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INTERNATIONAL/290: Die Welthandelsorganisation WTO sucht nach ihrer Rolle (FUE Rundbrief)


Forum Umwelt & Entwicklung - Rundbrief 4/2015

Gute Stadt - Böse Stadt
Landromantik vs. Stadt für alle

Mit zwanzig in der Midlife Crisis
Die Welthandelsorganisation WTO sucht nach ihrer Rolle

von Tobias Reichert


Der zwanzigste Geburtstag der WTO, der mit der zehnten Ministerkonferenz in der kenianischen Hauptstadt Nairobi endet, bietet wenig Anlass zum Feiern. Um das bislang wichtigste Projekt der WTO, die Doha-Runde (auch Doha Development Agenda) wird so heftig gestritten wie, wie selten zuvor. Erstmals wird gefordert, das Scheitern der Verhandlungen offiziell festzustellen und die Doha-Runde praktisch ergebnislos abzubrechen. Und das ausgerechnet von den Mitgliedsstaaten, die Mandat und Verhandlungsbeginn geprägt und durchgesetzt haben: USA, EU und Japan. Eine große Mehrheit der Entwicklungsländer will dagegen die Doha-Runde fortsetzen, um vor allem ihren entwicklungspolitischen Anspruch einzulösen.


Diese Konfliktlinien sind zumindest mit Blick auf die Entstehungsgeschichte der Doha-Runde überraschend. Nachdem der Versuch der führenden Industriestaaten (USA, EU, Japan und Kanada) 1999 in Seattle eine "Millennium-Runde" zur weiteren umfassenden Liberalisierung zu starten gescheitert war, wurde das Projekt zur WTO-Konferenz 2001 in Doha in "Entwicklungsrunde" umbenannt. Die neue Präambel des Verhandlungsmandats verspricht, die Bedürfnisse und Interessen der Entwicklungsländer ins Zentrum zu stellen, aber die eigentlichen Themen und Ziele wurden weitgehend aus dem Millenniumsrundenvorschlag übernommen. Insbesondere sollten die Kompetenzen der WTO auf Investitionen, Wettbewerbsrecht, öffentliche Beschaffung und Trade Facilitation erweitert werden. Die Mehrheit der Entwicklungsländer lehnte das bereits in Doha ab, konnte aber vor allem durch den Appell an den internationalen Zusammenhalt nach den damals gerade erst zwei Monate zurückliegenden Anschlägen auf das World Trade Center in New York und einigen Formelkompromissen dazu bewegt werden, zuzustimmen.

Schon bei der Ministerkonferenz im mexikanischen Cancun zwei Jahre später wandten sich die nun besser organisierten und durch den Beitritt Chinas entscheidend gestärkten Entwicklungsländer erneut gegen Verhandlungen zu den neuen Themen, was zunächst zum Scheitern der Konferenz führte. Im Anschluss wurde das Verhandlungsmandat angepasst und nur Trade Facilitation als neues Thema beibehalten. In den folgenden Verhandlungen koordinierten sich Schwellen- und Entwicklungsländer und vertreten gemeinsame Positionen. Sie gewannen so mehr Einfluss auf die Verhandlungen, ohne das grundsätzlich auf Liberalisierung abzielende übrige Doha-Mandat grundlegend verändern zu können oder - teils auch - zu wollen. Stattdessen streben sie im Rahmen eines allgemeinen Zoll- und Subventionsabbaus, der die meisten Sektoren und Produkte betreffen würde, zusätzliche Flexibilitäten an. So bieten sie an, die Obergrenzen der Zölle für Landwirtschafts- und Industriegüter deutlich zu senken, wollen aber im Gegenzug für einige für Ernährungssicherheit und den Lebensunterhalt von KleinbäuerInnen wichtige Produkte bessere Schutz- und Unterstützungsmöglichkeiten schaffen. Industriestaaten sollen dagegen ihre Zölle deutlich stärker abbauen und den als "handelsverzerrend" definierten Teil der Agrarsubventionen drastisch reduzieren.

Diese Verhandlungslinien wurden in den Beschlüssen der WTO-Konferenz in Hongkong 2005 weitgehend übernommen und bilden seither die Grundlage aller Textentwürfe für ein Abkommen zum Abschluss der Doha-Runde. Die Mehrheit der Entwicklungsländer sah daher die Möglichkeit, entwicklungspolitisch nötige Anpassungen der WTO-Abkommen gegen aus ihrer Sicht vertretbare Zugeständnisse bei der weiteren Liberalisierung zu erreichen. 2008 wäre der Abschluss der Runde fast gelungen, scheiterte aber an der Weigerung der USA, ihre Agrarsubventionen so stark wie gefordert zu senken, und gleichzeitig zu akzeptieren, dass Entwicklungsländer bestimmte Agrarprodukte besser schützen könnten.


Aufwind aus Bali verpufft rasch

Diesem Scheitern folgte eine jahrelange Blockade der Verhandlungen. Erst die neunte Ministerkonferenz 2013 in Bali brachte wieder etwas Bewegung. Dort wurde keine Einigung auf alle umstrittenen Themen versucht, sondern nur auf Aspekte, die relativ konsensfähig waren. Ergebnisse waren ein neues Abkommen zu Trade Facilitation und eine Übergangslösung für die Regelung von internen Nahrungsmittelhilfeprogrammen in Entwicklungsländern, die es vor allem Indien erlaubt, bestehende Ausgabengrenzen zu überschreiten, um ein neues Programm einführen zu können.

Zugleich wurde beschlossen, einen Fahrplan für die weiteren Verhandlungen und letztlich den Abschluss der Doha-Runde zu entwickeln, der dann in Nairobi beschlossen werden sollte. Bis dahin sollten auch die Regeln für inländische Nahrungsmittelhilfeprogramme so geändert werden, dass diese in allen Entwicklungsländern leichter ausgebaut werden könnten.

An beidem sind die WTO-Mitglieder gescheitert. Entscheidender Konfliktpunkt war, ob die Verhandlungen auf Basis des 2008 erreichten Stands fortgesetzt werden sollten. Immerhin hatte es damals eine Einigung fast aller Länder, insbesondere auch der Entwicklungsländer, gegeben, deren Anliegen und Interessen laut Doha-Mandat im Zentrum der Verhandlungen stehen sollten. Die USA forderten dagegen zunächst eine "Rekalibrierung" der Verhandlungen - Agrarsubventionen und Zölle sollten weniger stark und nicht mehr nach einer allgemeinen Formel reduziert werden. Forderungen und Angebote der einzelnen Mitgliedsstaaten sollten stattdessen die Grundlage für neue Verpflichtungen bilden. Hintergrund ist das erst 2014 beschlossene US- Landwirtschaftsgesetz, mit dem die in der WTO unbegrenzt zulässigen produktionsunabhängigen Direktzahlungen abgeschafft und stattdessen Programme zum Ausgleich von Preisschwankungen und Einkommenseinbußen ausgeweitet werden. Damit schöpfen die USA die in der WTO geltende Obergrenze für handelsverzerrende Subventionen voll aus. Ein Abschluss der Doha-Runde auf Grundlage des Verhandlungsstands von 2008 würde diese Obergrenze deutlich senken, und die USA folglich zwingen, ihr Landwirtschaftsgesetz wieder zu ändern. Dagegen wären weder die EU noch die meisten Entwicklungs- und Schwellenländer zu großen Anpassungen gezwungen, da Zölle und Subventionen deutlich unter den derzeit geltenden Obergrenzen liegen. Die Klage der USA, dass der bisherige Verhandlungsstand sie einseitig benachteilige, ist also nicht gerechtfertigt. Schon gar nicht in einer Verhandlungsrunde, die den Anspruch einer "Entwicklungsagenda" erhebt. Da sollte es einen großen Unterschied machen, ob wie in Indien und China einige hundert Millionen KleinbäuerInnen unterstützt werden, die darum kämpfen, die Armut zu überwinden, oder wie in den USA Subventionen an zwei Millionen Farmer mit einer durchschnittlichen Betriebsgröße von 175 ha ausgezahlt werden.

Nachdem klar geworden ist, dass die Schwellen- und Entwicklungsländer die "Rekalibrierung" nicht akzeptieren, fordern die USA mit Unterstützung der EU und Japans nun, die Doha-Runde insgesamt zu beenden. Die EU versucht dies mit Unterstützung Brasiliens und anderer noch durch ein gesichtswahrendes Mini-Paket aufzuhübschen, das neben wohlklingenden, aber letztlich unverbindlichen Zusagen für die ärmsten Entwicklungsländer (LDC), auch das endgültige Verbot von Exportsubventionen für Agrargüter enthalten würde. Das fällt ihr relativ leicht, da sie seit einigen Jahren keine Exportsubventionen mehr gewährt und ihr wichtigstes Instrument zur Unterstützung der Landwirte - die flächengebundenen Direktzahlungen unberührt blieben.


SDGs ignoriert

Dass die großen Industriestaaten nun so offen auf das Ende der Doha- Runde setzen, widerspricht diametral ihren erst im September gefassten Beschlüssen zu den Zielen für nachhaltige Entwicklung (SDG). Dort wird in Ziel 17 zu den Mitteln der Umsetzung und der Globalen Partnerschaft gefordert, ein regelbasiertes multilaterales Handelssystem unter anderem durch Abschluss der Verhandlungen der Doha-Entwicklungsagenda voranzubringen. Man mag den tatsächlichen Beitrag der Doha-Runde zu den SDG bewerten, wie man will. Dass EU, Japan und die USA nach gerade einmal acht Wochen ohne weitere Erklärung das Gegenteil dessen fordern, was sie in New York beschlossen haben, wirft kein gutes Licht auf die interne Kohärenz und den Stellenwert der SDG für ihre Politikgestaltung insgesamt.

Da die Entwicklungsländer einmütig fordern, die Doha-Runde fortzusetzen, bieten die Industriestaaten nun in einer neuen Wendung an, auch nach Nairobi weiter zu verhandeln. Allerdings nur unter der Bedingung, dass die großen Entwicklungsländer auf das Prinzip der "besonderen und bevorzugten" Behandlung verzichten - also Zölle- und Subventionen genauso schnell abbauen wie die Industriestaaten. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie dies, oder das Ende der Doha-Runde in Nairobi wirklich durchsetzen können ist gering. Die Frage ist vor allem, ob es gelingt, einen Formelkompromiss zu finden oder ob die WTO ihre Liste von gescheiterten Ministerkonferenzen fortführt.


Der Autor ist Teamleiter für Welternährung, Landnutzung und Handel bei Germanwatch.

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Quelle:
Forum Umwelt & Entwicklung - Rundbrief 4/2015, Seite 26-27
Herausgeber: Projektstelle Umwelt & Entwicklung
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. Februar 2016

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