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UNTERNEHMEN/2443: Wenn Schräges das Neue anstößt (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 145, September 2014
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Wenn Schräges das Neue anstößt
Wie sich künstlerische Interventionen in Organisationen auswirken können

von Ariane Berthoin Antal



Kurz gefasst: Eine künstlerische Intervention in einer Organisation kann helfen, ein altes Problem auf neue Weise anzugehen. Der Fall der schwedischen Firma i3tex zeigt, wie eine Künstlerin die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen dazu brachte, ihre Kenntnisse in effizientem Projektmanagement vorübergehend außen vor zu lassen, um auf persönlicher Ebene miteinander in Kontakt zu kommen. Durch diesen Prozess gelang es ihnen, einen neuen, sinnstiftenden Ansatz zu entwickeln, der ihnen passender erscheint als frühere Versuche des Unternehmens, das Problem zu lösen.

Als der Vertriebsleiter von i3tex, einer technischen Unternehmensberatung in Göteborg, zum ersten Mal vom Plan der Geschäftsführung hörte, für 18 Monate eine Künstlerin in den Betrieb zu holen, war er skeptisch - aber auch neugierig. Könnte dies der Firma möglicherweise bei der Bewältigung eines Problems helfen, mit dem heute viele technische Unternehmensberatungen in Schweden zu kämpfen haben, nämlich die mangelnde Bindung hochqualifizierter Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen an das Unternehmen? Wer in dieser Branche arbeitet, verbringt 80 bis 90 Prozent der Zeit bei Kunden, daher fällt es ihnen oft schwer, sich mit ihrem Arbeitgeber zu identifizieren. Auch versuchen Kunden mitunter, die besten technischen Berater und Beraterinnen für das eigene Unternehmen abzuwerben. Angesichts der hohen Kosten der Personalrekrutierung ist es deshalb eine betriebswirtschaftliche Notwendigkeit, die Bindung der Berater an ihren Arbeitgeber zu stärken.

Das Unternehmen hatte bereits etliche Ansätze ausprobiert, von finanziellen Anreizen bis hin zu sozialen Aktivitäten, aber das Problem blieb bestehen. Der Geschäftsführer fand, es sei an der Zeit, etwas anderes auszuprobieren, und war begeistert, als er durch TILLT (eine schwedische Mittlerorganisation, die künstlerische Interventionen in Betrieben organisiert) von der Möglichkeit erfuhr, an einem europäischen Projekt teilzunehmen, das Brücken zwischen Kunst, Wissenschaft und Technik bauen soll (www.kiics.eu/en).

Um zu verstehen, was passiert, wenn Menschen, Praktiken oder Produkte aus der Welt der Kunst Eingang in Organisationen finden, haben Wissenschaftlerinnen der WZB-Abteilung Kulturelle Quellen von Neuheit seit 2008 nahezu 100 solcher Fälle aus ganz Europa untersucht. Mithilfe von Interviews und webbasierten Umfragen haben wir Angestellte in den Unternehmen, Führungskräfte, Künstler und Künstlerinnen nach ihren Erfahrungen befragt, um die Wirkungen künstlerischer Interventionen zu bestimmen und die Bedingungen herauszuarbeiten, die einen Wertzuwachs ermöglichen oder verhindern. Obwohl jedes Projekt einzigartig ist, lassen sich einige gemeinsame Faktoren identifizieren, die wir anhand des Falles i3tex veranschaulichen wollen.

Christine Falkenland - eine Künstlerin, die über TILLT zu i3tex kam - ist Schriftstellerin. Zunächst traf sie sich mit der Geschäftsleitung und einer Gruppe von Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen, um zu besprechen, an welchem Problem gearbeitet werden sollte und um erste Ideen zu dessen Bewältigung zu entwickeln. Gleich zu Beginn wurden mehrere Probleme deutlich. Die Gruppe fand, dass ihre Interessen nicht ausreichend berücksichtigt wurden; die Mitglieder der Geschäftsführung hielten die Erwartung von TILLT und ihrer Künstlerin, sich alle zwei bis drei Wochen zu treffen, für unrealistisch in einer Branche, in der jede Stunde zählt. Das erste Problem war relativ leicht zu lösen: Die Interessensunterschiede wurden durch die Bildung einer gemischten Gruppe aus Mitarbeiterschaft und Unternehmensleitung überwunden. Das Problem des zeitlichen Aufwands war eine größere Herausforderung für die in die Organisationskultur eingebetteten Werte und Abläufe. Abgesehen vom Gefühl, es sich nicht leisten zu können, so viel Zeit mit der Künstlerin zu verbringen, waren die Beteiligten sicher, dass sie aufgrund ihrer Erfahrung im Projektmanagement gar nicht so viele Sitzungen benötigen würden. Sie wussten schließlich, wie man ein Problem definiert, ein Verfahren zum Umgang damit entwickelt, die nötigen Ressourcen zuweist und die Ergebnisse effizient und termingerecht liefert.

Die Projektgruppe stellte schnell fest, dass "die ersten Treffen stark dem ähnelten, was wir schon vorher gemacht haben". Sie war gefangen in etwas, das in der Forschung als Kompetenzfalle bezeichnet wird. Der Künstlerin wurde klar, dass sie die eingefahrenen Praktiken und Logiken aufbrechen musste. "Ich entwickelte die Strategie, eine 'Bremse' zu sein, ihnen zu sagen, dass sie das Tempo rausnehmen und mir die Verantwortung für die Ergebnisse überlassen sollten." Sie stellte der Gruppe eine Auswahl von Notizbüchern zur Verfügung, die sie für kurze Schreibübungen nutzen sollten. Anstatt gleich zur Sache zu kommen, begann jedes Treffen mit einer freien Schreibübung zu einem von der Künstlerin gewählten Thema, zum Beispiel: "Was ist Ihr Lebensmotto? Erläutern Sie, warum." Der Vertriebsleiter erinnert sich, dass die Gruppe einige Sitzungen brauchte, bis sich alle auf diesen Ansatz geeinigt hatten und darauf einließen. Aber hiermit gelang es allen, "unkonventionell zu denken und die Situation eher aus menschlicher als aus technischer Sicht zu betrachten". Nach einer Viertelstunde Schreibzeit stellten die Mitglieder der Gruppe sich gegenseitig einen Teil ihrer Texte vor. Die Auswirkungen auf die Qualität der darauf folgenden Diskussion über das Projekt beschreibt der Vertriebsleiter folgendermaßen: "Es ist leicht, zu neuen Denkweisen zu kommen, wenn man viele verschiedene Lebensgeschichten gehört hat."

Eine andere Art, die Arbeitsroutine aufzubrechen und das Team zu verlangsamen, betraf den Drang der Teammitglieder, kontinuierlich mit dem Unternehmen über ihre Arbeit zu kommunizieren. Zu früh über das Projekt zu berichten, das wusste Falkenland, würde "einen Druck erzeugen, Ergebnisse zu präsentieren, und den Prozess des Ausprobierens unterschiedlicher Ideen behindern".

Der wichtigste Wendepunkt im Projekt war in den Worten der Künstlerin "der Moment, als wir nicht mehr über traditionelle Wege nachdachten, den betrieblichen Zusammenhalt zu stärken - etwa durch diverse gemeinsame Aktivitäten -, sondern als wir erkannten, was wir als Unternehmen für andere tun können und wie wir dadurch ebenfalls Zusammenhalt erzeugen". Die Gruppe dazu anzuregen, ihre menschliche Seite einzubringen, habe ihnen die Entdeckung ermöglicht, dass der Wille zum gesellschaftlichen Engagement die große Gemeinsamkeit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Unternehmen ist, berichtet der Vertriebsleiter. Sie beschlossen, ihre technische Kompetenz zusammen dafür zu nutzen, gemeinnützige Organisationen zu unterstützen, die sich für soziale Zwecke einsetzen. Im Pilotprojekt zum Beispiel entwickelte eine Gruppe von Mitarbeitern eine App für eine lokale humanitäre Hilfsorganisation. Außerdem sind sie im Gespräch mit Vertretern einer anderen Organisation, die bei der Suche nach vermissten Menschen hilft.

Obwohl die Künstlerin dem Team ein langsameres Arbeitstempo verordnet hatte, verlief das Projekt als Ganzes schneller als ursprünglich vorgesehen. Der europäische 18-Monatsplan sah vor, dass das Projekt in den ersten 12 Monaten Ideen hervorbringen würde, die dann in den verbleibenden 6 Monaten umgesetzt und als Prototyp dienen sollten, von dem andere Organisationen lernen können. In diesem Fall wurde das Pilotprojekt bereits während der ersten Phase erfolgreich getestet, und die Gruppe veröffentlichte die Projektbeschreibung im firmeneigenen Intranet, verbunden mit der Einladung an andere im Unternehmen, sich dem Team anzuschließen und weitere Kooperationspartner aus dem gemeinnützigen Bereich vorzuschlagen. In der zweiten Jahreshälfte planen sie auch mit Kollegen an anderen Standorten des Unternehmens in Schweden eine Ausweitung des Projekts; des Weiteren wird darüber nachgedacht, den Ansatz in eine Weiterbildungsmaßnahme zu integrieren, bei der mit einer technischen Hochschule kooperiert wird.

Wenn der Vertriebsleiter mit unternehmensexternen Personen über das Projekt spricht, beschreibt er stets seine erste Reaktion auf die Idee: "Schräg! Wie kann das nur funktionieren?" Jetzt, da er ihnen auch etwas über die Arbeitsabläufe mit der Künstlerin und über das Ergebnis sagen kann, sind Kunden und Freunde sofort interessiert. "Sie sehen eine neue Art zu arbeiten, die sich aus der Einbindung einer inspirierenden Künstlerpersönlichkeit ergeben kann." Welche Lehren zieht er aus der Erfahrung? "Es ist wichtig, eine breite Mischung von Personen mit unterschiedlichen Sichtweisen im Team zu haben. Und vielleicht sollte man mit vier Kleingruppen beginnen, die zunächst parallel arbeiten und später zusammengeführt werden. Denn in jeder Gruppe gibt es immer ein paar Leute, die sich stärker engagieren als andere. In der kombinierten Gruppe sind alle aktiv." Darüber hinaus fiel ihm auf, dass "die Künstlerin dafür sorgt, dass alle auf Augenhöhe zusammenarbeiten und ihre gewohnten Rollen im Unternehmen ausblenden". So lernen sie, anderen Sichtweisen Raum zu geben und sich auf diese einzulassen, anstatt sie gleich zu verwerfen.

Es gibt in diesem Fall mehrere Aspekte, die sich mit unseren Befunden aus zahlreichen anderen Fällen decken. Die Kombination aus Skepsis und Neugier zum Beispiel, mit der Menschen der Idee einer künstlerischen Intervention in ihrer Organisation am Anfang begegnen, ist weit verbreitet. Es ist eine typische Reaktion auf Neuheit. Die Entscheidung, ein solches Projekt in Angriff zu nehmen, wird normalerweise durch eine Kombination von Faktoren ausgelöst: Berichte darüber, wie andere Organisationen von diesem Ansatz profitiert haben, Frustration über ein ungelöstes Problem und eine Führungspersönlichkeit, die bereit ist, sich auf unbekanntes Terrain vorzuwagen. Intermediäre Organisationen wie TILLT in Schweden, conexiones improbables in Spanien oder neuerdings das Team Unternehmen! KulturWirtschaft am Nordkolleg Rendsburg in Deutschland stellen diese Möglichkeit vor und präsentieren Beispiele aus anderen Organisationen. Nachdem die Geschäftsleitung ein Problem benannt hat, für das eine Lösung gesucht wird, findet die Mittlerorganisation einen passenden Künstler oder eine passende Künstlerin. Aus ihrer Erfahrung berichten die Intermediäre, dass es weniger auf die Kunstform als darauf ankommt, dass die Chemie zwischen den beteiligten Personen stimmt. Als Erstes entwickelt der Künstler oder die Künstlerin ein Gefühl für die Organisation und ermittelt, welche etablierten Arbeitsweisen aufgebrochen werden müssen, um das jeweilige Problem zu bewältigen. Im hier beschriebenen Fall spürte die Künstlerin zum Beispiel, dass sie die Arbeitsabläufe verlangsamen musste, während ein Künstler in einer anderen Organisation zu dem Schluss kam, dass mehr Tempo hilfreich wäre.

Indem sie vorübergehend die routinierten Denk- und Arbeitsweisen eines Betriebs außen vor lassen, versetzen Künstler und Künstlerinnen Menschen in die Lage, sich tiefer oder breiter mit einer Fragestellung zu befassen als ursprünglich vorgesehen. Wie der Vertriebsleiter in unserem Fall berichten die Teilnehmenden oft von dem Gefühl, auf persönlicher Ebene etwas Sinnvolles zu tun, das anschließend nicht nur der Organisation, sondern auch anderen gesellschaftlichen Akteuren zugutekommt. Gemeinsam mit der intermediären Organisation überlegen sich die Künstler und Künstlerinnen, wie das Spitzenmanagement in das Projekt eingebunden werden kann. In vielen Unternehmen ist es kontraproduktiv, Vertreter der Geschäftsleitung in der Projektgruppe zu haben, da sie andere einschüchtern oder zu schnell auf Ergebnisse drängen können. Unsere Analyse von Fällen, in denen Organisationen kaum von ihrer künstlerischen Intervention profitiert haben, zeigt aber auch, dass das sichtbare Interesse der Geschäftsleitung am Lernprozess und seinen Ergebnissen entscheidend für Erfolg oder Misserfolg ist.

Bleibt die Frage: Welchen Wert hat die Teilnahme an solchen Interventionen für die Künstler und Künstlerinnen? Manche erschaffen Kunst im Betrieb, andere ziehen aus ihren Interaktionen mit der Organisation Inspiration für kreative Projekte. Eine Choreografin, die in einer anderen schwedischen Firma tätig war, entwickelte zum Beispiel ein Ballett, nachdem sie die Bewegungen der Gabelstapler im Lagergebäude beobachtet hatte. Die meisten Künstler und Künstlerinnen betonen, wie sehr sie die Möglichkeit schätzen, ihre Ideen und Methoden außerhalb der engen Grenzen der Kunstszene ausprobieren zu können. Besonders anregend ist es zu erleben, dass ihre Praktiken dort als wertvoll angesehen werden. In den Worten eines spanischen Künstlers: "Es ist eine andere Art von Erfahrung, die es ermöglicht, das eigene Wissen und die eigenen Praktiken in einem neuen Gebiet anzuwenden, sie dadurch zu testen und ihnen Flügel zu verleihen."

Ariane Berthoin Antal untersucht Innovations- und Lernprozesse von Organisationen aus verschiedenen Blickwinkeln. Zurzeit leitet sie in der Abteilung Kulturelle Quellen von Neuheit das Programm "Künstlerische Interventionen in Organisationen".
ariane.berthoin.antal@wzb.eu


Literatur

Berthoin Antal, Ariane: "Artistic Intervention Residencies and Their Intermediaries: A Comparative Analysis". In: Organizational Aesthetics, 2012, Vol. 1, No. 1, pp. 44-67.

Berthoin Antal, Ariane: "Seeking Values: Artistic Interventions in Organizations as Potential Cultural Sources of Values-added". In: Dirk Baecker/Birger P. Priddat (Eds.): Oekonomie der Werte/Economics of Values. Marburg: Metropolis-Verlag 2013, pp. 97-128.

Berthoin Antal, Ariane/Strauß, Anke: "Not Only Art's Task. Narrating Bridges between Unusual Experiences with Art and Organizational Identity". In: Scandinavian Journal of Management, 2014, Vol. 30, No. 1, pp. 114-123.

Berthoin Antal, Ariane: "Sources of Newness in Organizations: Sand, Oil, Energy, and Artists". In: Ariane Berthoin Antal, Michael Hutter, David Stark (Eds.): Moments of Valuation: Exploring Sites of Dissonance. Oxford: Oxford University Press (forthcoming).

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Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 145, September 2014, Seite 9-12
Herausgeberin:
Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
Professorin Jutta Allmendinger Ph. D.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. Oktober 2014