Schattenblick → INFOPOOL → POLITIK → WIRTSCHAFT


MEINUNG/077: Warum der "Aufbau Ost" nicht funktionieren konnte (idw)


Universität Witten/Herdecke - 01.10.2018

Warum der "Aufbau Ost" nicht funktionieren konnte

Prof. Tyrell von der Universität Witten/Herdecke sagt: Der lange Stasi-Schatten, die Digitalisierung und die Globalisierung sind schuld


Die Wirtschaftskraft in Deutschland ist auch fast 30 Jahre nach der Wiedervereinigung zwischen Ost und West sehr ungleich verteilt. Der Experte für Banking und Finance der Universität Witten/Herdecke (UW/H), Prof. Dr. Marcel Tyrell, hat in zwei Studien die Ursachen untersucht: Die Stasi-Vergangenheit, die Digitalisierung und die Globalisierung sind demnach die Hauptverdächtigen.

"Es gibt so etwas wie den langen Schatten des Stasi-Überwachungssystems", erklärt Tyrell seinen Ansatz, den er schon in einer ersten Studie 2007 veröffentlicht hatte. Inzwischen gibt es aber auch weitere Studien, die seine Annahmen bestätigen: "Die jahrelange Unterwanderung hat aus verständlichen Gründen das Misstrauen vieler Ostdeutscher so massiv gestärkt, dass es sich bis heute ganz handfest auf Wirtschaft und Wahlverhalten auswirkt."

Und das kann Tyrell mit Zahlen belegen: Wo die Überwachung am dichtesten war - übrigens nicht nur an der Grenze zur BRD sowie an der Ostsee - ist bis heute die Arbeitslosigkeit am höchsten und damit die Wirtschaftskraft am geringsten. "Außerdem finden wir dort massive Störungen in etwas, das wir Sozialkapital genannt haben: Festmachen kann man das an der Wahlbeteiligung, der Mitgliedschaft in Sportvereinen und der Bereitschaft zur Blutspende. Sie sind dort wesentlich geringer ausgeprägt wo die Bespitzelung gemessen an der Anzahl der Inoffiziellen Mitarbeiter am höchsten war. Wir sehen diese Merkmale als Messgrößen für die lange Wirkung der Bespitzelung", bewertet Tyrell seine früheren Ergebnisse, die aktuell von anderen Forschern (Lichter/Löffler/Siegloch, 2016) bestätigt werden. Auch die kommen zu dem Schluss, dass die Stasi-Aktivität zu geringem Vertrauen und sinkender gesellschaftlicher Aktivität geführt haben, die dann in Abwanderung und steigender Arbeitslosigkeit mündet: "Wirtschaft setzt Vertrauen voraus, oft geht es um Geschäfte mit mündlichen Absprachen, das geht eben ohne ein Grundvertrauen nicht und das hat der Überwachungsapparat vernichtet und die ältere Generation oft an die Kinder weitergegeben, um diese zu schützen - das ist meine These", fasst Tyrell noch mal zusammen.

Und er hat weitere Untersuchungen anderer Forscher zusammengefasst, die das Thema der Ungleichverteilung noch mal aus anderem Blickwinkel aufnehmen. Thema Roboter: Wenn man auf einer Deutschlandkarte einzeichnet, wo die meisten Roboter in der Produktion eingesetzt sind, erkennt man deutlich die ehemalige Trennlinie zwischen BRD und DDR wieder. Ganz viele stehen im Westen, ganz wenige im Osten: "Die Roboter haben in Deutschland aber keine Arbeitsplätze vernichtet, wie die Studie von Dauth/Findeisen/Südekum/Wössner (2017) eindeutig zeigt. Vielmehr bringen sie Einkommenszuwächse bei hochqualifizierten Beschäftigten und nur leichte Rückgänge bei ganz einfachen Arbeiten, während mittelqualifizierte Arbeitnehmer die höchsten Einkommensverluste zu verzeichnen hatten", schildert Tyrell die Auswirkung.

Thema Abwanderung: Trägt man in die Deutschlandkarte ein, wo Menschen wegziehen und wo welche hinziehen, erkennt man wiederum die Grenzen der beiden ehemaligen Teilstaaten sehr deutlich - Ausnahme Raum Berlin. Neun Prozent Abwanderung in den Jahren 2000 bis 2014 im Osten, Zuwanderung in Süddeutschland, am Rhein und im Norden. Massive Landflucht also, bloß weg aus dem Osten, scheint die Devise zu sein.

Eine weitere Studie hat die Auswirkung von Globalisierung und Digitalisierung auf das Wahlverhalten untersucht. Wieder eine Deutschlandkarte, diesmal trägt man ein, wo die örtliche Wirtschaft von den zunehmenden Exporten aus China und Osteuropa überrollt wurde. Wiederum ist der ehemalige Grenzverlauf gut zu erkennen, einige andere grenznahe Gebiete im Westen sind ebenfalls betroffen. Und die Studie kann zeigen, dass die Wähler das Vertrauen in die etablierten Parteien verlieren und eindeutig Rechtsextrem wählen: "Das ist der Effekt, den wir auch bei der Wahl von Präsident Donald Trump in den USA beobachten konnten. In Staaten, in denen die Wirtschaft den billigen Importen nicht gewachsen ist und der Mittelstand darunter leidet, kommen extreme Populisten zu Wahlerfolgen. Interessanterweise aber nur Rechte, die Linke wird nicht mehr gewählt", interpretiert Tyrell die Studie von (Dippel/Gold/Helblich/Pinto (2018).

Zusammenfassend zeigen die Untersuchungen von Prof. Tyrell, dass das zerstörte Sozialkapital, man könnte auch sagen: das gute Miteinander, langfristig deutliche Veränderungen in der Wirtschaftsstruktur auslösen und Menschen empfindlicher machen für die Bewältigung anderer krisenhafter Einflüsse.



Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung unter:
http://idw-online.de/de/institution226

*

Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft e. V. - idw - Pressemitteilung
Universität Witten/Herdecke, 01.10.2018
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 3. Oktober 2018

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang