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KONFERENZ/181: Rechte, Regeln, Fortschrittsgleis (Rolf Geffken)


Arbeitskonflikte & Harmonie

Internationale Konferenz über die Transformation kollektiver Arbeitsbeziehungen und die Lösung kollektiver Arbeitskonflikte, Beijing vom 14. bis 15.12.2013

von Dr. Rolf Geffken, Dezember 2013



Noch während Mitte Dezember die chinesischen Medien über Ausgabenkürzungen der öffentlichen Haushalte, eine Reduzierung der Kreditaufnahme und eine Erhöhung des Renteneintrittsalters berichteten, ging in Beijing eine hochrangige Wirtschaftskonferenz [1] zu Ende, die der Umsetzung der Beschlüsse des 3. Plenums des 18. Zentralkomitees der KP Chinas diente. Offensichtlich steht die Wirtschaft Chinas an einem Scheideweg. Der Pfad des jahrelangen Wachstums scheint einer möglichen Stagnation zu weichen. Schon fordern chinesische Wirtschaftsexperten eine verstärkte "Erhöhung der Produktivität" anstelle von anhaltendem Wirtschaftswachstum und einer anhaltenden Steigerung der Staatsausgaben [2].

© 2013 by Rolf Geffken

Der Autor mit den Veranstaltern Chang Kai, Feng Xilian und Jin Wang.
© 2013 by Rolf Geffken

In der Sprache des Kapitals bedeutet die Erhöhung von Produktivität vor allem: die Reduzierung von Kosten bei gleichzeitiger Erhöhung des Produktionsergebnisses. Technische Innovation ist dabei nur ein Stichwort. Aktuelle Umfragen etwa unter deutschen Konsumenten zeigen das Qualitätsdefizit chinesischer Produkte auf dem Weltmarkt auf. Zweifellos wird die jetzt bevorstehende Qualitätsoffensive in China auch und gerade auf die Reduzierung der Arbeitskosten abzielen. Weniger qualifizierte Arbeitskräfte werden entlassen werden. Die bisherige Welle von Lohnerhöhungen dürfte einstweilen gestoppt werden. Ob dies auf Gegenliebe bei der arbeitenden Bevölkerung Chinas stößt, ist allerdings fraglich. Im Gegenteil: Eine Verschärfung der sozialen Konflikte, in Sonderheit der Arbeitskonflikte, erscheint vorprogrammiert.

Es war deshalb sicher mehr als Zufall, dass im Anschluss an die hochrangige Wirtschaftskonferenz in Beijing unter internationaler Beteiligung eine wissenschaftliche Konferenz zur "Transformation der kollektiven Arbeitsbeziehungen" Chinas stattfand. Etwa 120 Teilnehmer, darunter 53 Referenten aus 11 Ländern, diskutierten in bislang nicht dagewesener Breite und Intensität zu Gegenwart und Zukunft der chinesischen Arbeitsbeziehungen.

Eingeladen hatten der weltweit bekannte Arbeitswissenschafter Prof. Chang Kai von der Renmin University und der Arbeitsökonom Prof. Feng Xi Liang von der Capital University Beijing. Im Zentrum der Referate und Debatten stand die Frage, inwieweit die immer mehr zunehmenden spontanen Arbeitskonflikte zu einer stabileren gewerkschaftlichen Orientierung oder aber zu einer Transformation der chinesischen Gewerkschaft selbst führen. Dabei war das gesamte akademische und politische Spektrum der Sozial-, Rechts- und Wirtschaftswissenschaften Chinas im Bereich "Arbeit" vertreten. Darunter waren auch solche Repräsentanten, die unter "Transformation" im Sinne der Beschlüsse des Zentralkomitees offenbar nur noch die Transformation der "sozialistischen Marktwirtschaft" in die  r e i n e  Marktwirtschaft verstehen. So verlangte der Präsident der chinesischen Gesellschaft für Wirtschaftsreformen Prof. Song Xiaowei, dass auch in den Arbeitsbeziehungen künftig der Markt eine (noch?) zentralere Rolle spielen müsse. Die Vertreterin der Parteischule der Provinz Shandong, Frau Tan Hong, vertrag die These, dass die Arbeiter tatsächlich zu einem großen Teil dieselben Interessen wie die Unternehmer hätten. Eine offenbar sehr verkürzte Interpretation des Begriffes der "harmonischen Arbeitsbeziehungen", auf die sich die große Mehrzahl der Konferenzteilnehmer wiederholt bezog. Allerdings geschah dies auf unterschiedliche Weise. So stellte Lian Yan Ling eine Studie über die Lösung von Arbeitskonflikten auf der Basis einer "Theorie der Wiederherstellung von Vertrauen (!)" vor. Unwillkürlich musste dabei der deutsche Betrachter der Debatte an die vielen Theorien des "Vertrauens" im Rahmen der deutschen Arbeitsrechtsprechung zum Vertrauensverlust des Arbeitgebers bei Verdachtskündigungen denken...

Tatsächlich nahm an der Konferenz erstmals auch der Vizedirektor der Arbeitgeberabteilung des chinesischen Unternehmerverbandes Cheng Dousheng teil. Er stellte in den Mittelpunkt seines Referats die Notwendigkeit der Durchsetzung des Ziels "harmonischer Arbeitsbeziehungen", wobei er interessanter Weise auch den Gedanken einer größeren - auch "negativen" - Organisationsfreiheit der Arbeiter ins Spiel brachte.

Doch gab es auch eine ganz andere Sicht "harmonischer Arbeitsbeziehungen", die auf der Konferenz vertreten wurde. Nämlich nicht diejenige eines angeblichen Zustands sondern eines Ziels, das nur durch die Anerkennung der Arbeiter als gleichberechtigte Verhandlungspartner erreicht werden könne. Wie auch bei früheren Anlässen erwies sich hier der eine der beiden Gastgeber, nämlich Prof. Chang Kai, als besonders vehementer Vertreter einer Anerkennung der Koalitionsfreiheit. Es plädierte vor allem für jegliche Art von Zurückhaltung staatlicher Organe, vor allem der Polizei, bei Arbeitskonflikten. Erfahrungsgemäß sei durch Polizeieinsätze eine "Politisierung" von Arbeitskonflikten erfolgt, die gleichzeitig zu einer Destabilisierung von Arbeitsbeziehungen und zu einer Verschlechterung von Arbeitsbedingungen führen würden. Die Regierungen aller Ebenen sollten demgegenüber bei Arbeitskämpfen eine "neutrale Position" einnehmen.

Eine ähnliche Position vertrat der ehemalige Gewerkschaftsführer von Chinas Süden, Chen Weiguang ("Shairman Chen"), inzwischen Generalsekretär der KP in Guangzhou, der über die regionale Gesetzgebung zur Schlichtung von Arbeitskonflikten ebenso berichtete wie über zahlreiche spontane Streiks, denen sich der Gewerkschaftsdachverband in Guangdong angenommen habe.

© 2013 by Rolf Geffken

Der Autor neben dem ehemaligen Gewerkschaftsführer von Guangdong Chen Weiguang.
© 2013 by Rolf Geffken

Prof. He Yuanzhang berichtete über die Arbeits- und Sozialpolitik lokaler Regierungen und deren Einflussnahme auf Arbeitsbeziehungen in Guangdong. In einem eindrucksvollen Video zeigte er den Polizeieinsatz anlässlich eines Streiks in einem Krankenhaus und die Verhaftung von 80 Streikteilnehmern. Er beschrieb aber auch die zum Teil militante Solidarität unter den Streikenden.

Obwohl nur einer von vielen Streiks tauchte in vielen Berichten und Analysen immer wieder der Streik bei Nanhai Honda auf. Prof. Chang Kai, der den Streik im Auftrag der Streikenden und (!) der Gewerkschaft mit einer erfolgreichen Verhandlungsstrategie abschloss [3], wies in der Diskussion allerdings daraufhin, dass dieser Streik nicht verallgemeinert werden könne und dürfe. Zwar habe der Streik bei Honda vielen Arbeitern im Nachhinein als Vorbild und Inspiration gedient, doch hätten zum Teil sehr besondere Umstände dessen Erfolg verursacht. Diese Umstände seien in den meisten anderen Fällen jedoch nicht anzutreffen. Richtig sei allerdings, dass auch und gerade der spontane Streik als Teil der Gewerkschaftsbewegung endlich anerkannt werden müsse.

Eigentlich mehr zufällig als beabsichtigt offenbarten andere Referate und Diskussionsbeiträge, einen eher ernüchternden Zustand der gegenwärtigen Streikbewegung: So sehr diese weiter anhält, so wenig hat sie landesweit zu einer grundlegenden Veränderung des gewerkschaftlichen Dachverbandes ACFTU beitragen. Zwar sind aus zahlreichen Streiks Basisgewerkschaften hervorgegangen, die dem ACFTU angehören oder aber selbständig agieren, doch werden die erzielten Kollektivvereinbarungen entweder vom Arbeitgeber unterlaufen oder aber sie bewegen sich zu meist auf dem Niveau ohnehin vorhandener gesetzlicher Regelungen. Tarifverträge in China sind noch weit davon entfernt, zum Motor der Entwicklung des Arbeitsrechts zu werden. Als unbefriedigend wurde von den meisten Referenten auch die oft lange Laufzeit einmal getroffener Vereinbarungen angesehen.

Ein neuer Aspekt der chinesischen Gewerkschaften sind die immer weiter um sich greifenden demokratischen Wahlen auf betrieblicher Ebene. Anita Chan aus Australien war der Meinung, dass eine solche demokratische Legitimation wichtige Vorbedingung für Kollektivverhandlungen mit dem Arbeitgeber sei. Auf die Frage des deutschen Konferenzteilnehmers Rolf Geffken, ob die dortigen Untersuchungen auch Auskunft über nachweisbare Folgen solcher Wahlen im Rahmen von Verhandlungsergebnissen geben würden, konnte sie jedoch keine Auskunft erteilen. Rolf Geffken selbst griff in seinem Referat das Thema "demokratische Legitimation" durch einen Vergleich der Institutionen des Betriebsrats und der Gewerkschaften im deutschen Arbeitsrechtssystem auf. Er kam zu dem Ergebnis, dass die Übernahme des Modells "Betriebsrat" den Chinesen allenfalls dann zu empfehlen sei, wenn sichergestellt werde, dass der Handlungsrahmen von Gewerkschaften nicht durch die Friedenspflicht von Betriebsräten und deren Beteiligungsrechte eingeschränkt werde.

Ein eher trauriges Bild von Arbeitsbeziehungen zeichneten die Vertreter Taiwans. Zwar hätten nach langen Auseinandersetzungen die Gesetze zum kollektiven Arbeitsrecht 2011 einen Rechtsfortschritt gebracht, doch seien von Streikaktionen immer noch ganze Beschäftigtengruppen ausgeschlossen. Außerdem begegne die Ausübung des Streikrechts einer Vielzahl von Hindernissen, so dass die Gewerkschaften trotz hohen Organisationsgrads immer noch keine entscheidende Rolle bei der Verbesserung von Arbeitsbedingungen spielten. Die Frage des Verfassers, ob und in welchem Umfang Taiwan spontane Streiks kenne, blieb seitens des Referenten zunächst unbeantwortet, wurde dann aber am Rande der Konferenz von Prof. Lin Jiahe aus Taipei dahingehend beantwortet, dass solche Streiks regelmäßig mit dem ganzen zur Verfügung stehenden Sanktionsprogramm beantwortet würden: Entlassung, strafrechtliche Verfolgung, Polizeieinsatz.

Die Frage war vom Verfasser nicht ohne Grund gestellt worden: Die chinesische Praxis, Streiks oft zu dulden oder aber nur eingeschränkt zu sanktionieren, verdient durchaus Anerkennung. Sie steht im Gegensatz zur Verfolgung spontaner Streiks in den meisten westlichen Staaten, die sich andererseits der Einhaltung von Grundrechten rühmen. Auch bei einem Vergleich der Gewerkschaftssysteme und der Streikpraxis in Russland und China durch Tom Pringle aus London schnitt China keineswegs schlecht ab. Doch kann der Prozess der Transformation der chinesischen Gewerkschaften in eine Organisation zur ausschließlichen Interessenvertretung der Arbeiter noch lange nicht als abgeschlossen angesehen werden. Das machten die Referate und Diskussionsbeiträge deutlich.

Immerhin kam es gegen Ende der Konferenz zu einer gewissen Zuspitzung der Diskussion als einer der Referenten behauptete in Guangdong seien Tarifverträge mit Geltung nur für Gewerkschaftsmitglieder abgeschlossen worden. Als die Veranstaltungsleitung die Debatte dazu abkürzen wollte, griff Chang Kai ein und begründete dies damit, die "Gewerkschaftsfrage" sei  d i e  "zentrale Frage der gesamten Debatte um Arbeitsbeziehungen".

Insgesamt können Inhalt und Verlauf der zum Teil sehr engagierten Debatte als positiv eingeschätzt werden. Das gilt vor allem für die geradezu souveräne Interdisziplinarität der Debatte. Von Soziologen wurden Fragen des Arbeitsrechts ebenso behandelt wie von Juristen Fragen der Sozialgeschichte oder von Historikern auf Themen der Soziologie oder der Arbeitsökonomie und umgekehrt. Während in Deutschland die jeweiligen Fächer nicht nur an Universitäten weiterhin ein eigenes Dasein fristen, sind gemeinsame Konferenzen eher die Ausnahme. Auch und erst recht zu China. Deutsche Rechtssinologen beispielsweise haben allein zu China noch nie gemeinsam Konferenzen mit Soziologen oder Historikern durchgeführt. Umso wertloser sind dann die Ergebnisse der meisten solcher Debatten. Hier konnte ein deutscher Teilnehmer viel lernen.

Die politische Richtung der Debatte allerdings kann der Verfasser nur begrenzt als zufriedenstellend betrachten. Ohne Zweifel scheinen trotz aller wachsender Konfliktbereitschaft chinesischer Arbeiter die neoliberalen Geister in China weder gebannt noch auf dem Rückmarsch zu sein. Im Gegenteil: Auch in dieser Debatte offenbarte sich eine in China immer mehr um sich greifende Pluralität. Das war für hiesige Verhältnisse durchaus vorbildlich. Doch fhina signalisierte dies auch auf akademischer Ebene den quasi ratenweisen Abschied vom "Endziel" Sozialismus.


Anmerkungen

[1] Chen Jia, Chinas growth to hepl markets next year: Survey, in China Daily, Bejing, 17.12.2013, S. 16

[2] Zhao Yinan, Growth requires more emphasis on higher productivity, in China Daily, Beijing 17.12.2013, S. 17

[3] Vgl. Chang Kai, Juristische Analyse der Legalität von Streiks - Fallstudie zum Streik bei Nanhai Honda, in: Streik auch in China? (Hrsg. Geffken), Cadenberge 2011, S. 45 ff.

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Quelle:
© 2013 by Dr. Rolf Geffken
mit freundlicher Genehmigung des Autors
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veröffentlicht im Schattenblick zum 30. Dezember 2013