Informationen zur Deutschen Außenpolitik - 5. September 2023
german-foreign-policy.com
Paradebranche unter Druck
Die Kfz-Branche, Deutschlands wichtigster Industriezweig, gerät in der Elektromobilität gegenüber China in den Rückstand, muss sich auf chinesische Kapazitäten stützen, gerät auf dem Heimatmarkt unter Druck.
MÜNCHEN/BEIJING - Die deutsche Kfz-Industrie steht auf der heute beginnenden Automesse IAA zum ersten Mal nicht als Leitbranche im Zentrum der globalen Aufmerksamkeit. Besonderes Interesse gilt Herstellern von Elektroautos aus China, das von Experten als Führungsland bei der Produktion batteriebetriebener Fahrzeuge eingestuft wird. Die Volksrepublik ist auf der Münchener IAA in diesem Jahr zweitgrößtes Ausstellerland nach der Bundesrepublik. Sie ist im ersten Quartal 2023 dank des rasanten Wachstums ihrer Kfz-Konzerne in der Elektromobilität zum größten Autoexporteur weltweit aufgestiegen - vor Deutschland und Japan. Chinesische Elektroautohersteller dominieren den Inlandsmarkt und beginnen nun den europäischen, insbesondere auch den deutschen Markt zu erobern. Mittlerweile können sich 42 Prozent der potenziellen deutschen Käufer vorstellen, ein Elektrofahrzeug aus der Volksrepublik zu erwerben. Für die Bundesrepublik könnte sich das als folgenreich erweisen: Der Kfz-Sektor ist die mit Abstand bedeutendste Branche der deutschen Industrie. Die deutschen Behörden begleiten die Münchner IAA mit einer Welle harter Repression; Amnesty International wirft ihnen Menschenrechtsverletzungen vor.
Der Kfz-Sektor ist, wie das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) bestätigt, bis heute "die größte Branche des Verarbeitenden Gewerbes" und der nach Umsatz "mit Abstand bedeutendste Industriezweig" in der Bundesrepublik.[1] Der Umsatz konnte zuletzt laut Angaben des Verbandes der Automobilindustrie (VDA) von rund 411 Milliarden Euro im Jahr 2021 auf gut 506 Milliarden Euro im Jahr 2022 gesteigert werden; dabei nahm der Auslandsumsatz (352 Milliarden Euro, plus 29 Prozent) beträchtlich stärker zu als der Inlandsumsatz (154 Milliarden Euro, plus 12 Prozent). Die Zahl der Beschäftigten ging allerdings weiter zurück: Hatte sie 2020 noch bei ungefähr 809.000 gelegen, so erreichte sie 2022 nur noch 774.000. Bemerkenswert ist, dass die Zahl der in Deutschland hergestellten Autos deutlich rückläufig ist; wurden hierzulande im Jahr 2016 noch rund 5,75 Millionen Fahrzeuge produziert, waren es 2022 nur noch knapp 3,5 Millionen. Der Rückgang der Produktion, bedingt zuletzt auch durch die Folgen der Covid-19-Pandemie und den Mangel an Bauteilen wie Halbleitern, ging mit einem Schwächeln des EU-Markts einher, der für die deutsche Kfz-Branche der mit Abstand wichtigste ist. Die Zahl der Neuzulassungen lag dort 2022 mit 9,26 Millionen Pkw um 4,6 Prozent unter dem ohnehin schwachen Vorjahr - so niedrig wie seit 1993 nicht mehr.
Zum Schwächeln von Produktion und Absatz kommt hinzu, dass die deutsche Kfz-Branche bei der Umstellung auf Elektromobilität derzeit ins Hintertreffen gerät. Dies zeigt sich besonders deutlich in China, dem aktuell mit Abstand größten Markt für Elektroautos. Dort wurden bis zum Jahreswechsel 2022/23 rund 14,6 Millionen Elektro- und Hybridfahrzeuge neu zugelassen - 53 Prozent der 27,7 Millionen Elektro- und Hybridfahrzeuge weltweit.[2] Dabei nimmt der Vorsprung der Volksrepublik noch weiter zu: In dem Land wurden 2022 knapp 61 Prozent sämtlicher Neuzulassungen von Elektroautos weltweit vorgenommen. Nutzen daraus ziehen vor allem chinesische Hersteller. Marktführer in China war im ersten Halbjahr 2023 mit einem Anteil von rund 25,7 Prozent BYD ("Build Your Dreams") aus Xi'an.[3] Auf den US-Konzern Tesla (14,7 Prozent) folgten vier weitere chinesiche Firmen (GAC, Geely, Changan, Nio) mit Marktanteilen von 2,8 bis 9,9 Prozent; weit abgeschlagen rangierten BMW (2,3 Prozent), Volkswagen (1,9 Prozent), Audi (0,6 Prozent) sowie Mercedes (0,5 Prozent). Wegen des chinesischen Elektroautobooms hat Volkswagen zum ersten Mal seit den 1980er Jahren die Marktführerschaft in der Volksrepublik verloren: Der Konzern lag im ersten Quartal 2023 aufgrund seiner Elektroautoschwäche bloß noch auf Platz zwei - hinter BYD.[4]
Das hat Folgen. Keiner der großen deutschen Kfz-Hersteller kann sich eine dauerhafte Schwäche auf dem chinesischen Markt leisten: Alle generierten dort zuletzt gut ein Drittel ihres globalen Absatzes oder sogar mehr. Weil die Volksrepublik längst als globaler Leitmarkt in der Elektromobilität gilt, verlegen die deutschen Autokonzerne zunehmend Forschungs- und Entwicklungskapazitäten dorthin. Volkswagen etwa kündigte im April an, man werde für rund eine Milliarde Euro ein Entwicklungs-, Innovations- und Beschaffungszentrum im südchinesischen Hefei errichten. Dort solle die Entwicklungszeit für umfassend vernetzte, intelligente Elektroautos um annähernd ein Drittel reduziert werden. Im VW-Konzern ist von "China-Geschwindigkeit" die Rede.[5] Dass in der Volksrepublik längst nicht mehr nur produziert, sondern auch Forschung und Entwicklung betrieben wird, hat Folgen: Von den rund 220 Milliarden Euro, die die deutsche Autoindustrie laut VDA-Angaben in den Jahren von 2022 bis 2026 in Forschung und Entwicklung investieren will, wird immer weniger in Deutschland ausgegeben. Hinzu kommt, dass etwa VW in China inzwischen auf die Zuarbeit chinesischer Rivalen angewiesen ist. So hat Volkswagen kürzlich ein Bündnis mit Xpeng geschlossen, einem chinesischen E-Auto-Hersteller; Xpeng wird VW künftig mit Software sowie mit Fähigkeiten zum autonomen Fahren ausstatten.[6] Die Eigenständigkeit von Volkswagen ist damit dahin.
Zusätzlich drohen die deutschen Kfz-Hersteller in naher Zukunft auf ihrem Heimatmarkt durch chinesische Konkurrenz unter Druck zu geraten. Chinesische Autoproduzenten haben ihre Exporte dank ihrer Stärke in der Elektromobilität inzwischen deutlich gesteigert und führten im ersten Quartal 2023 mehr Fahrzeuge aus (1,07 Millionen Stück) als Konzerne aus Japan (954.000) und aus Deutschland (840.000).[7] Ihr Marktanteil in Europa wächst; nach 0,1 Prozent im Jahr 2019 erreichte er 2022 bereits ungefähr 1,7 Prozent und stieg von Januar bis Juli 2023 auf 2,3 Prozent.[8] Auch in Deutschland gelingt es ihnen mittlerweile, ihren Absatz auszuweiten. So konnten sie ihren Anteil an den deutschen Elektroauto-Importen von 7,8 Prozent im ersten Quartal 2022 auf 28,2 Prozent im ersten Quartal 2023 steigern.[9] Dabei können sie auf weiteres Wachstum hoffen. Umfragen zeigen, dass der Anteil derjenigen Deutschen, die den Kauf eines chinesischen Elektroautos nicht ausschließen, von 30 Prozent im Dezember 2022 auf 42 Prozent im Mai 2023 gestiegen ist.[10] Ein wichtiges Argument ist der Preis: Gebe es heute kaum ein Elektroauto in Deutschland, das weniger als 40.000 Euro koste, so hielten Branchenkenner es für denkbar, dass sich Hersteller aus China "in Volumensegmenten unterhalb von 30.000 und 20.000 Euro festsetzen", heißt es. Das könne sich als "Super-GAU für die europäische Autoindustrie" erweisen.[11]
Unterdessen tun sich die deutschen Behörden gegenüber Klimaprotesten gegen die IAA mit außerordentlich harter Repression hervor. So wurden - Stand: Montag - in München 27 Klimaaktivisten in sogenannte Präventivhaft genommen; ihnen wird vorgeworfen, angeblich Proteste gegen die IAA geplant zu haben. Die Aktivisten sollen bis mindestens Ende der Woche inhaftiert bleiben, zwei von ihnen über einen Zeitraum von sogar vier Wochen. Nicht einer von ihnen hat sich bislang irgendeiner Straftat schuldig gemacht. "Menschen über Wochen einzusperren, um sie davon abzuhalten, an Protesten teilzunehmen", sei "weder mit rechtsstaatlichen Grundsätzen noch mit den Menschenrechten vereinbar", kritisiert Amnesty International. Der "sogenannte Präventivgewahrsam" sei "ursprünglich eingeführt" worden, "um schwersten Gewaltstraftaten und Terrorgefahren begegnen zu können", werde jedoch "seit über einem Jahr ... regelmäßig gegen friedlich Demonstrierende eingesetzt, die auf die Klimakatastrophe aufmerksam machen wollen".[12] Amnesty, von der Bundesregierung gerne zitiert, wenn es gegen nicht willfährige Staaten geht, lehnt, so heißt es in einer Stellungnahme "dieses Vorgehen ... als menschenrechtswidrig ab".
[1] Automobilindustrie. bmwk.de.
[2] Jedes zweite E-Auto fährt in China. tagesschau.de 02.08.2023.
[3] Lazar Backovic, Franz Hubik, Roman Tyborski: Wie BYD & Co. deutsche Autohersteller aufmischen. handelsblatt.com 03.09.2023.
[4] BYD löst VW als Marktführer in China ab. tagesschau.de 18.04.2023.
[5] Lazar Backovic: VW investiert eine Milliarde in Innovationszentrum in China. handelsblatt.com 18.04.2023.
[6] Christian Müßgens: So will VW den Niedergang in China stoppen. faz.net 26.07.2023.
[7] China ist erstmals Exportweltmeister bei Autos. spiegel.de 03.07.2023.
[8] Lazar Backovic, Franz Hubik, Roman Tyborski: Wie BYD & Co. deutsche Autohersteller aufmischen. handelsblatt.com 03.09.2023.
[9] Importe von Elektroautos aus China legen stark zu. spiegel.de 12.05.2023.
[10], [11] Lazar Backovic, Franz Hubik, Roman Tyborski: Wie BYD & Co. deutsche Autohersteller aufmischen. handelsblatt.com 03.09.2023.
[12] Deutschland: Präventivgewahrsam für Klimaschützer*innen ist klarer Verstoß gegen die Menschenrechte. Pressemitteilung von Amnesty International Deutschland. Berlin, 04.09.2023.
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Quelle:
www.german-foreign-policy.com
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E-Mail: info@german-foreign-policy.com
veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 5. September 2023
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