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GRUNDGESETZ/089: Gespräch mit Staatskirchenrechtler Hans Michael Heinig (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz
Monatshefte für Gesellschaft und Religion 3/2009

"Das geltende System hat sich bewährt"
Ein Gespräch mit dem Staatskirchenrechtler Hans Michael Heinig

Die Fragen stellte Ulrich Ruh


Ist das deutsche System der Rechtsbeziehungen zwischen Staat und Kirche angesichts der veränderten religiös-gesellschaftlichen Situation zukunftsfähig? Welche Herausforderungen ergeben sich aus der stärkeren Präsenz des Islam? Darüber sprachen wir mit dem Staatskirchenrechtler Hans Michael Heinig.


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HK: Herr Professor Heinig, demnächst kann die Bundesrepublik ihren sechzigsten Geburtstag feiern. In all den Jahren ist sie mit den Kirchen und Religionsgemeinschaften recht gut ausgekommen. Inwiefern hat das mit den rechtlichen Regelungen des Verhältnisses zwischen Kirche und Staat in Deutschland zu tun?

HEINIG: Das ist gar nicht so leicht zu sagen. Das Grundgesetz der Bundesrepublik hat ja im Wesentlichen das Staatskirchenrecht der Weimarer Verfassung übernommen. Das Religionsverfassungsrecht des Grundgesetzes ist eigentlich eine Verlegenheitslösung. Man konnte sich im Parlamentarischen Rat nicht einigen, also griff man auf den in Weimar gefundenen Kompromiss zurück. Das heutige Staatskirchenrecht ist also Ergebnis eines doppelten Kompromisses, denn schon 1919 fiel es den linken und den bürgerlichen Parteien schwer, sich auf einen gemeinsamen Nenner zu einigen. Im Rückblick hat sich die gefundene Lösung als überaus intelligent erwiesen. Denn sie verbindet Kontinuität mit der Fähigkeit, sich an veränderte soziale und normative Verhältnisse anzupassen. Aber das Recht ist für das gedeihliche Miteinander von Staat und Religionsgemeinschaften nur ein Faktor unter vielen. Ein missratenes Grundgesetz kann desintegrativ wirken und verhindern, dass Religionsgemeinschaften eine positive Beziehung zur Verfassungsordnung entwickeln. Eine gute Verfassung kann eine aktive Rolle der Kirchen für das Gemeinwesen unterstützen. Aber für das produktive Zusammenwirken zwischen Staat und Kirche bedarf es mehr: politischen Willen und theologische Bereitschaft. Beides kann das Recht nicht garantieren, höchstens stimulieren.


HK: Recht, auch Staatskirchenrecht, muss jeweils interpretiert und angewandt werden. Welche Bilanz lässt sich in dieser Hinsicht nach 60 Jahren Grundgesetz ziehen?

HEINIG: Im Rückblick auf die Geschichte des Staatskirchenrechts in den vergangenen Jahrzehnten fällt auf, dass die Interpretationen sehr unterschiedlich ausfielen. Unmittelbar nach der Verabschiedung des Grundgesetztes etablierte sich die Koordinationslehre, nach der sich Staat und Kirche als Mächte auf gleicher Augenhöhe gegenüberstehen. Dieses Verständnis war der Tatsache geschuldet, dass man es mit dominanten Volkskirchen zu tun hatte. Auch prämierte die Nachkriegsgesellschaft die Rolle der Kirche im Nationalsozialismus. Die Kirchen sind aus der NS-Zeit zwar nicht unbeschädigt herausgegangen, aber sie waren doch die einzigen Großorganisationen, die nicht gleichgeschaltet waren und sich dem Totalitarismus erfolgreich widersetzten. Das gab ihnen in der jungen Bundesrepublik eine starke Stellung.


HK: Das änderte sich aber spätestens seit den siebziger Jahren, als die Kirchenaustrittszahlen anstiegen und die kirchliche Beteiligung zurückging. Seinerzeit blies der gesellschaftliche Wind den Kirchen ins Gesicht ...

HEINIG: Damals entdeckte man angesichts einer größer werdenden religiös-weltanschaulichen Pluralität, die übrigens aus heutiger Sicht gar nicht so groß war, das Potenzial des Grundgesetzes für die Bewältigung der damit einhergehenden Probleme. Das deutsche System des Staatskirchenrechts beruht zum einen auf einer starken Freiheitskomponente. Freiheit wird dabei nicht nur als Abwehr staatlichen Zwangs zu einer Religion verstanden, sondern auch als effektive Möglichkeit der Ausübung von Religion. Negative und positive Religionsfreiheit stehen hierdurch, anders als beispielsweise in Frankreich, in einem anderen, ich meine ausgeglichenerem Verhältnis. Zum Zweiten gehört zu dieser Freiheit immer auch, dass Religion öffentlich ausgeübt wird und Religion also auch im staatlich verfassten Raum der Öffentlichkeit präsent ist. Außerdem setzt das Modell des Grundgesetzes auf strikte Gleichbehandlung, was in der Anfangsphase weniger beachtet wurde als später. Die Verfassung spricht nicht von Kirchen, sondern immer von Religions- und Weltanschauungsgemeinschafen und verwendet so einen bewusst neutralen Begriff, der auch andere religiöse und weltanschauliche Gruppierungen einschließt. Aus dem Zusammenspiel von so verstandener Freiheit, Öffentlichkeit und Gleichbehandlung ergibt sich ganz zwangsläufig unsere deutsche Tradition der offenen und positiven Trennung von Staat und Kirche.


HK: In den siebziger Jahren legte die FDP Thesen vor, die auf eine strikte Trennung von Staat und Kirche zielten. Nicht nur die Partei selber hat sie inzwischen zurückgezogen, auch sonst fanden entsprechende Forderungen keine breite Unterstützung in der Öffentlichkeit. Warum eigentlich?

HEINIG: Seinerzeit war die Auseinandersetzung mit religiöser Pluralität eher ein intellektuelles Phänomen. Die Volkskirchen waren noch relativ stabil, wir hatten noch nicht die Wiedervereinigung und damit das Erbe der DDR-Kirchenpolitik, der Islam war noch kaum präsent, vor allem nicht in der Form des politischen Islam. Dennoch kam es damals aus dem Staatskirchenrecht selbst zu einer gewissen Neujustierung zugunsten der Sicherung von Minderheitenrechten. Seinerzeit ging es vor allem darum, dass sich nichtkirchliche oder nichtchristliche Minderheiten innerhalb der Mehrheitsgesellschaft Akzeptanz verschaffen wollten. Beispielsweise kämpften Sieben-Tages-Adventisten für das Recht, ihre Kinder am Samstag nicht in die Schule schicken zu müssen, nichtchristliche Schüler wollten nicht am gemeinsamen Schulgebet teilnehmen. Diese Konflikte ließen sich alle innerhalb des bestehenden Rechtsrahmens lösen, so dass Forderungen nach mehr Trennung nicht mehrheitsfähig waren und auch sachlich ins Leere liefen.


HK: Heute gehören gesamtdeutsch zwar immer noch zwei Drittel der Bevölkerung den beiden großen Kirchen an. Aber ihre gesellschaftliche Stellung ist deutlich schwächer geworden und ihre innere Erosion hat zugenommen. Muss das nicht in absehbarer Zeit Auswirkungen auf die staatskirchenrechtlichen Regelungen haben?

HEINIG: Wie sich die politischen Verhältnisse entwickeln werden, weiß heute kein Mensch. Aus rechtwissenschaftlicher Sicht verlangt der beschriebene religionssoziologische Wandel nur relativ wenige Veränderungen am rechtlichen Status quo. Das geltende System hat sich auf der verfassungsrechtlichen, aber auch auf der einfach-gesetzlichen Ebene bewährt. Es ist prinzipiell offen für neue und unserem Kulturkreis fremde religiöse Gruppierungen. Gerade der organisierte Islam in Deutschland strebt kein anderes religionsrechtliches System an, sondern möchte ausdrücklich in das bestehende System hinein. Das ist ein starker Indikator für die Attraktivität des staatskirchenrechtlichen Rahmens für all diejenigen, die religiös musikalisch sind.br>

HK: Aber das trifft für bestimmte Bevölkerungsschichten, gerade in Ostdeutschland, eben nicht zu. Inwieweit ergibt sich daraus ein Problem für die staatskirchenrechtlichen Regelungen?

HEINIG: Derzeit haben wir es mit einer zunehmenden Kombination aus alten Christentumsverächtern, einer intellektuell agilen, aber zahlenmäßig nicht signifikanten Gruppe, und einer neuen Islamophobie ehemals religiös Indifferenter zu tun. Daraus ergibt sich eine Art aggressives Neuheidentum, das wenig Sinn für die Freiheit derjenigen hat, denen Religion ein ernstes Anliegen ist. In Berlin ist diese Entwicklung mit Händen zu greifen, sie ist aber auch anderswo spürbar. Es ist deshalb eine ganz wichtige Aufgabe, Menschen, die der Religion distanziert gegenüberstehen, zu vermitteln, warum wir im Grundgesetz für die Religionsgemeinschaften mit dem Religionsunterricht, dem öffentlich-rechtlichen Körperschaftsstatus oder der Anstaltsseelsorge ein legitimes und sinnvolles Instrumentarium zur Förderung der Religionsfreiheit haben, das auch in Zukunft trägt. Es ermöglicht nämlich, religiöse Interessen der Gläubigen adäquat zu bedienen, ohne diejenigen zu diskriminieren, die mit Religion nichts anfangen können.


HK: In Berlin wird derzeit politisch über den Religionsunterricht gestritten. Aber auch anderswo könnte der konfessionelle Religionsunterricht im Sinn von Art. 7 des Grundgesetzes verstärkt unter Druck kommen. Viele Eltern wollen doch vor allem, dass ihre Kinder an der Schule Werte vermittelt bekommen und etwas über die verschiedenen Religionen erfahren. Hat da der herkömmliche Religionsunterricht nicht schlechte Karten?

HEINIG: Die Debatte um den Religionsunterricht ist sehr kompliziert, schon deshalb, weil dieser Unterricht unterschiedlichen Zwecken dient. In den Grundschulen soll der Religionsunterricht sicher auch eine Bindung an Glauben und Kirche herstellen. Er ist kein Missionsinstrument, aber durchaus ein Mittel zur religiösen Sekundärsozialisation. Später geht es dann eher darum, eine eigene Reflexion über Religion zu ermöglichen, über andere Religionen zu informieren, aber auch theologische Grundkenntnisse zu vermitteln. Daneben tritt eine Art ethisch-moralische Zurüstung der Schüler. Diese besondere Kombination ist nur im konfessionellen Religionsunterricht möglich. Noch ein weiterer Zusammenhang ist wichtig: Nur der konfessionelle Religionsunterricht erfüllt den Wunsch von Eltern, das auch in der Schule Glauben und Glaubensvermittlung eine Rolle spielen soll, wenn die öffentliche Schule wie in Deutschland Regelschule ist. Die Alternative ist wie in Frankreich ein starkes konfessionelles Privatschulwesen. Das wollten die Väter und Mütter des Grundgesetzes nicht. Auch deshalb haben sie den Religionsunterricht in der Verfassung verankert.


HK: Aber kann es nicht Situationen geben, in denen das Modell des konfessionellen Religionsunterrichts nicht funktioniert und deshalb andere Wege sinnvoll wären?

HEINIG: In Berlin gibt es 300 Religionsgemeinschaften, die beim Senat registriert sind. Religionsunterricht für so viele verschiedene Gemeinschaften ließe sich wohl kaum einrichten. Wir brauchen also durchaus eine Diskussion darüber, welches das angemessene Modell unter den jeweiligen Umständen ist. Das wichtigste Ziel muss doch sein, dass alle Schüler ein gewisses Maß an religiöser Bildung und an Kenntnissen über die Kulturgeschichte des Christentums mitbekommen. Die Frage ist dann, welche Instrumente richtig sind, um dieses Ziel zu verfolgen. Unter Bedingungen sehr forcierter religiöser Pluralität gibt es durchaus beachtliche Argumente dafür, dass möglichst viele Schüler an einer gemeinsamen Form des Religionsunterrichts teilnehmen. Die evangelische Kirche praktiziert in Hamburg selbst ein Modell des Religionsunterrichts für alle in evangelischer Verantwortung. Das ist aber etwas anderes als ein rein religionskundlicher Unterricht in staatlicher Hand. Denn erstens besteht die Möglichkeit, sich abzumelden und zweitens steht der religionskundliche Unterricht immer in der Gefahr, dass er eine aggressiv weltanschauliche Schlagseite bekommt. Oder es wird ein reiner Ethikunterricht gegeben, der auf Religion gar nicht eingeht. Beides ist nicht akzeptabel.


HK: Und wie sehen Sie auf diesem Hintergrund die aktuelle Berliner Konstellation in Bezug auf den Religionsunterricht?

HEINIG: Die Initiative "Pro Reli" verfolgt ein sehr intelligentes Konzept für die besonderen Berliner Verhältnisse. Es ist nicht das Modell des Grundgesetzes, sondern beruht auf einem Wahlrecht zwischen den Fächern Ethik und Religion. Damit wird ein unverzichtbares Element der Freiheitlichkeit in die Vermittlung religiöser Bildung eingebaut; zugleich hat jeder Schüler die Möglichkeit, auch beide Fächer zu besuchen. Leider gibt es in Berlin ein politisches Milieu, das eine geradezu kämpferisch-religionsfeindliche Perspektive einnimmt und nicht gesprächsbereit ist. Der Ethikunterricht soll nach deren Willen Distanz von der Herkunftsreligion schaffen. Wahlfreiheit stört da natürlich. Doch der freiheitliche Verfassungsstaat hat die Religionen seiner Bürger zu achten, da er weder eine Staatsreligion noch eine Staatsweltanschauung kennt.


HK: Außer durch den Religionsunterricht sind die Kirchen im öffentlichen Bildungssystem traditionell auch durch Theologische Fakultäten an staatlichen Universitäten präsent. Auch hier wird gefragt, ob solche Fakultäten angesichts der größer gewordenen religiösen Pluralität noch sinnvoll sind, zumindest in der derzeit bestehenden Anzahl. Sind die Theologischen Fakultäten auf absehbare Zeit in Gefahr?

HEINIG: Religion ist unbestreitbar ein wichtiges Forschungsfeld, heute mehr denn je. Wir sollten dabei nicht permanent die Theologie gegen andere Formen der Religionsforschung ausspielen. Es gibt keinen Automatismus zwischen dem verstärkten Ausbau der Religionssoziologie, Religionsethnologie, Religionspsychologie und dem Abbau theologischer Professuren. Die Theologie ist allerdings gut beraten, sich nicht allzu sehr auf ihre staatskirchenrechtlichen Garantien zu verlassen. Vielmehr muss sie aufzeigen, dass sie forschungsstark ist und ausreichend Studierende an sich binden kann. Das gelingt an einigen Standorten besser als an anderen.


HK: In anderen europäischen Ländern setzt man auf religionswissenschaftliche Fakultäten, denen unter Umständen konfessionell gebundene theologische Lehrstühle zugeordnet sind. Wäre so etwas auch in Deutschland sinnvoll oder überhaupt denkbar?

HEINIG: Es gibt hierzulande durchaus eine Diskussion darüber, ob man nicht "Departements for Religious Studies" einrichten sollte. Hier stellt sich zunächst ein rechtliches Problem: Nach dem deutschen Verfassungsrecht kann es wegen des Selbstbestimmungsrechts der Kirchen keine Theologischen Fakultäten ohne Mitwirkung der Kirchen geben. Die konfessionellen Elemente von Forschung und Lehre müssen an die jeweiligen Religionsgemeinschaften zurückgebunden werden. Das dient der Neutralität des Staates und der Freiheit der Religion. Es wäre zu klären, ob man über- beziehungsweise gemischt konfessionelle Einrichtungen im Sinn der erwähnten "Departments for Religious Studies" so organisieren kann, dass sie sich in diesen rechtlichen Rahmen einfügen.


HK: Und welchen Spielraum sehen Sie in dieser Frage?

HEINIG: In der staatskirchenrechtlichen Zunft betrachtet man entsprechende Versuche mit großer Skepsis. Aber das Verfassungsrecht garantiert der Theologie auch eine gewisse Entwicklungsoffenheit und Anpassungsmöglichkeit. Das Staatskirchenrecht kann der Theologie ja kaum vorgeben, wie sie ihr Fach genau zu betreiben hat, mit welchen Methoden, welchem Wissenschaftsverständnis und so weiter. Wenn man die für die Neutralität des Staates und die korporative Religionsfreiheit unverzichtbare Mitwirkung der Kirchen auch in neuen Strukturen absichert, würde ich dafür plädieren, Konkurrenz zuzulassen und dann zu schauen, wo die bessere Theologie und Religionsforschung gemacht wird.


HK: Nicht zuletzt die gewachsene Präsenz des Islam bildet für das in einer langen Tradition gewachsene deutsche Staatskirchenrecht eine Herausforderung. Wie ließe sich der Islam in unser System der Beziehungen zwischen Staat und Religionsgemeinschaften integrieren? Heinig: Lange gab es bei der Integration des Islam eine unübersehbare Zurückhaltung der politischen und administrativen Eliten. Man kannte die Akteure nicht, man beäugte sie kritisch. Der Islam wurde bei uns als solcher erst intensiv, und zwar als Problem, wahrgenommen, als man sich auch mit dem politischen Islamismus auseinandersetzen musste. Inzwischen sind auf Seiten der staatlichen Akteure deutliche Lernerfahrungen zu registrieren und der "good will" hat zugenommen. Der beste Ausdruck dafür ist die Islamkonferenz, deren Bedeutung nicht zu überschätzen ist. Man redet jetzt offiziell miteinander. "Natürlich können auch islamische Religionsgemeinschaften den Körperschaftsstatus erwerben"


HK: Aber reicht das schon aus? Inwieweit wären jetzt sozusagen die Muslime am Zug?

HEINIG: Die haben in dieser Situation eine Bringschuld. Die Muslime müssen sich, wenn sie vollumfänglich in das deutsche Staatskirchenrecht integriert sein wollen, in richtigen Religionsgesellschaften organisieren, was ihnen auch zumutbar ist. Schließlich geht es nicht darum, dass sich der Islam verkirchlicht, sondern dass die Muslime einen im rechtlichen Sinn legitimen Ansprechpartner für den Staat schaffen. Außerdem muss klar sein, wer Mitglied ist und wer nicht. Die Rechtsordnung muss zum Schutz der negativen Religionsfreiheit identifizieren können, wer zu einer Religionsgemeinschaft dazugehört.


HK: Der Islam könnte demnach ohne grundsätzliche Schwierigkeciten auch Körperschaft des öffentlichen Rechts werden, wie die Kirchen auf ihren verschiedenen Ebenen?

HEINIG: Natürlich können auch islamische Religionsgemeinschaften den Körperschaftsstatus erwerben. Die Verfassung garantiert ausdrücklich den Anspruch auf Neuverleihung. Rechtstechnisch braucht es dazu die Gewähr der Dauer durch eine gewisse Mindestzahl von Mitgliedern und eine Mindestbestandszeit, weil mit dem Körperschaftsstatus Rechte verbunden sind, die nicht von heute auf morgen mit der Organisation wieder wegfallen sollen. Das Bundesverfassungsgericht hat darüber hinaus judiziert, dass Rechtstreue, vor allem die Achtung der Verfassungsordnung, für den Körperschaftsstatus erforderlich ist. Dies bildet für eine islamische Religionsgemeinschaft gleichfalls kein grundsätzliches Verleihungshindernis, da man den Islam schwerlich per se für verfassungsfeindlich halten kann. Der entscheidende Schritt in das staatskirchenrechtliche System hinein ist deshalb die Bildung einer Religionsgesellschaft: Sie ist Voraussetzung für den Körperschaftsstatus, aber auch für den Religionsunterricht, für die besonderen Autonomiegewährleistungen, für einen besonderen Vermögensschutz und für eine Fülle weiterer Rechte.


HK: Wäre es dann auch sinnvoll, die rechtliche Stellung des Islam in Deutschland durch Abmachungen nach dem Muster der Staatskirchenverträge zu regeln?

HEINIG: Verträge haben häufig die Funktion, bestehende Rechte zu konkretisieren oder zu bekräftigen. Wenn man zum jetzigen Zeitpunkt Verträge schließen wollte, müsste man ihren Inhalt an die bisher vorhandenen rechtlichen Existenzformen im islamischen Bereich anpassen. Das könnte man durchaus machen. Ein solcher Vertragsschluss wäre eine starke symbolische Geste. Aber er würde zugleich den verfassungsrechtlich gewollten Druck, sich organisatorisch an das bestehende System anzupassen, ermäßigen. Und er würde diffizile Gleichbehandlungsfragen aufwerfen.


HK: Ein Bereich, der auf jeden Fall in absehbarer Zeit geregelt werden müsste, ist die seelsorgliche Betreuung muslimischer Angehöriger der Bundeswehr. In anderen europäischen Ländern gibt es längst muslimische Militärgeistliche. Was steht dem hierzulande entgegen?

HEINIG: Die seelsorglichen Bedürfnisse muslimischer Wehrpflichtiger in Deutschland müssen natürlich bedient werden. Ob dafür ein Vertrag wie der evangelische Militärseelsorgevertrag erforderlich oder zumindest wünschenswert ist, darüber lässt sich nachdenken. Ein Vertrag gewährt natürlich eine gewisse Sicherheit, so sich geeignete Vertragspartner finden; es ließen sich auch gewisse finanzielle Arrangements treffen. Für die effektive Integration des Islam in das Staatskirchenrecht wäre es vielleicht überhaupt hilfreich, mit punktuellen Vereinbarungen zu beginnen, anstatt gleich die ganz große Lösung anzustreben. Es müssen ja für den Islam nicht sofort genau die Strukturen etabliert werden, die die katholische und evangelische Kirche kennen. Das gilt auch für den Religionsunterricht: Zurzeit gibt es in keinem Bundesland ordentlichen islamischen Religionsunterricht, sondern nur Modellversuche. Das kann man beklagen; die bisherigen Bemühungen in den Ländern bieten aber auch die Möglichkeit für die staatlichen wie die religiösen Akteure, sich kennen zu lernen, Vertrauen zu gewinnen und neue Kooperationsbeziehungen einzuüben.


HK: Die großen Kirchen sind auch in den Rundfunkräten der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten vertreten. Wird es in absehbarer Zeit daneben auch muslimische Vertreter geben?

HEINIG: Eher nicht. Die Kirchen sind als Teil der Zivilgesellschaft in den Rundfunkgremien vertreten. Das deutsche Staatskirchenrecht ist im Ansatz strikt auf Gleichheit ausgerichtet. Aber Gleichheit heißt nicht, dass Differenzierung per se ausgeschlossen wäre. Vielmehr gibt es Bereiche, wo die Verfassung Differenzierung zulässt oder sogar voraussetzt. In den Aufsichtsgremien des öffentlichen und privatrechtlichen Rundfunks sind Organisationen vertreten, die wesentliche Teile der Gesellschaft abbilden. Es kommt also auf Masse an. Und die bringen nun einmal die großen Kirchen mit. Ebenso ist nur der Deutsche Gewerkschaftsbund vertreten und nicht auch eine konkurrierende Kleinstgewerkschaft. Natürlich könnte man überlegen, ob nicht an der einen oder anderen Stelle das Spektrum erweitert werden sollte, etwa durch einen zusätzlichen Sitz, der dann zwischen kleineren Religionsgemeinschaften rotiert; aber es wäre nicht nur unpraktikabel, sondern schlicht verfehlt, alle religiösen Gruppierungen formal gleich einzubeziehen. Die zahlenmäßige Größe einer Religionsgemeinschaft ist hier ein legitimes Differenzierungsmerkmal.


HK: Die beiden großen Kirchen in Deutschland haben frühzeitig gegenüber der Europäischen Union deutlich gemacht, dass sie das für sie vorteilhafte staatskirchenrechtliche System im Zug der weiteren europäischen Einigung nicht zur Disposition stellen wollen. Der noch nicht überall ratifizierte Vertrag von Lissabon enthält jetzt die Klausel, wonach die EU die Staat-Kirche-Beziehungen in den Mitgliedsländern respektiert. Ist das deutsche Staatskirchenrecht damit europafest oder könnte es doch noch unter Druck geraten? Heinig: Wenn der Lissabonner Vertrag in Kraft tritt, haben wir eine schöne Lösung. Die Grundstrukturen des Staat-Kirche-Systems der Mitgliedstaaten bleiben unangetastet. Aber auch nur sie. Die Aufwertung der bisher schon bestehenden Kirchenerklärung von Amsterdam zu einem Vertragsartikel bedeutet nicht, dass die Kirchen von jeglicher Auswirkung des Europarechts befreit wären. Es gibt Kirchenvertreter, die sich so etwas wünschen. Aber das wäre nicht sachgerecht und würde der Logik der europäischen Integration widersprechen. Es muss vielmehr darum gehen, dass die legitimen Freiheitsanliegen der Religionsgesellschaften wie auch die mitgliedsstaatlichen Besonderheiten im Staatskirchenrecht in der europäischen Rechtsetzung und Politikformulierung adäquat berücksichtigt werden.


HK: Für welche Bereiche wird das in besonderem Maß relevant?

HEINIG: Beispielsweise im kirchlichen Arbeitsrecht, um das lange auF europäischer Ebene gerungen wurde. Der europäische Gesetzgeber hat einen vernünftigen Mittelweg gewählt. Er möchte Diskriminierungen im Arbeitsleben verhindern. Im kirchlichen Arbeitsrecht gibt es auf den ersten Blick religiös motivierte Ungleichbehandlung, etwa wenn Kirchenzugehörigkeit vorausgesetzt wird. Aber die EU akzeptiert, dass die Mitgliedsstaaten eigene Traditionen im kirchlichen Arbeitsrecht ausgebildet haben und erkennt diese an, soweit das mit dem Anliegen der Antidiskriminierung gerade noch vereinbar ist. Das sind Kompromisslinien, die das Grundsätzliche nicht berühren.


HK: Und worin liegen dann die zukunftsweisenden Züge des künftigen europäischen Religionsrechts? Ist es die Verpflichtung der europäischen Institutionen zu einem regelmäßigen Dialog mit den Religionsgemeinschaften?

HEINIG: Diese Dialogpflicht bedeutet eine symbolische Absage an einen strikten Laizismus nach französischem Muster. Wir haben ja in Europa sehr unterschiedliche Traditionen in den Beziehungen zwischen Staat und Religionsgemeinschaften. Eine Zeitlang propagierte man die deutsche Lösung als die gute Mitte zwischen Laizismus auf der einen und Staatskirchentum auf der anderen Seite. Aber es ist in den einzelnen Staaten keine vollständige Konvergenz eingetreten: weder werden in Skandinavien, Großbritannien oder Griechenland alle staatskirchlichen Elemente abgeschafft, noch verschwindet der Laizismus, wie sich gerade an der französischen Diskussion um das Kopftuch von Schülerinnen zeigt. Die Dinge sind in den Mitgliedsstaaten der EU kompliziert und werden es vermutlich auch bleiben. Deshalb ist es bemerkenswert, dass die EU selbst die Religionsgemeinschaften als eigenständige Elemente des öffentlichen Lebens würdigt. Das entspricht ganz den Vorstellungen des Grundgesetzes.


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Dr. jur. Hans Michael Heinig (geb. 1971) studierte Rechts-, Geschichts- und Staatswissenschaften. Seit dem Frühjahr 2008 ist er Professor für Öffentliches Recht an der Universität Göttingen und Leiter des Kirchenrechtlichen Instituts der Evangelischen Kirche in Deutschland. Arbeitsschwerpunkte: Staatskirchenrecht, Verfassungstheorie und Sozialrecht.


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Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
63. Jahrgang, Heft 3, März 2009, S. 125-130
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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. Mai 2009