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AUSLAND/037: Was haben diese Kinder verbrochen? (welt der frau)


welt der frau 9/2010 - Die österreichische Frauenzeitschrift

Was haben diese Kinder verbrochen?
Auf fünf Millionen EinwohnerInnen in dem westafrikanischen Land Sierra Leone kommen zwischen 10.000 und 20.000 KindersoldatInnen

Von Julia Kospach


Als Richterin am internationalen UN-Sondergerichtshof für Sierra Leone hat die Wienerin Renate Winter mit Tätern und Opfern eines brutalen Bürgerkriegs zu tun. Vor allem mit Kindersoldaten, die beides zugleich sind. Wie man mit ihnen umgeht, ist Winters großes Thema.


Renate Winter ist Richterin. Ein Richter, sagt sie, macht seine Arbeit dann gut, wenn sein Urteil so ausfällt, dass alle Parteien eines Konflikts am Ende miteinander weiterleben können. Ohne Hass, ohne Ressentiment. "Nur dann ist ein Fall wirklich gelöst", sagt sie. Dieses Grundprinzip gelte immer. Doch dann gibt es Konflikte, die haben eine andere Dimension, Verbrechen, die den Rahmen sprengen, und Strategien der Wiederherstellung des Gleichgewichts, die auch eine erfahrene Richterin wie Renate Winter erst einmal ratlos zurücklassen. Seit vielen Jahren begegnet sie regelmäßig solchen Fällen. In Ruanda und im Sudan, auf Sri Lanka oder im Iran, wo sie im Auftrag der UNO als Regierungsberaterin arbeitete. Und auch im Kosovo. Dorthin kam sie als internationale Richterin des UN-Sondergerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien. Verhandelt wurden dort Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Völkermord und Kriegsverbrechen. Danach kam Westafrika. Seit 2002 ist Renate Winter Mitglied der Richterschaft des UN-Sondertribunals für Sierra Leone in Freetown, dessen Präsidentin sie auch war. In dem vor allem durch illegalen Diamantenhandel finanzierten Bürgerkrieg Sierra Leones kämpften Rebellentruppen, die vom Nachbarland Liberia und von dessen späterem Präsidenten Charles Taylor unterstützt wurden, zwischen 1991 und 2002 gegen die wechselnden Regierungen des Landes: ein Blutrausch von besonderer Grausamkeit mit Zehntausenden Toten und noch mehr Verstümmelten, Vergewaltigten, Gefolterten, Vertriebenen und Traumatisierten. Ein besonderes Problem in diesem Krieg: KindersoldatInnen.


Das Mädchen ohne Hände

Renate Winter, die früher in Wien vor allem als Jugendrichterin tätig war, erzählt: "Es wurde eine Zeugin gefunden, ein Mädchen, dem von einem Kindersoldaten beide Arme abgeschnitten worden waren. Er war der Nachbarssohn. Ihr Vater sagte: 'Ohne Arme kann ich sie nicht in die Ehe verkaufen, warum soll ich ihr zu essen geben?' Der Kindersoldat wurde gefunden und gefragt, ob er Wiedergutmachung an dem Mädchen leisten wolle. Er sagte Ja. Aber seine Familie wollte ihn nicht zurück, wollte auch das Mädchen nicht, und in seinem Dorf sagten sie, sie würden ihn töten, wenn die internationale Gemeinschaft das nicht untersagen würde. Was tun? Der Bub sagte: 'Ich werde sie heiraten und für sie sorgen.' Alle hielten das für eine tolle Lösung. Ich habe gemeint: 'Eine tolle Lösung soll das sein? Das Mädchen soll den heiraten, der es verstümmelt hat?' Aber das Mädchen hat gesagt: 'Ja, ich will ihn heiraten, denn ob er mich schlägt oder mein Vater, ist egal.'"

Renate Winter reißt die Augen auf und schüttelt leicht den Kopf. "Wie geht man damit um?", besagt ihr Kopfschütteln. Mit einer Armut, die solche Situationen hervorbringt? Mit einem Krieg, der jedes soziale Gefüge zerstört? In dem die Kinder für brutale Warlords nichts als billiges, gefügiges Kanonenfutter darstellen, das sich jederzeit durch Nachschub aus dem nächsten überfallenen Dorf ersetzen lässt. "Wenn ein kleines Mädchen mit fünf Jahren zum ersten Mal vergewaltigt wird und man ihm mit sieben Jahren ein Gewehr in die Hand drückt und sagt: 'So, und jetzt kannst du anderen Gewalt antun!', was soll ich dann als Richterin mit diesem Menschen tun, wenn er mit 17 vor mir steht?", fragt Renate Winter.


Gestörtes Verhältnis zur Wirklichkeit

Gerade KindersoldatInnen begehen die grausamsten Verbrechen. Warum? "Sie denken nicht nach, sie gehorchen, sie haben Angst und Hunger, sie haben einen starken Aggressionstrieb, den man ganz leicht anheizen kann", erklärt Renate Winter und fügt hinzu: "Außerdem stehen praktisch alle von ihnen ständig unter Drogen." Ihre kindliche Entwicklung wurde von einem Moment auf den anderen brutal unterbrochen, denn die meisten von ihnen wurden entführt und gezwungen, als Einstandsritual ein Tabu in ihrer eigenen Dorfgemeinschaft zu brechen: Sie müssen die Mutter vergewaltigen, den Vater oder Bruder töten, das Nachbarskind verstümmeln. Damit ist sichergestellt, dass sie auch für den unwahrscheinlichen Fall, dass ihnen die Flucht gelingt, nie wieder nach Hause zurückkehren können. Was danach kommt, produziert ein vollkommen gestörtes Verhältnis zur Wirklichkeit, weil die Realität von KindersoldatInnen so fürchterlich ist: Sie, denen Schmerzen zugefügt wurden, fügen jetzt ihrerseits anderen Schmerzen zu. Ein unschuldiger Knirps kann sich so in einen blutrünstigen Folterer und Mörder verwandeln. Vor Gericht sind KindersoldatInnen ein besonders schwieriges Thema. Denn sie sind Opfer, Täter und Zeugen in einem.


Wer ist strafmündig?

Nach Schätzungen der UNO sind derzeit in 36 Ländern 250.000 bis 300.000 Kinder an bewaffneten Konflikten beteiligt, besonders in der Demokratischen Republik Kongo, in Uganda, Tschad, Burundi, Somalia und Sudan. KindersoldatInnen sind sehr stark ein afrikanisches Problem, aber es gibt sie auch in Afghanistan, Sri Lanka, Kolumbien oder auf den Philippinen. Auf fünf Millionen EinwohnerInnen in Sierra Leone kommen zwischen 10.000 und 20.000 KindersoldatInnen. Das ist ein massives Problem. Der Sondergerichtshof hat sich entschieden, keinen von ihnen als Täter anzuklagen.

Renate Winter unterstützt diese Entscheidung. Denn wie, sagt sie, solle man einen 19-Jährigen vor Gericht stellen, der zu Kriegsbeginn acht war, mit 15 strafmündig wurde und von dem einem keiner sagen kann, ob er seine Verbrechen vorher oder nachher begangen hat oder sowohl als auch? Noch dazu in einem Land, in dem es so gut wie keine Geburtsurkunden gegeben hat?


Die Rekrutierer bestrafen

Dem Gerichtshof ging es um etwas anderes - und das hat er erreicht. Wenn Renate Winter davon spricht, spürt man, wie sehr ihr das ein brennendes Anliegen war. Als der Gerichtshof 2002 ins Leben gerufen wurde, war das Rekrutieren von KindersoldatInnen fast nirgendwo auf der Welt gesetzlich untersagt. Vor allem deswegen, weil in den meisten Ländern ohnehin niemand auf die Idee kommt. Am Anfang, erzählt Winter, hätten die Hauptangeklagten - jene Armeeherren und Rebellenführer, die die Hauptverantwortung für die Gräueltaten in Sierra Leone tragen - die Richter ausgelacht und gesagt: "Ihr könnt mir nichts anhaben. Das Rekrutieren von KindersoldatInnen ist vielleicht nicht moralisch, aber verboten ist es nicht." Die Richter aber sahen die Gesetzgebungen von 138 UN-Mitgliedsstaaten durch und fanden Kombinationen von Vorschriften, aus denen sich ableiten ließ, dass das Völkergewohnheitsrecht sich gegen das Rekrutieren von Kindern ausspricht. Der Umkehrschluss brachte die Wende, erzählt Winter, denn "wenn Personen über 15 bzw. 18 rekrutiert werden dürfen, kann man daraus ableiten, dass das für Jüngere nicht gilt".


Erste Urteile gegen die Anstifter

Auf dieser Basis fielen 2007 in Sierra Leone die ersten Urteile in der Geschichte der Justiz, die auch aufgrund der Anklage des Rekrutierens von KindersoldatInnen gefällt wurden. Alle weiteren Verfahren endeten ebenfalls mit Schuldsprüchen für die Angeklagten - mit um die 50 Jahre Gefängnis. Nur ein Urteil steht noch aus, das gegen Charles Taylor, den früheren Präsidenten Liberias und die monströse Hauptfigur im Bürgerkrieg in Sierra Leone. Es wird für Ende 2010 erwartet.

Durch diese Urteile, sagt Renate Winter, ist die Situation eine andere. Auch wenn es noch immer viele Staatsoberhäupter und Warlords gibt, die alle Menschenrechte brechen und glauben, sie würden nie erwischt werden. "So sicher ist das nicht mehr", sagt Winter und in ihrer Stimme klingt tiefe Befriedigung mit. Ihr Antrieb, sagt die 66-Jährige, sei der Zorn. "Zu sehen, dass es Leute gibt, die ungestraft ein ganzes Land ins Elend stoßen und dann noch profitieren können, während die anderen verkrüppelt, verbittert und verarmt kaum mehr vegetieren, macht mich zornig."


Einsatz jenseits des Notwendigen

Als Richterin im Kosovo überlebte Renate Winter zwei Mordanschläge, auch in Sierra Leone hatte sie Tag und Nacht Bodyguards. Angst, nein, Angst habe sie nicht, sagt sie, vor lauter Arbeit sei sie zum Angsthaben gar nicht gekommen. Dass sie als Frau in einer männerdominierten Gesellschaft Recht sprechen sollte, hat ihre Arbeit in Sierra Leone sicher nicht leichter gemacht, erzählt sie und ergänzt: "Sie dürfen nicht vergessen: Ich bin eine alte Frau. Alte Leute werden in Afrika respektiert."

Zynisch ist sie über die Jahre nicht geworden. Es stimmt wohl, dass ein Einzelner angesichts des Elends, der Krankheit, der Korruption und des organisierten Verbrechens hilflos ist. Das nimmt einem mitunter die Hoffnung. Aber es gibt Dinge, die man tun kann. "Unter den Kindersoldaten sind die ärmsten die Kindersoldatinnen. Wenn schon ein Sklave arm ist, dann ist die Frau des Sklaven doppelt arm. Sie sind die, die am allermeisten ausgenutzt worden sind und am wenigsten wieder in ihren Familien aufgenommen werden, schon gar nicht als Unverheiratete und gemeinsam mit ihren Kindern, den sogenannten 'Kindern des Hasses'." Deshalb hat Renate Winter mit dem Geld von österreichischen Kolleginnen und früheren Schulfreundinnen ein Programm für ehemalige Kindersoldatinnen aufgebaut. 18 Mädchen lernen nähen, sticken und schneidern, bekommen eine Nähmaschine und Startgeld für ein Geschäft, das sie und ihre Kinder ernähren kann. Renate Winter sagt: "Das ist nicht viel, aber es ist ein bisschen mehr als gar nichts."


BÜCHER ZUM THEMA KINDERSOLDATINNEN:

Wojciech Jagielski: "Wanderer der Nacht",
Eine Reportage, aus dem Polnischen übersetzt v. Lisa Palmes,
Transit Verlag. 269 S., 19,40 Euro
Uzodinma Iweala: "Du sollst Bestie sein!",
Roman, aus dem Englischen übersetzt v. Marcus Ingendaay,
Fischer Tb., 157 S., 9,20 Euro

Renate Winter, 66, begann ihre Karriere als Richterin am Wiener Jugendgerichtshof. Zwischen 1996 und 2002 arbeitete sie im Auftrag der UN als Regierungsberaterin bei der Umsetzung der Kinderrechtskonventjon in Ländern wie Albanien, Iran oder Ruanda. Sie war internationale Richterin bei der UN-Kosovo-Mission, wo sie sich mit Genozid und Verbrechen gegen die Menschlichkeit befasste. Seit 2002 ist sie Mitglied der Berufungskammer des Sondergerichtshofs für Sierra Leone, dem sie 2008/2009 für ein Jahr als Präsidentin vorstand.


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Quelle:
welt der frau - Die österreichische Frauenzeitschrift,
September 2010, Seite 46-49
mit freundlicher Genehmigung der Redaktion und der Autorin
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veröffentlicht im Schattenblick zum 29. Oktober 2010