwirtschaft» findet. In der Folge weicht es an die Finanzmärkte aus und bewirkt dort eine Aufblähung des «fiktiven Kapitals» (Spekulation und Kredit). Genau das ist seit Beginn der 1980er Jahre geschehen. Dieses Ausweichen an die Finanzmärkte stellte nichts anderes als eine Form des Krisenaufschubs dar. Überflüssiges Kapital fand eine neue (wenn auch «fiktive») Anlagemöglichkeit und entging so der drohenden Entwertung. Gleichzeitig schuf die Aufblähung von Kredit und Spekulation, aber auch zusätzliche Kaufkraft, die ihrerseits eine Ausweitung der Produktion induzierte (z.B. Industrialisierungsboom in China).


Größeres Krisenpotential

Der Preis dieses Krisenaufschubs war jedoch die Anhäufung eines immer größeren Krisenpotentials und eine extreme Abhängigkeit von den Finanzmärkten. Die «Akkumulation» von fiktivem Kapital musste immer weiter gehen. Wenn eine Blase platzte, blieb den Regierungen und Zentralbanken gar nichts anderes übrig, als die Banken und Investoren zu retten und massenhaft ungedeckte Liquidität in die Märkte zu pumpen, um eine neue Blase aufzublasen. Es ist deshalb auch eine bloße Selbsttäuschung, wenn nun quer durch alle politischen Lager eine weitgehende Einschränkung der Spekulation gefordert wird. Punktuelle Maßnahmen der Regulation sind vielleicht möglich. Insgesamt aber gilt: Spekulation und Kredit müssen weitergehen, weil das kapitalistische System nur noch auf dieser «Grundlage» funktionieren kann. Es ist daher auch kein Zufall, dass die «Realpolitik» sich genau nach diesem Muster verhalten hat und die Finanzmarktdynamik wieder angekurbelt wurde.

Die aktuelle Krise stellt einen qualitativen Einschnitt dar, denn der Crash konnte nur durch eine massive Aufblähung der Staatsverschuldung aufgefangen werden. Daher schlägt die Krise als jetzt Krise der Staatsfinanzen auf die Gesellschaft zurück («Sparprogramme»). Wenn jetzt aber gesagt wird, es müsse gespart werden, weil «wir über unsere Verhältnisse gelebt» hätten, dann stellt das den Zusammenhang auf den Kopf. Wenn mit immer weniger Arbeit immer mehr stofflicher Reichtum geschaffen werden kann, dann eröffnet das an und für sich die Möglichkeit eines guten Lebens für alle Menschen. Unter kapitalistischen Verhältnissen aber führt es zu einer Einschränkung der Wertproduktion. Daraus und nur daraus folgt der «Sparzwang» für eine Gesellschaft, die von eben dieser Wertproduktion abhängig ist. Die gigantische Verschuldung ist also Ausdruck davon, dass die vom Kapitalismus geschaffenen Produktivpotentiale seine eigene Logik sprengen und dass die kapitalistische Reichtumsproduktion nur noch gewaltsam aufrechterhalten werden kann. Die Gesellschaft muss sich von dieser Form der Reichtumsproduktion befreien, wenn sie nicht zusammen mit ihr in den Abgrund gerissen werden will.

(*) Zeitschriften und Bücher zum Thema Kritik an der Warengesellschaft auf http://www.krisis.org/


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Quelle:
Archipel - Monatszeitung des Europäischen BürgerInnenforums
Nr. 184, Juli/August 2010, S. 3-4
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veröffentlicht im Schattenblick zum 16. November 2010