Schattenblick →INFOPOOL →RECHT → FAKTEN

GRUNDGESETZ/095: Zur grundgesetzlichen Ordnung von Staat und Religion (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz
Monatshefte für Gesellschaft und Religion 7/2009

Religiöse Pluralität normativ verarbeitet
Zur grundgesetzlichen Ordnung von Staat und Religion

Von Ansgar Hense


Über die grundgesetzliche Ordnung von Staat und Religion wird gegenwärtig nicht nur theoretisch diskutiert. Das zeigt sich an der Verleihung des Körperschaftsstatus an die Zeugen Jehovas in den einzelnen Bundesländern genauso wie an der Frage, ob muslimische Gruppierungen als Religionsgesellschaft im Rechtssinn qualifiziert werden können. Ohne die historische Dimension lässt sich der Bedeutungsgehalt der religionsverfassungsrechtlichen Normen des Grundgesetzes kaum adäquat erfassen.


*


Das "Gitter der geschichtlichen Jahrestage" (Hans-Ulrich Gumbrecht) 2009 umfasst nicht nur das 60-jährige Jubiläum des Grundgesetzes oder den 20. Jahrestag des Mauerfalls, sondern betrifft auch das Staatskirchenrecht: Die aus der Weimarer Reichsverfassung vom 11. August 1919 stammenden Regelungen des Grundgesetzes zum Verhältnis von Staat und Religion blicken auf eine 90-jährige Regelungstradition zurück. Da der Parlamentarische Rat sich vor sechzig Jahren auf keine neue Regelungskonzeption einigen konnte, war Art. 140 GG ein Kompromiss, durch den die Artikel 136, 137, 138, 139 und 141 WRV dem Grundgesetz inkorporiert worden sind.

Vom 90. Jahrestag auf einen obsoleten oder gar anachronistischen Normenbestand schließen zu wollen, verfehlt die gegenwärtige Bedeutung dieser Bestimmungen als "vollgültiges Verfassungsrecht" (so das Bundesverfassungsgericht). Gerade über die grundgesetzliche Ordnungskonfiguration von Staat und Religion wird gegenwärtig nicht nur theoretisch diskutiert. Die Diskussion der Bezeichnungsfrage - Staatskirchenrecht oder Religions(verfassungs)recht - ist ein Symptom dafür, dass sich Wesentliches gewandelt hat.


Die praktische Relevanz zeigt sich an der Verleihung des Körperschaftsstatus an die Zeugen Jehovas in den einzelnen Bundesländern genauso wie an der Frage, ob muslimische Gruppierungen als Religionsgesellschaft im Rechtssinn qualifiziert werden können. Weitere Islamfragen bieten konkretes Anschauungsmaterial für Streitstand und Probleme: der Bau von Moscheen, das Kopftuchtragen von Beamtinnen oder auch Angestellten in einem privaten Arbeitsverhältnis, die Einführung eines islamisches Religionsunterrichts, die Befreiung aus religiösen Gründen vom koedukativen Sport- und Schwimmunterricht, die Teilnahme an Klassenfahrten.

Angesichts nicht weniger integrationspolitischer Herausforderungen besteht die Gefahr, die grundgesetzliche Ordnung von Staat und Religion als alleiniges Vehikel von Integration zu betrachten und damit das Religionsverfassungsrecht zu überfordern. Die Bundesregierung vermeidet dieses Missverständnis, indem sie zwischen Deutscher Islam Konferenz und Integrationsgipfel unterscheidet.


1919 - 1949 - 1989/90

Bereits die besondere Regelungstechnik, mit der das Grundgesetz durch Art. 140 auf einen älteren, vorher geltenden verfassungsrechtlichen Normenbestand zurückgreift und diesen dem Grundgesetz inkorporiert, verdeutlicht, dass die Geschichte der verfassungsrechtlichen Ordnung von Staat und Religion für die Erschließung der verfassungsrechtlichen Lage von Bedeutung ist. Gerade in diesem Rechtssektor durchdringen sich Vergangenheit und Gegenwart.

Die aus der Weimarer Verfassung übernommenen Regelungen sind verbunden mit ihrer eigenen Auslegungs- und Anwendungsgeschichte zwischen 1919 und 1933. Zum Schicksal dieses Normenbestandes gehört als Normkontext auch die Geschichte während des nationalsozialistischen Regimes: Neben der Shoa als unvergleichlichem Verbrechen gegen die jüdische Religion und die einzelnen Religionsangehörigen ist die nationalsozialistische Religions- und Kirchenpolitik mit dem Konzept der Entkirchlichung und Entkonfessionalisierung als Kontext der damals zu einfachen Gesetzesrecht degradierten Weimarer Reichsverfassung im Blick zu behalten.


Die Fundamentalzäsur Weimarer Republik/Nationalsozialismus führte dann nach 1945 über die Aufrichtung einer religionsverfassungsrechtlichen Ordnung in einzelnen Landesverfassungen zu dem erwähnten grundgesetzlichen Kompromiss. Die grundgesetzliche Ordnung ist 1990 zudem auf die östlichen Bundesländer erstreckt worden. Eine besondere Zäsur, weil die in der alten Bundesrepublik bewährte und ausgebaute staatskirchenrechtliche Ordnung nunmehr auf eine durch realsozialistische Politik geprägte gesellschaftliche Situation trifft, in der nicht mehr über 90 Prozent der Bevölkerung einer der großen christlichen Kirchen angehört, sondern es eine zahlenmäßige Mehrheit von Bürgern gibt, die nicht kirchlich oder religiös gebunden sind.

Wenn auch schon die alte Bonner Republik sich vorher religiös-kirchlich verändert hatte und in Anlehnung an das berühmte Diktum des Jesuiten und Kirchenrechtlers Ivo Zeiger als volkskirchliches Missionsland galt, so zeigt sich, dass sich die Religionen im östlichen Landesteil und auch in größeren Städten in einer Minderheitensituation befinden und die grundgesetzlichen Rechtspositionen im Verhältnis von Staat und Religion nicht (mehr) einfach als Mehrheitsrechte apostrophiert werden können.


Die das Verhältnis von Staat, Kirche und Religion betreffenden verfassungsrechtlichen Entwicklungslinien sind somit durch die Jahreszahlen 1919 - 1949 - 1989/90 als Kristallisationspunkte und Zäsuren markiert. Innerhalb der vierzig Jahre der 1990 untergegangenen DDR und der alten Bonner Republik lassen sich wiederum unterschiedliche Entwicklungsphänomene des Verhältnisses von Staat, Kirche und Religion für beide Länder feststellen, die nach 1989 nicht einfach abbrachen. Aber die doppelte, geteilte Geschichte ist durch die Wiedervereinigung 1990 beendet worden. 2009 kann die religionsverfassungsrechtliche Geschichte der "neuen" wiedervereinigten Bundesrepublik Deutschland schon auf eine fast zwanzigjährige eigene Geschichte zurückblicken.

Die historische Komplexität lässt sich noch dadurch steigern, dass die rechtlichen Regelungen des Verhältnisses von Staat und Religion zu Recht als "Reformationsfolgenrecht" (Hans Michael Heinig) qualifiziert werden, da sich die heutige Ordnungskonfiguration von Staat und Religion als Spätfolge des Zeitalters der Konfessionalisierung im 16. Jahrhundert nachweisen lässt. Am neuzeitlichen Anfang stand nach dem berühmten Diktum Gerhard Anschütz' zwar nicht Glaubensfreiheit, sondern Glaubenszweiheit, jedoch erwies sich die rechtliche Verarbeitung religiöser Pluralität als wirkmächtiger dynamischer Faktor.

In seinen zahlreichen grundlegenden Studien hat Martin Heckel dargelegt, dass die Entwicklung seit der Reformation zu den religionsrechtlichen Rahmen- und Mantelbegriffen geführt hat, die als säkulare Hülle in der Lage sind, die Freiheit des religiösen und religionsgemeinschaftlichen Wirkens nach dem jeweiligen Selbstverständnis zu ermöglichen und zu schützen. Dies begann nicht erst mit der freiheitsorientierten und -fundierten Weimarer Reichsverfassung, sondern war schon in der Ausgleichsordnung des Augsburger Religionsfriedens und des Westfälischen Friedens angelegt.


Das Grundgesetz ist religionsverfassungsrechtlich kein völliger Neuanfang

Ohne die historische Dimension lässt sich der Bedeutungsgehalt der religionsverfassungsrechtlichen Normen des Grundgesetzes kaum adäquat erfassen. Nicht immer hinreichend wird dieses Verstricktsein in Geschichte und Geschichten gesehen. Gerade der - praktisch zwar gescheiterten, ideell-theoretisch aber doch weiterwirkenden - Reichsverfassung der Paulskirche von 1848/49 kann besondere Bedeutung auch für das gegenwärtige Recht zugemessen werden. Die Verfassungsarbeiten der Paulskirche dienten als Orientierungspunkt für die beiden demokratischen Verfassungsgebungen in Weimar und in Bonn. Was die Religionsfreiheit und das religionsgemeinschaftliche Selbstbestimmungsrecht anbelangt sind die Paragraphen 145 und 147 der Paulskirchenverfassung Pionierarbeiten für eine vor allem freiheitliche Grundlegung der Ordnung von Staat und Religion.


Der grundlegende religionsverfassungsrechtliche Umbruch der Weimarer Reichsverfassung zeigt sich besonders daran, dass ein letzter Schritt von einem christlichen zu einem religiös und weltanschaulich neutralen Staat gegangen worden ist. Die im langen 19. Jahrhundert normierten Begünstigungen vor allem zugunsten der christlichen Kirchen wurden durch die Weimarer Reichsverfassung zur Rechtsposition für sämtliche Religionsgesellschaften und sogar Weltanschauungsgemeinschaften ausgebaut.

Die Weimarer Reichsverfassung knüpfte aber nicht nur an die Freiheitskonzeption der Paulskirchenverfassung an, sondern fügte ihr noch zusätzliche Regelungsaspekte hinzu, von denen der Körperschaftsstatus der bemerkenswerteste ist. Während Art. 137 Abs. 5 Satz 1 WRV den Kirchen und auch anderen Religionsgesellschaften eine statusrechtliche Bestandsgarantie zubilligt, können auch andere Religionsgesellschaften diesen Rechtsstatus beantragen, wenn sie durch ihre Verfassung und die Zahl ihrer Mitglieder die Gewähr der Dauer bieten (so Art. 137 Abs. 5 WRV). Der Weimarer Verfassungsgeber wollte den Kirchen, aber auch anderen Religionsgesellschaften eine Rechtsform zugestehen, die sie über andere gesellschaftliche Gruppierungen heraushebt. Der öffentlich-rechtliche Status bereitet bis heute Schwierigkeiten und führte unter der Weimarer Reichsverfassung zu der Fehlvorstellung, dass dem Staat weitgehende Aufsichtsrechte über die "korporierten" Kirchen und Religionsgemeinschaften wegen dieses Status zukommen sollte (die so genannte Korrelatentheorie).


Das Grundgesetz ist religionsverfassungsrechtlich kein völliger Neuanfang, sondern ein anderer Anfang. Bei seiner Auslegung wird an Neuakzentuierungen in der Endphase der Weimarer Republik angeknüpft und ihnen unter dem Grundgesetz zu größerer Wirkmächtigkeit verholfen. Ein programmatischer Fanfarenstoß war Rudolf Smends staatskirchenrechtliches Diktum zu den dem Grundgesetz inkorporierten Bestimmungen der Weimarer Reichsverfassung aus dem Jahr 1951: "Aber wenn zwei Grundgesetze dasselbe sagen, so ist es nicht dasselbe." Nach den Erfahrungen der nationalsozialistischen Zeit sollte unter freiheitlicheren Vorzeichen das Verhältnis von Staat und Kirche neu austariert werden. Das Klima dafür war günstig.


Zwischen 1949 und 1989 erfolgte dann in der alten Bundesrepublik eine bis dahin ungekannte Erweiterung der staatskirchenrechtlichen Ordnung. Hierbei fungierte das Bundesverfassungsgericht als Motor und bestätigte ein anderes Diktum Rudolf Smends, dass das Grundgesetz so gelte, wie es durch dieses Gericht ausgelegt werde. Mit der berühmten Lumpensammler-Entscheidung 1968 definierte das Gericht den Schutzbereich der Religionsfreiheit sehr weit. Entgegen der ursprünglichen Auslegung und Beschränkung auf die Kultusfreiheit sind nach dieser Entscheidung auch die karitativ-diakonischen Tätigkeiten als Religionsausübung geschützt und mitunter sogar religionsneutrale Handlungen, wenn das Selbstverständnis der Grundrechtsträger dies als Religionsausübung qualifiziert. In den siebziger und achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts erfolgte dann eine Ausdehnung des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts, die das Bundesverfassungsgericht insbesondere an den Fragen des kirchlichen Arbeitsrechtes entwickelte.

Wurde unmittelbar nach 1990 eine Renaissance des Staatskirchenrechts angesichts der besonderen Rolle der Kirchen bei der friedlichen Selbstdemokratisierung der DDR konstatiert, zeigten sich seitdem aber auch zunehmend Neuakzentuierungen im vermeintlich festgefügten Staatskirchenrecht der Bundesrepublik Deutschland.


Bewältigung zunehmender Multireligiösität

Die Wandlungen der religiösen Situation ändern wenig an der Präferenz für so genannte Staatskirchenverträge. Die nach 1989 bis heute geschlossenen vertraglichen Absprachen zwischen Staat und Kirchen oder Religionsgemeinschaften führten - nach den Verträgen der Weimarer und der "alten Bundesrepublik" - zu einer bemerkenswerten "dritten Generation" (Michael Germann) von so genannten Staatskirchenverträgen. Neben das bewährte kooperative Miteinander zwischen den Bundesländern und den christlichen Kirchen und jüdischen Gemeinschaften im Schatten der grundgesetzlichen Ordnung von Staat und Religion sind nach 1990 aber verschiedenste Rechtsprobleme mit anderen Religionen zutage getreten.


Wie die Kirchen ihre rechtlich-religiösen Interessen vor 1989 vielfach nur mit Hilfe des Bundesverfassungsgerichts erstreiten konnten, so kommt dem Gericht nun auch bei der Bewältigung der zunehmenden Multireligiösität geschuldeten Rechtsprobleme, eine, vielleicht sogar die Hauptrolle zu. Schlagwortartig lassen sich folgende Leitentscheidungen aus Karlsruhe anführen.

Seit der Bahai-Entscheidung vom Februar 1991 gelten höhere Plausibilitätsanforderungen für eine Berufung auf das Grundrecht der Religionsfreiheit; in der Schächtentscheidung vom Januar 2002 stellte das Gericht nicht das Grundrecht der Religionsfreiheit in den Vordergrund, sondern wollte dieses Grundrecht nur noch "schutzbereichsverstärkend" zur Berufsfreiheit eines muslimischen Metzgers heranziehen.

2003 folgte dann die Entscheidung über das Kopftuch der Muslima, die verbeamtet werden möchte. Mit dieser Entscheidung ist dem zuständigen Landesgesetzgeber aufgegeben worden, über die Zulässigkeit des Kopftuchs in Gesetzesform zu disponieren und damit über die Grenzen der Religionsausübung einer verbeamteten Lehrerin zu entscheiden. Sehr eingeschärft hat das Gericht in dieser Entscheidung, dass das Grundrecht der Religionsfreiheit eine "gleiche Freiheit" für alle sei. Wenn die religiöse Kleidung einer Religion während des täglichen Dienstes als Beamte(r) nicht zugelassen werde, müsse sie auch für andere verboten sein. Im Bereich der Religionsfreiheit hat sich das Bundesverfassungsgericht damit recht klar gegen Privilegierungen aus Gründen kultureller Identität oder Ähnlichem ausgesprochen.


Die Institutionalität von Religion ist mitbedacht

Eines der großen, nicht gelösten Probleme ist die Frage: Wie wirkt sich das Grundrecht der Religionsfreiheit (Art. 4 GG) auf die Weimarer Regelungen aus? Worum geht es? Fundamental um die Frage, ob Religion ein Phänomen ist, das mehr individuell-freiheitlich zu normieren ist oder ein Phänomen, das wegen seiner Gemeinschaftsgebundenheit und -bezogenheit starke korporativ-institutionelle Aspekte aufweist. Und wie muss sich dies normativ auswirken?

Die verfassungsrechtliche Ordnungskonfiguration von Staat und Religion in Deutschland ist - anders als in anderen Staaten - nicht allein durch eine Leitidee geprägt, sondern hat die Institutionalität von Religion schon mitbedacht: Religiöse Freiheit und die Fortführung institutioneller Gewährleistungen und Verbindungen werden miteinander kombiniert. Der verfassungsrechtlich - mit Ausnahme Bremen und Berlin (Art. 141 GG) - verbürgte Religionsunterricht (Art. 7 Abs.3 GG) ist hierfür ebenso ein Beispiel wie die Gewähr von Anstaltsseelsorge und Anderem.

Die Verfassung geht a priori davon aus, dass Religionsgemeinschaften beziehungsweise -gesellschaften existieren, die diese Gewährleistungen beanspruchen und auch ausfüllen sollen. Wenn neben die individual-freiheitlichen Aspekte noch institutionelle gestellt werden, führt dies zu der Frage: Sind die religiösen Institutionen nur Sachwalter der religiösen Freiheiten ihrer Mitglieder oder kommt ihnen eine eigene Bedeutung zu?

Die religionsverfassungsrechtlichen Bestimmungen des Grundgesetzes stellen auf die Synonyme Religionsgemeinschaft beziehungsweise -gesellschaft als Schlüsselbegriff ab, die sich von Vereinen mit vereinzelten religiösen Zielen unterscheiden. Dies deutet darauf hin, dass es einen institutionellen Selbststand gibt und auch Institutionen Freiheiten für sich beanspruchen können, die nicht losgelöst von den Grundrechten ihrer Mitglieder sind, aber doch noch eine andere Facette von Freiheitlichkeit absichern wollen. Ein solches Institutionalitätsverständnis ist für solche Religionen ungewohnt, die nicht über sonderlich komplexe Organisationsstrukturen verfügen.

Hier fangen dann Spannungen und Kräfte im religionsverfassungsrechtlichen Gefüge des Grundgesetzes zu wirken an. Konkret: Muss sich der Islam "verkirchlichen"? Allein schon die Umschreibung "der Islam" ist problematisch. In Deutschland ist nach dem grundgesetzlichen Verständnis nicht etwa "die (römisch-) katholische Kirche" Religionsgemeinschaft, sondern "Zurechnungsendsubjekte" für die Rechtspositionen sind die einzelnen Diözesen.


Dass es bei einer muslimischen Gruppierung nicht um "Verkirchlichung" gehen kann, dürfte unmittelbar einsichtig sein. Darf es aber nicht trotzdem Institutionalisierungsanforderungen geben, die nicht einfach als "Verkirchlichung" abgetan werden dürfen? Wie ist der Begriff dann aber zu definieren? Welche Organisationsanforderungen kann der religiös-weltanschaulich neutrale Staat stellen? Es drängt sich der Eindruck auf, dass nicht wenige öffentliche Akteure nicht nur über keine handhabbaren Begriffe verfügen, sondern auch kein Problembewusstsein haben. Das Phänomen Religion und die Definition von Schlüsselbegriffen wie Religionsgemeinschaft bereitet bei der Rechtsanwendung jedenfalls erhebliche Schwierigkeiten.

Schwierig wird es, wenn die verfassungsrechtlichen Gewährleistungen zugunsten der Religionsgemeinschaften "vergrundrechtlicht" werden. Auf der einen Seite kann die grundrechtliche Fundierung der Legitimation solcher Verfassungsverbürgungen dienen. Auf der anderen Seite kann dies auch zur Auflösung führen, da mit der gegebenenfalls sehr großzügigen Gewährleistungsreichweite des Grundrechts der Religionsfreiheit sämtliche institutionellen Anforderungen unterlaufen werden können.


Kongruenz von Religionsfreiheit und religionsgemeinschaftlichem Selbstbestimmungsrecht

Schon in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts haben nicht wenige Rechtswissenschaftler eine Kongruenz von Religionsfreiheit und religionsgemeinschaftlichen Selbstbestimmungsrecht angenommen. Die auch für die angestammten Kirchen und Religionsgemeinschaften attraktive und Legitimation liefernde grundrechtliche Betrachtungsweise hat die grundgesetzliche Ordnung neu justiert. Am nachhaltigsten beim Körperschaftsstatus der Religionsgemeinschaft als "rätselhaften Ehrentitel" (Rudolf Smend). Seit der vieldiskutierten, aber auch nicht selten begrüßten Zeugen-Jehovas-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im Jahr 2000 wird der Körperschaftsstatus nach Art. 140 GG/137 Abs.5 WRV als Funktion der Religionsfreiheit aufgefasst und hat damit dem Grundrecht gegenüber dienende Funktion.

Durch dieses Urteil ist all den wissenschaftlichen Ansätzen höchstrichterlich eine Absage erteilt, die von einer Religionsgemeinschaft Staatsloyalität, Gemeinwohldienlichkeit oder anderes erwarten. Gleichwohl gibt es diese Ansätze noch. Ungeachtet der Fragen, was Gemeinwohldienlichkeit bedeutet und ob dahinter nicht leicht irreale Bilder, Vorstellungen oder Erwartungen einer vollkommenen Gesellschaft hervorlugen, stellen sich gegenwärtig recht grundsätzliche Probleme im verfassungsrechtlichen Verhältnis von Staat und Religion: Ist die Religionsfreiheit wirklich die "Allesentscheiderin"? Ernten die seit den siebziger Jahren vertretenen Auffassungen, die Vieles, vielleicht sogar Sämtliches aus dem Grundrecht der Religionsfreiheit ableiten wollten, nicht die Früchte, die sie gesät haben? Lässt eine stark grundrechtlich orientierte Betrachtungsweise der dem Grundgesetz inkorporierten Bestimmungen der Weimarer Reichsverfassung die institutionelle Komponente von Religion zurücktreten, weil nicht alle Religionen in gleichem Maße sich nach ihrem Selbstverständnis zu einer Selbstorganisation verpflichtet sehen? Oder wäre in einem solchen Fall dann nicht das Ergebnis: Dann kann diese Religion die betreffende religionsverfassungsrechtliche Gewährleistung nicht beanspruchen!? Keine einfachen Fragen.


Keine Privilegierung der Kirchen

Die grundgesetzliche Ordnung von Staat und Religion ist in Bewegung und wird zudem durch das Europarecht mit feinen oder auch gröberen Nadelstichen traktiert. Ob die das Grundgesetz kennzeichnende "flexible Kontinuität" gegenwärtig überdehnt wird, bleibt abzuwarten. Eine rechtsgeschichtliche Betrachtungsweise gibt deutliche Hinweise darauf, dass die religionsverfassungsrechtliche Ordnung in Deutschland zwei Seiten besitzt: Die Freiheitsgeschichte ist immer begleitet von rechtlichen Gewährleistungen zugunsten der Religionsgemeinschaften als religiöse Kerninstitutionen.


Beides sind wichtige, gleichberechtigte Aspekte, die sich etwa im religionsgemeinschaftlichen Selbstbestimmungsrecht institutionell-freiheitlich treffen. Eine Privilegierung der Kirchen war damit de iure nicht verbunden, da seit 1919 die verfassungsrechtlichen Verbürgungen für alle Religionsgemeinschaften gleichermaßen gelten. Schon vor 90 Jahren hat der Verfassungsgeber eine verfassungsrechtliche Ordnung konzipiert, die in der Lage ist, religiöse Pluralität normativ zu verarbeiten. Der religionsverfassungsrechtliche Rahmen des Grundgesetzes ist so neutral, dass er allen Religionen offensteht, sie aber in bestimmten Bereichen Organisationsanforderungen erfüllen müssen. Was das aber im Einzelnen bedeutet, wo Grund und Grenzen sowohl der grundrechtlichen Religionsfreiheit als auch der institutionellen Gewährleistungen (zum Beispiel Selbstbestimmungsrecht, Körperschaftsstatus) liegen, ob und wie die Anwendung der Normen modifiziert werden sollte, wenn sie auf gewandelte Religionsrealitäten stoßen, sind schwierige Fragen. Der Wortlaut der Normen wird am Ende gleichgeblieben sein, die Interpretation wird sich aber gewandelt und die religiöse Situation verändert haben. Keine religiöse Gruppierung, Religionsgemeinschaft oder Kirche ist davon unberührt.


*


Prof. Dr. iur. Ansgar Hense ist zur Zeit hauptberuflich tätig am Institut für Staatskirchenrecht der Diözesen Deutschlands und der Juristischen Fakultät der TU Dresden.


*


Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
63. Jahrgang, Heft 7, Juli 2009, S. 354-358
Anschrift der Redaktion:
Hermann-Herder-Straße 4, 79104 Freiburg i.Br.
Telefon: 0761/27 17-388
Telefax: 0761/27 17-488
E-Mail: herderkorrespondenz@herder.de
www.herder-korrespondenz.de

Die "Herder Korrespondenz" erscheint monatlich.
Heftpreis im Abonnement 10,40 Euro.
Das Einzelheft kostet 12,00 Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 15. September 2009