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INTERNATIONAL/097: Lateinamerika - Gegengift gegen Krise vorhanden, sagt Weltbank-Vertreter (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 20. Juni 2012

Lateinamerika: Ressourcenrückgang, soziale Kluft - Gegengift gegen Krise vorhanden, sagt Weltbank-Vertreter

von Diana Cariboni



Rio de Janeiro, 20. Juni (IPS) - Die natürlichen Ressourcen des wirtschaftlich erblühten lateinamerikanischen Kontinents könnten sich innerhalb einer Generation drastisch verringern. In Verbindung mit der Tatsache, dass in der Region die Kluft zwischen Arm und Reich besonders groß ist, sieht die Zukunft düster aus. Doch nach Ansicht der Weltbank könnte die Katastrophe durch ein inklusives und grünes Wirtschaftswachstum abgewendet werden.

Wie aus einem Bericht der internationalen Finanzorganisation für die UN-Nachhaltigkeitskonferenz 'Rio+20' vom 20. bis 22. Juni hervorgeht, verfügen die lateinamerikanischen Länder über eine Vielzahl von Möglichkeiten, um den Kollaps zu verhindern. Viele Antworten ließen sich aus eigenen Erfahrungen ableiten, so die Weltbank-Publikation 'Grünes und inklusives Wachstum in Lateinamerika und der Karibik'.

"Es existieren ziemlich wirksame Gegenmittel gegen die negativen Seiten des regionalen Wachstumsmodells", meint der Leiter der Weltbankabteilung für nachhaltige Entwicklung in Lateinamerika und der Karibik, Ede Jorge Ijjasz-Vásquez. Der Schwerpunkt müsse auf "praktischen Lösungen" liegen, die Regierungen und die Wirtschaft kurzfristig umsetzen könnten. Schnellbusse, die Produktion sauberer Energie, eine nachhaltige Landwirtschaft und die Bereitschaft, für Dienstleistungen der Natur zu zahlen, seien wirksame Gegengifte.

IPS: Worin unterscheidet sich ein nachhaltiges von einem inklusiven grünen Wachstum?

Ede Jorge Ijjasz-Vásquez: Es geht darum, wie schnell den Worten Taten folgen. Wenn man über nachhaltige Entwicklung spricht, kommt meist die Reaktion: "Ah, ja, es geht um einen Zeitraum von zehn bis 20 Jahren". Das stimmt aber nicht. In Lateinamerika erleben wir seit einem Jahrzehnt ein beschleunigtes Wachstum. Die Entscheidungen der Länder und Menschen wirken sich in einer solchen Situation sowohl kurz- als auch langfristig aus.

Bei einem Wachstum von jährlich vier, fünf, sechs oder sieben Prozent hat die Art und Weise, wie Infrastruktur gebaut wird und Wasserressourcen und Städtewachstum gemanagt werden, unmittelbare Folgen für die nächsten Generationen. Wer eine Straße baut, kann sich keine Fehler leisten. Straßen halten 15 bis 20 Jahre, Kraftwerke 30, 35 oder auch 40 Jahre.

Einem grünen inklusiven Wachstum liegt die Idee zugrunde, die heutigen Entscheidungen eines schnellen und notwendigen Wachstums um eine ökologische und soziale Dimension zu erweitern. Das ist ein Weg, um mittelfristig eine nachhaltige Entwicklung zu gewährleisten.

IPS: Wachstum heißt Bruttoinlandsprodukt (BIP). Wie sehr kann sich das BIP in einer Region, die ihr Wachstum der ungeheuren internationalen Nachfrage nach Rohstoffen verdankt, ansteigen und dabei grün und inklusiv sein?

Ijjasz-Vásquez: Die Produktions- und Konsummuster zeichnen sich gerade in den Entwicklungsländern durch Ineffizienz aus und sind schädlich für die Umwelt. Auf unserem Planeten gibt es nicht genügend Ressourcen, die das Festhalten an solchen Mustern erlauben. Doch haben wir von den entwickelten Ländern gelernt, dass Maßnahmen und Entscheidungen von Einzelpersonen und Haushalten eine unglaubliche Wirkung entfalten können.

Die Lebensstandards in den USA, Europa oder Japan sind sehr hoch, doch der Energiebedarf in Japan beispielsweise ist deutlich geringer als in den USA, weil Japan die Bedeutung von Energieeffizienz erkannt hat.

In vielen US-amerikanischen Bundesstaaten liegt der Wasserbrauch pro Kopf bei 400 bis 500 Litern am Tag, in Europa hingegen bei 100 bis 120 Litern und man kann nicht behaupten, dass die Europäer durstiger sind als die Nordamerikaner.

Die Entwicklungsländer müssen hier vorankommen, daran besteht kein Zweifel. Allerdings gibt es unterschiedliche Wege, um Fortschritte zu erzielen. Die Länder des Südens müssen saubere und effiziente Agrarsektoren entwickeln, die zugleich resistenter gegen Naturkatastrophen sein müssen. Dadurch wären sie nicht nur produktiver, sondern auch auf weniger Agrarfläche angewiesen.

IPS: Auf der Rio+20-Konferenz wird auch die Frage diskutiert, ob es nicht bessere Indikatoren als das BIP gibt, um nationalen Fortschritt zu messen ...

Ijjasz-Vásquez: Wir vertreten in Rio+20 ein Programm, das den Wert der natürlichen Ressourcen misst und somit über das BIP hinausgeht.

Wir führen einige Pilotprogramme in Kolumbien und Costa Rica durch. Etliche Länder wie Brasilien und Mexiko probieren andere Methoden aus. Wir wollen eine Plattform aufbauen, die im besten Fall 50 Ländern und 50 großen Privatunternehmen die Möglichkeit bietet, sich über eine Erweiterung des BIP-Begriffs Gedanken zu machen und auszutauschen.

Viele Studien haben gezeigt, dass sich das BIP vieler Länder durch die Kosten für Umweltschäden um drei bis neun Prozent verringern wird.

IPS: Die Bevölkerung Lateinamerikas lebt einer Studie zufolge zu 81 Prozent in Städten ...

Ijjasz-Vásquez: Die Urbanisierung ist an sich nichts Schlechtes. Ein Teil des Wirtschaftswachstums basiert auf der Effizienz, die sich aus der Verstädterung ergibt. Eine solche Effizienz bringt ein größeres Wachstum im Agrarbereich mit sich, um die Städte zu versorgen. Letztendlich hängt alles davon ab, wie sich die Städte organisieren. Bei geringerer Dichte werden sie weniger effizient sein.

Die mittelgroßen Städte mit einer Million Menschen werden am stärksten wachsen. In diesem Fall lassen sich viele Probleme mit Hilfe einer effizienten Bodennutzung und konzentrierten Transportsystemen lösen, die so geartet sein müssen, dass sich das Wachstum im Umfeld der wichtigsten öffentlichen Transportkorridore abspielt. Eine weitere wichtige Variable ist die Fähigkeit, sich vor Naturkatastrophen zu wappnen.

IPS: Der regionale Energiesektor produziert mit seinen Wasserkraftwerken die geringste Menge an CO2-Emissionen weltweit. Doch wird davon ausgegangen, dass sich die Emissionen bis 2030 fast verachtfachen werden. Wie lässt sich das erklären?

Ijjasz-Vásquez: Das hat mit der Planung und den Entscheidungen zu tun, die Energieproduktion zu steigern. Viele Wasserkraftwerke brauchen Zeit und verursachen manchmal aufgrund fehlender Planung soziale Konflikte.

Es gibt Länder, die den Anteil fossiler Brennstoffe an der Energiegewinnung erhöhen. Es gibt ein enormes Wasserkraftpotenzial, doch besteht die Herausforderung darin, von Anfang an auch die ökologischen und sozialen Variablen im Blick zu haben.

IPS: Wenn es um natürliche Ressourcen und ländliche Dienstleistungen geht, wird Landwirtschaft mit Entwaldung in Verbindung gebracht. Doch beim Abbau von Mineralien und fossilen Brennstoffen schweigt man sich in diesem Zusammenhang aus...

Ijjasz-Vásquez: Wir hoffen, dass wir die zweite Auflage des Berichts vor diesem Hintergrund verbessern können. Wir wollen auf dem Nachhaltigkeitsgipfel mit der Zivilgesellschaft, Unternehmen und Regierungen in einen Dialog treten. Damit ist das letzte Wort jedoch noch nicht gesprochen, schließlich haben wir es mit einem Lernprozess zu tun.

Wir wollen Erfahrungen über Bergbauprojekte zusammentragen, die weniger schlecht abgeschnitten haben. Es geht um eine große Vielfalt politischer Ansätze. Einige sind vom ökologischen und sozialen Standpunkt aus sehr zielorientiert betrachtet. Und es gibt Unternehmen, die sie sehr ernst nehmen. Das ist einer der Punkte, die wir in der zweiten Auflage behandeln werden. (Ende/IPS/kb/2012)


Links:

http://siteresources.worldbank.org/INTLACINSPANISH/Resources/green_growth_es.pdf
http://www.ipsnoticias.net/print.asp?idnews=100997

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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Juni 2012