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INTERNATIONAL/264: Indien - Fliegende Händler warten verzweifelt auf Regulierung des Straßenverkaufs (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 10. Juni 2015

Indien: Fliegende Händler warten verzweifelt auf Regulierung des Straßenverkaufs

von Neeta Lal


Bild: © Neeta Lal/IPS

Indien gibt es schätzungsweise zehn Millionen fliegende Händler
Bild: © Neeta Lal/IPS

NEU-DELHI (IPS) - Seit neun Jahren steht Jignesh jeden Tag zwölf Stunden lang am Rande der Janpath, einer großen Durchgangsstraße in Neu-Delhi, um Betttücher zu verkaufen. Der 27-Jährige aus dem westindischen Bundesstaat Gujarat hatte gehofft, in der Hauptstadt mehr Geld als zu Hause zu verdienen. Doch Polizisten und Mafiabanden knöpfen ihm einen Teil seiner Einnahmen von täglich umgerechnet fünf US-Dollar ab.

Verweigert der Familienvater die wöchentliche Schmiergeldzahlung von einem Dollar, riskiert er Prügel oder die Beschlagnahmung seiner Waren. "Ich kämpfe jeden Tag ums Überleben", sagt er und krempelt die Ärmel seines Hemdes hoch, um die blauen Flecken zu zeigen, die er sich kürzlich bei einer Auseinandersetzung mit der Polizei zugezogen hat. "Manchmal möchte ich alles hinschmeißen und wieder Bauer werden", meint er.

In Indien gilt seit dem vergangenen Jahr ein bahnbrechendes Gesetz zur Regelung des Straßenverkaufs, doch nur wenige Kommunen halten sich daran. Das Gesetz verpflichtet die Behörden dazu, den fliegenden Händlern Standorte zuzuweisen, an denen sie ihrem Gewerbe nachgehen können. Doch die mehr als zehn Millionen Straßenverkäufer in Indien leben nach wie vor in unsicheren Verhältnissen. Viele von ihnen stammen aus den ländlichen Regionen im Landesinneren, wo die Landwirtschaft immer weniger Kleinbauern die Existenz sichern kann.

Vor Inkrafttreten des Gesetzes arbeiteten die Händler illegal und machten sich dadurch erpressbar. Sie wurden schikaniert, misshandelt, mit hohen Bußgeldern belegt und mussten jederzeit damit rechnen, verjagt zu werden. Angesichts der verbreiteten Armut erhob jedoch der Oberste Gerichtshof Indiens im Jahr 2010 den Straßenhandel zu einem Grundrecht.

Das Gesetz schreibt die Einrichtung kommunaler Ausschüsse vor, in denen Straßenhändler, zivilgesellschaftliche Gruppen, die Verkehrspolizei und Bedienstete der Stadtverwaltung vertreten sein sollen. Verkäufer müssen registriert, mit Ausweispapieren ausgestattet und sozialversichert werden. Um die fliegenden Händler vor gewissenlosen Wucherern zu schützen, sollen sie dem Gesetz zufolge Zugang zu Bankdarlehen erhalten.


Straßenverkäufer sind vielen ein Dorn im Auge

Doch nichts davon ist bisher geschehen. Experten vermuten, dass es nicht im Interesse der politischen Parteien und lokalen Polizisten liegt, dass die Händler einen Weg aus der Armut finden. "Trotz des Gesetzes werden sie immer noch als öffentliches Ärgernis betrachtet. Sie werden beschuldigt, Fußgängern im Weg zu stehen und Verkehrsstaus zu verursachen. Anwohner werfen ihnen zudem Verbindungen zu kriminellen Banden vor", sagt Anurag Shankar, Projektmanager bei der Nationalen Vereinigung der indischen Straßenhändler (NASVI), einem 2004 gegründeten Bündnis von 762 Organisationen.

Laut Shankar legen Behörden und Wohnungsgesellschaften den Händlern viele Steine in den Weg, etwa bei der Beantragung von Lizenzen sowie bei der Sicherung ihrer Einkünfte und Standorte.

Sharit Bhowmik vom Zentrum für Arbeitsstudien am Tata-Institut für soziale Studien in Mumbai kritisiert, dass das neue Gesetz den lokalen Behörden zu viel Ermessensspielraum lässt. "Aufgrund der föderalen Struktur der indischen Regierung müssen die einzelnen Bundesstaaten ihre eigenen Strategien entwerfen und die Stadtbehörden eigene Regelungen einführen", erklärt der Experte, der mehrere Untersuchungen über die Lage der indischen Straßenhändler verfasst hat.

Zudem sähen die für indische Städte entworfenen Masterpläne kaum Platz für die Stände der fliegenden Händler vor. Die Planer folgten dem Vorbild des Westens und gäben wohlhabenden Verkäufern und großen Unternehmen den Vorrang, sagt er. "Damit wird die indische Tradition des Straßenhandels ignoriert."

Eine von Bhowmik durchgeführte Studie über die Situation der Straßenhändler in mehr als 15 Städte kam zu dem Ergebnis, dass sich etwa 65 Prozent der Verkäufer bei Wucherern Geld zu Zinssätzen zwischen 120 und 400 Prozent borgen müssen. Diese Geldhaie halten die Händler in ständiger Verschuldung. Von ihren Einkünften bleiben oft nur 20 bis 30 Prozent übrig.

Im April fanden in den Städten Surat, Neu-Delhi und Mangaluru Proteste gegen die Nichtbeachtung des neuen Gesetzes statt. Die aufgebrachten Demonstranten forderten die Regierung auf, das Problem umgehend zu beheben. Vertreter der Straßenverkäufer hielten den Stadtverwaltungen vor, einen Kotau vor Autoritätspersonen zu machen und die Interessen der kleinen Händler zu vernachlässigen.

"Die Händler werden ständig vertrieben, ohne dass ihnen ein alternativer Arbeitsplatz zugeteilt wird", berichtet Sunil Kumar Bajal, Ehrenpräsident des Zentrums indischer Gewerkschaftsverbände. "Sie werden körperlich attackiert und ihre Waren vernichtet. Korrupte Beamte geben ihnen beschlagnahmte Güter häufig nicht zurück. Wir wollen erreichen, dass die Regierung ihre Verpflichtungen einhält."


Bild: © Neeta Lal/IPS

Straßenverkäufer in Indien werden von Polizei, städtischen Behörden und Kriminellen angegangen
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Die Händler, die sich den ganzen Tag über an verkehrsreichen Straßen aufhalten, sind zudem anfällig für gesundheitliche Beschwerden wie chronische Migräne und Bluthochdruck, die mit der Luftverschmutzung in Verbindung gebracht werden. "Der Mangel an Toiletten gefährdet zudem die Gesundheit der Straßenverkäuferinnen. Viele von ihnen leiden an Harnwegsinfektionen und Nierenschmerzen. Viele sehen sich hohen Sicherheitsrisiken ausgesetzt", erklärt Bhowmik.

Die Internationale Arbeitsorganisation ILO fordert, dass Straßenhändler ein integraler Bestandteil der urbanen Wirtschaftsmodelle werden müssen, da sie eine breite Palette an Waren und Dienstleistungen anbieten. "Ihre Kunden sind die breite Masse der Konsumenten, die nicht viel Geld ausgeben können."


Zunehmende Verstädterung

Bereits jetzt gibt es in Indien mehr fliegende Händler als in irgendeinem anderen Land der Welt. Da in den nächsten Jahrzehnten immer mehr Menschen aus ländlichen Gebieten in die Städte ziehen werden, dürfte die Zahl der Straßenverkäufer noch erheblich steigen.

Laut Schätzungen der UN-Abteilung für Wirtschaft und Soziales (UNDESA) wird die Zahl der in Städten lebenden Menschen bis zum Jahr 2050 von derzeit 3,9 Milliarden auf 6,4 Milliarden steigen. Indien, China und Nigeria werden demnach zusammen einen Anteil von 90 Prozent an diesem Wachstum haben. In Neu-Delhi allein lebt schon jetzt mehr als die Hälfte aller Einwohner in Elendssiedlungen. (Ende/IPS/ck/10.06.2015)


Link:

http://www.ipsnews.net/2015/06/the-neglected-street-vendors-of-india/

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IPS-Tagesdienst vom 10. Juni 2015
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. Juni 2015

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