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INTERNATIONAL/167: Kolumbien - Landesweite Proteste gegen derzeitige Wirtschaftspolitik (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 2. September 2013

Kolumbien: Landesweite Proteste gegen derzeitige Wirtschaftspolitik

von Constanza Vieira und Helda Martínez


Bild: © Helda Martínez/IPS

Die staatliche Gewalt gegen Bauernfamilien hat die Ausweitung der Proteste begünstigt
Bild: © Helda Martínez/IPS

Bogotá, 2. September (IPS) - In Kolumbien sind Bauernproteste in der nordöstlichen Agrarregion Catatumbo, denen sich Lastwagenfahrer, Beschäftigte des Gesundheitssektors und Studierende angeschlossen haben, auf die Städte übergesprungen. Am 29. August mündeten die Demonstrationen in einen Generalstreik, der sich gegen die derzeitige Wirtschaftspolitik richtet.

Ausgeweitet hatten sich die Kundgebungen nach einem Einsatz der Anti-Aufstands-Polizei Esmad mit mindestens zwölf Todesopfern und um die 250 Festnahmen. Aber auch Äußerungen von Staatspräsident Juan Manuel Santos, es gebe keine Bauernproteste, schürten den Volkszorn. Inzwischen haben sich die Behörden darauf verstiegen, die landesweiten Demonstrationen und Straßenblockaden mit den linken FARC-Rebellen in Verbindung zu bringen.

Am 25. August war Húber Ballesteros, Leiter der Nationalen landwirtschaftlichen Einheitsgewerkschaft (FENSUAGRO), festgenommen worden. Er ist einer der zehn Sprecher des landwirtschaftlichen Gesprächsforums MIA, das im Zusammenhang mit einem zweimonatigen Bauernaufstand im Juni und Juli in der infrastrukturschwachen Armutsregion Catatumbo gegründet wurde. Dort forderten die Familien staatliche Hilfen, um vom Koka-Anbau, dem Hauptanbauprodukt, auf andere landwirtschaftlichen Erzeugnisse umsteigen zu können.


Landbevölkerung im Stich gelassen

Die Schwierigkeiten, mit denen die Kleinbauern landesweit zu kämpfen haben, sind durch die Demonstrationen deutlich sichtbar geworden. Das gilt besonders für die zentralen Departements Boyacá und Cundinamarca sowie für das südwestliche Nariño, wo die Produktion von Kartoffeln, Mais, Gemüse und Milch für die Mehrheit der lokalen Bevölkerung die Haupteinnahmequelle ist.

Seit dem 19. August protestieren Kleinbauern gegen die Einfuhr von Billig-Nahrungsmitteln und gegen die hohen Preise für Düngemittel und andere landwirtschaftliche Inputs sowie gegen die hohen Transportkosten infolge der schlechten Straßenverhältnisse. Seit dem 19. August wehren sie sich ferner gegen große Bergbauprojekte und die Freihandelsabkommen mit den USA und der EU, die ohne Rücksprache mit der ländlichen Bevölkerung beschlossen wurden. Umstritten ist zudem die Resolution 970, die Gensaatgut unter den Schutz des geistigen Eigentums stellt und die Wiederaussaat somit unter Strafe stellt.

Die Unzufriedenheit der Landbevölkerung ist nach MIA-Angaben auf das Fehlen einer nachhaltigen Agrarpolitik zurückzuführen. Das Gesprächsforum hatte am 8. August eine Lösung der landwirtschaftlichen Krise, den Zugang zu Agrarland, die Anerkennung des kleinbäuerlichen Landbesitzes, die Mitsprache in der Bergbaupolitik, Garantien für die Ausübung politischer Rechte und soziale Investitionen in die Landwirtschaft und den Straßenbau gefordert.

Am 25. August griff der Streik auch auf die Städte über, nachdem die Kleinbauern Fotos und Videos über den repressiven Esmad-Einsatz gegen unbewaffnete Bauernfamilien einschließlich ältere Menschen und Kinder im Internet verbreitet hatten. Menschenrechtsvertreter, die den Konfliktherd besucht hatten, berichteten von Schüssen auf die Bevölkerung sowie verletzten und misshandelten Demonstranten.

"Ich war gerade dabei, das Essen für meine Kinder zu kochen, als ein Esmad-Polizist einen Tränengaskanister durch das geschlossene Fenster meines Hauses warf. Ich bin gleich zu meinen Kindern gelaufen, um sie zu beschützen", berichtete eine Frau der Menschenrechtsdelegation.

Staatspräsident Santos hat sich inzwischen für den Esmad-Einsatz entschuldigt und einen Dialog angekündigt. Doch die Strategie, mit den einzelnen Regionen oder Sektoren zu verhandeln, ging nicht auf. Stattdessen nahmen die Proteste weiter zu. In einer Mitteilung vom 28. August erklärte Santos, dass die Sicherheitskräfte nach wie vor angewiesen seien, Straßenblockaden aufzulösen. Am gleichen Tag sagte er seine Reise zum Gipfeltreffen der Union südamerikanischer Staaten (UNASUR) in Suriname ab. Am 27. August hatten tausende Indigene in der südwestlichen Provinz Cauca bekannt gegeben, Vorkehrungen zu treffen, um sich den Protesten anzuschließen.


"Tiefgreifender Wandel"

"Der nationale Agrarstreik ist das Ergebnis von langjährigen Problemen und Forderungen", meint der Wirtschaftsprofessor und Mitbegründer der Kolumbianischen Allianz gegen den Freihandel (RECALCA), Héctor León Moncayo. "Die einzige Lösung des Konflikts liegt in einem tiefgreifenden Wandel. Bisher ist ein wirklicher Agrarreformprozess ausgeblieben. Jeder Versuch ist gescheitert."

Der bald 50-jährige Bürgerkrieg sei als ein Vorwand zur Einrichtung einer militärischen und paramilitärischen Herrschaft begonnen worden, sagt Moncayo. "Die ultrarechten Paramilitärs haben die Gewalt gegen die Bauernbevölkerung verstärkt und damit eine Massenvertreibung ausgelöst." Nach Angaben der Menschenrechts- und Vertriebenenorganisation CODHES wurden zwischen 1985 und 2012 um die 5,5 Millionen Menschen vertrieben.

Gleichzeitig haben die Drogenbarone die Konzentration von Landbesitz erhöht. Inwischen gebe es nur wenige Regionen mit einer kleinbäuerlichen Landwirtschaft, berichtet Moncayo. Zeugnisse dieser Entwicklung seien die großen Latifundien, auf denen Zuckerrohr und Ölpalmen angepflanzt werden. Zahlen der Nationalen Vereinigung für Agrotreibstoffe vom Januar zufolge sind 150.000 der insgesamt fünf Millionen Hektar Agrarland mit Zuckerrohr und Ölpalmen bepflanzt.

Die Regierung von César Gaviria (1990-1994) hatte durch die Einführung von Freihandelsabkommen die Liberalisierung der kolumbianischen Wirtschaft vorangetrieben; durch zusätzliche Abkommen jüngeren Datums wurde die Wettbewerbsfähigkeit der kolumbianischen Kleinbauern noch weiter unterminiert.


Freihandelsabkommen unterlaufen Broterwerb

Moncayo zufolge haben die Farmer aufgrund der ausländischen Agrarimporte, die die lokalen Agrarproduktionskosten unterlaufen, die Fähigkeit verloren, vom Verkauf ihrer Erzeugnisse zu leben. "Auch wenn es nicht leicht ist, Freihandelsabkommen zu widerrufen, ist eine nachhaltige Strategie für ländliche Entwicklung möglich und dringend erforderlich." Nach Angaben des UN-Entwicklungsprogramms (UNDP) leben 32 Prozent der 47 Millionen Kolumbianer in ländlichen Gebieten und zwischen neun und elf Millionen Menschen von der Landwirtschaft.

"Wir müssen den Übergang von der traditionellen zur ökologischen Landwirtschaft vollziehen", meint Adriana Chaparro, Professorin an der 'Uniminuto', die ihren Studierenden einen Abschluss in ökologischem Landbau anbietet. "Die grüne Landwirtschaft erzielt die besten Erträge, ohne die Umwelt zu zerstören", sagte sie. "Die durchaus berechtigten Bauernproteste sind eine gute Gelegenheit, unsere bisherigen landwirtschaftlichen Praktiken unter die Lupe zu nehmen." (Ende/IPS/kb/2013)


Links:

http://fensuagro.org/
http://www.recalca.org.co/
http://www.ipsnews.net/2013/08/nationwide-protests-rage-against-colombias-economic-policies/
http://www.ipsnoticias.net/2013/08/colombia-en-pie-de-lucha-contra-rumbo-economico/

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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 2. September 2013
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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. September 2013