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MEINUNG/017: Die hausgemachte Finanzkrise (spw)


spw - Ausgabe 5/2011 - Heft 186
Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft

Die hausgemachte Finanzkrise

Von Carsten Sieling


Am 15. September 2008 rutschte die Lehman-Bank in die Insolvenz.

Doch im Unterschied zur weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise, die infolge dessen aus den Vereinigten Staaten nach Europa schwappte, begann die hausgemachte deutsche Finanzkrise schon weit früher.

Wo uns heute ein enthemmter Finanzkapitalismus vor die Aufgabe stellt, nicht nur Banken, sondern ganze Staaten zu retten, haben deutsche Regierungen selbst über viele Jahre hinweg und freiwillig unseren Wohlfahrtsstaat zurechtgestutzt.

Wie heute das Modell der sozialen Marktwirtschaft mit dem Versprechen sozialer Gerechtigkeit - dem sozialdemokratischen Identitätskern - auf eine harte Probe gestellt wird, so war auch sozialdemokratische Politik jahrelang selbst und allzu oft daran beteiligt, dass ökonomische Ungleichgewichte, Prekarisierung und die Verunsicherung in unserer Gesellschaft zugenommen haben.

Wir müssen konstatieren: Die hausgemachte Finanzkrise begann in Deutschland spätestens zum Ende der neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Seitdem wurde und wird - unter allen politischen Farben - am Steuersystem herumlaboriert. Hinter den Überschriften der Förderung europäischer oder gar weltweiter Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands, der Vereinfachung oder Entschlackung verbargen sich immer wieder nur wohlfeile Begründungen für das süße Gift von Entlastungen auf breiter Front.


Bröckelrepublik Deutschland

Seit dieser Zeit lebt Deutschland unter seinen Verhältnissen, schnallt den Gürtel so eng, dass kaum noch Luft zum Atmen bleibt, und kürzt sich künstlich arm - um Investitionen, Modernisierung, Angestellte im öffentlichen Dienst und Löhne. Die Investitionslücke ist riesig - fast 100 Milliarden Euro jährlich.(1) Denn die auf den ersten Blick für viele bestechende Logik des "Steuern senken, Wachstum rauf, Staatseinnahmen rauf" zerbröckelte im Realitätstest wie heute unsere Schulen, Jugendclubs und Straßen. Das Land hat sich - im wahrsten Sinne des Wortes - kaputtgespart. Die Wahrheit ist: Steuern runter, Schulden rauf."

Die Finanz- und Wirtschaftskrise des Jahres 2008 mit ihren bis heute andauernden Schockwellen kann deshalb allenfalls als Brandbeschleuniger denn als Brandursache herhalten. Sie ist damit auch keine Entschuldigung für eine marktliberale Ideologie und ihr folgender politischer Fehlentscheidungen, deren Sirenengesang viel zu lange das politische Konzert in Deutschland bestimmt hat. Der Ruf "Markt ist sexy!" hat den Staat arm gemacht.

Die Erosion der öffentlichen Finanzen begann hierzulande weit früher, auf allen staatlichen Ebenen, dauert bis heute an und wird auch so weiter gehen, wenn wir nicht endlich umsteuern.


Von der Finanzkrise zur Demokratiekrise

Klar ist: Diese deutsche Finanzkrise ist längst schon auch eine Gerechtigkeitskrise. Denn im gleichen Zuge, wie die Verschuldung aller staatlichen Ebenen auf fast zwei Billionen Euro wuchs, konnten Gutverdienende und Vermögende ihren Reichtum weiter ausbauen.

Die Verteilung des Vermögens hat im Deutschland der letzten Jahre wie in keinem anderen OECD-Land an Ungleichheit zugenommen.(2) Auch bei der Spreizung der Einkommen gibt es ein ähnliches Bild: Einerseits sind die Gehälter der Gutverdiener überdurchschnittlich gestiegen, andererseits wurden Normalverdiener von der ohnehin schwachen allgemeinen Lohnentwicklung abgehängt und vielfach sogar auf Niedriglohn gesetzt. Und: Die Arbeit mit dem Kopf und den Händen wird hierzulande um 17 Prozentpunkte höher belastet als die des Faktors Kapital; wie die Vermögensbesteuerung in Deutschland grundsätzlich unterentwickelt ist.

Die Zahlen sprechen eine klare Sprache. Doch auch die Menschen spüren landauf, landab, dass etwas faul ist im Lande: Dass die Lasten unfair und Chancen ungleich verteilt sind, dass sich manche auf Kosten anderer bereichern, dass nicht Profitmaximierung der einzige Anspruch von Unternehmen sein kann. Das ist kein diffuses Gefühl, keine Nabelschau, schon gar keine Missgunst oder Sozialneid. Sie erleben Deutschlands ganz alltägliche Ungerechtigkeit real.

Unterschätzen wir das nicht: Die Gerechtigkeitskrise wird schnell zur Vertrauenskrise in unserem Gemeinwesen und damit zur Krise des demokratischen System insgesamt, wenn Politik nicht einmal mehr den Anspruch hat, die offensichtlichen Fehlentwicklungen anzupacken und zu entschärfen.

Über die Notwendigkeit einer umfassenden Regulierung des Finanzmarktes bestand vor nicht allzu langer Zeit weitgehend Einigkeit. Selbst die Branche hatte - zumindest teil- und zeitweise - erkannt, dass es auch in ihrem ureigenen Interesse liegen sollte dafür zu sorgen, dass sich nicht Risiken auf Risiken türmen dürfen.

Mittlerweile ist diese späte Einsicht einem beschämenden "business as usual" gewichen. Schon die Einigung auf den kleinsten gemeinsamen Nenner gilt als großer Regulierungserfolg, und wer ursprünglich die Vision vom "making banking boring"(3) beschrieb, dem darf heute schon wieder gesagt werden, er solle doch lieber zum Arzt gehen.

Auch über die Notwendigkeit einer Re-Finanzierung unseres Gemeinwesens besteht längst kein Konsens: Statt dessen übt sich die schwarz-gelbe Regierungskoalition mit ihren Vorschlägen zu weiteren Steuersenkungen - wohlgemerkt trotz einer Neuverschuldung des Bundes im Jahr 2011 von allein 30 Milliarden Euro - weiter in "steuerpolitischen Tagträumereien".(4)


Eckpunkte eines sozialdemokratischen Steuerkonzeptes

Wollen wir als Sozialdemokraten unser Gemeinwesen stärken, unser Land ökologisch modernisieren, öffentliche und private Investitionen stärken und den Wohlfahrtsstaat endlich hinreichend finanzieren, muss die Einnahmebasis der öffentlichen Haushalte verbessert werden.

Wollen wir nicht, dass uns die Verschuldung von Bund, Ländern und Gemeinden - auch und besonders angesichts der Vorgaben der grundgesetzlichen Schuldenbremse - zur Handlungsunfähigkeit verdammt, müssen wir das Steueraufkommen erhöhen.

Die Einkommenssteuer als direkte Steuer ist die aufkommensstärkste Einnahmequelle der öffentlichen Hand in Deutschland. Sie ist nicht nur deshalb das effektivste Mittel im Steuersystem, um der immer größeren Ungleichheit von Markteinkommen zu begegnen und über die Umverteilung der Primäreinkommen einen sozialen Ausgleich zu schaffen. Deshalb brauchen wir die Erhöhung des Spitzensteuersatzes von 42 Prozent auf 49 Prozent für zu versteuernde Einkommen ab 100.000 Euro bzw. 200.000 Euro für Eheleute. Zu einem modernen und gerechten Steuerkonzept gehört aber auch die Beibehaltung der sogenannten "Reichensteuer", also dem dreiprozentigen Aufschlag auf den Spitzensteuersatz für zu versteuernde Einkommen ab 150.000 Euro bei Singles bzw. 300.000 Euro bei Eheleuten.

Lassen wir uns nicht aufs Glatteis führen: Diese Erhöhung wird nicht große Teile der Arbeitnehmermitte - insbesondere die Facharbeiterinnen und Facharbeiter - belasten, sondern diejenigen wenigen, die sich in den letzten Jahren mehr und mehr aus ihrer finanziellen Verantwortung für das Gemeinwesen zurückgezogen haben. Tatsächlich erreichen nur gut fünf Prozent der Steuerpflichtigen den Einkommensbereich des Spitzensteuersatzes.(5)

Starke Schultern müssen mehr tragen als schwache Schultern. Je progressiver unser Steuersystem insgesamt ausgestaltet ist, desto eher können wir diesem - eigentlich selbstverständlichen - Anspruch genügen. Deshalb ist es notwendig, die Abgeltungssteuer in die synthetische Einkommensbesteuerung zurückzuführen. Auch die Wiedererhebung der Vermögenssteuer, eine Reform der Erbschafts- und Schenkungssteuer und die am Verkehrswert der Immobilien und Grundstücke ausgerichtete Grundsteuer sind zentrale Elemente moderner sozialdemokratischer Steuerpolitik.

Im Übrigen gilt, - wollen wir uns selbst treu bleiben - dass wir mittelfristig untere und mittlere Einkommensgruppen durch eine Senkung der derzeit regressiv wirkenden Sozialversicherungsbeiträge entlasten müssen.


Steuererhöhungspartei SPD?

Fürchten wir uns bei all dem nicht vor der Debatte um die "Steuererhöhungspartei SPD"! Eine gute Steuerpolitik muss eine permanente Anpassungsleistung an sich ändernde wirtschaftliche und gesellschaftliche Anforderungen erbringen, um ihre vielfältigen Ziele erfüllen zu können. Eine fundamentale Zielstellung von Steuerpolitik ist die richtige Verteilung von Mitteln zwischen Privatwirtschaft und öffentlicher Hand zu organisieren, um die staatliche Aufgabenpolitik auskömmlich und effizient zu finanzieren. Dazu kann es in Abhängigkeit der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Anforderungen notwendig sein, Steuern zu erhöhen, zu senken oder auf kommensneutral umzugestalten. Steuern erhöhen ist kein Selbstzweck, aber all jene, die angesichts der Herausforderungen dieser Zeit für die öffentliche Hand anderes behaupten, handeln gegen jede steuerpolitische Vernunft. Dieser Herausforderung müssen wir uns stellen. Die parlamentarische Linke der SPD-Bundestagsfraktion hat das mit ihrem Steuerkonzept(6) getan, dessen Eckpunkte hier nur skizziert sind.

Das "Jahrzehnt der Entstaatlichung"(7) in Deutschland ist vorbei. Das ist die Herausforderung der nächsten Zeit: Die Wiederherstellung einer gerechteren Gesellschaft in einem handlungsfähigen Wohlfahrtsstaat auf der Grundlage der sozialen Marktwirtschaft. Wir haben es in der Hand.


Dr. Carsten Sieling ist Mitglied der SPD-Fraktion im Deutschen Bundestag und Mitglied des Finanzausschusses.



ANMERKUNGEN

(1) Achim Truger/Dieter Teichmann in: Zur Reformation des Einkommenssteuertarifs. Ein Reader der parlamentarischen Linken in der SPD-Bundestagsfraktion, 2011, S. 21.

(2) Ebenda.

(3) Paul Krugman in: New York Times vom 4.10.2009.
http://www.nytimes.com/2009/04/10/opinion/10krugman.html

(4) Sachverständigenrat zu Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Lage: Chancen für einen stabilen Aufschwung. Jahresgutachten 2010/2011, S. 210.

(5) Lohn und Einkommensstatistik des Statistischen Bundesamtes 2004, eigene Berechnungen.

(6) Gerechtigkeit, leistungsstarker Staat, nachhaltiges Wachstum Position der Parlamentarischen Linken zur Steuerpolitik, 4/2011.
http://www.parlamentarische-linke.de/fileadmin/Texte/2011/Steuerthesen_end_13_04.pdf.
Ihre Vorschläge decken sich damit erfreulicherweise weitestgehend auch mit dem kürzlich vorgestellten Papier des SPD-Parteivorstandes, das Teil des Leitantrags für den kommenden Bundesparteitag der SPD im Dezember 2011 ist. Noch direkter finden sich die Vorschläge der parlamentarischen Linken der SPD-Bundestagsfraktion im finanz- und steuerpolitischen Konzept der Bremer SPD, das als eigener Antrag ebenfalls auf dem Bundesparteitag diskutiert werden wird.
http://www.spd-land-bremen.de/uploads/media/Beschluesse_und_Ueberweisungen_Landesparteitag_28-09-2011.pdf. S. 4-21.

(7) Peter Bofinger, in: WSI-Mitteilungen, 7/2008. S. 351-357.


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Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 5/2011, Heft 186, Seite 47-49
mit freundlicher Genehmigung der HerausgeberInnen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. Januar 2012