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GRUNDGESETZ/097: Wie kommt Gott in das Grundgesetz? (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 9/2009

Wie kommt Gott in das Grundgesetz?
Grundlagen und Grenzen des Gottesbezuges

Von Ernst Gottfried Mahrenholz


Viele Menschen wären erstaunt, wenn man ihnen sagte, dass Gott einen Platz auch im Grundgesetz hat. An welcher Stelle, würden sie fragen. Es ist die feinste Stelle, nämlich der Vorspruch, Präambel genannt. Dort heißt es, das deutsche Volk habe sich das Grundgesetz gegeben "im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen". Die Wendung ist, genau betrachtet, starker Tobak. Sind Menschen, die nicht an Gott glauben, also nicht verfassungstreu? Soll sich die Bundesrepublik an eine Instanz binden, die mit irdischen Mitteln nicht erreichbar ist?


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Wie war die Situation Deutschlands, als das Grundgesetz beschlossen wurde? Die Städte waren zerstört, Millionen von Menschen in ganz Europa gefallen oder ermordet. Es gab Millionen von Witwen, von trauernden Müttern und vaterlosen Kindern. Hunderttausende deutscher Soldaten befanden sich in Kriegsgefangenschaft, ebenso viele wurden noch vermisst. Ans Licht kamen die furchtbaren Gräuel des Hitlerregimes. Deutschland war das verachtetste Land in Europa. Und vor Augen lag der andere Teil Deutschlands, die spätere DDR, in der sich Rechtlosigkeiten und Religionsverachtung einer kommunistischen Ideologie deutlich abzeichneten. Das war die Bilanz des Hitlerreiches. Da lag es nicht fern, seiner verbrecherischen Gottlosigkeit die Nennung Gottes entgegenzusetzen.

Zu beachten bleibt: Die Nennung Gottes ist eine nominatio dei, keine invocatio dei. Das heißt, Gott wird genannt, aber nicht angerufen. Die Gottesnennung im Grundgesetz hat keine legitimierende Funktion. Diese ist vielmehr die in der Präambel - zu Recht oder nicht - angeführte verfassungsgebende Gewalt des Volkes. Eine legitimierende Kraft der Nennung Gottes könnte - was hier nicht zu erörtern ist - nur in der invocatio dei gefunden werden, für die einheitlich gilt, dass die Verfassungsschöpfung "im Namen" Gottes bzw. der unterschiedlich prädikatisierten Dreifaltigkeit geschieht.


Blick nach Europa

Von den sieben europäischen Verfassungen mit einleitendem Gottesbezug ist die nominatio dei der im Jahre 1996 beschlossenen Verfassung der Ukraine, ähnlich der des Grundgesetzes, knapp: "Der Oberste Rat der Ukraine im Namen des ukrainischen Volkes [...] im Bewusstsein der Verantwortung vor Gott, dem eigenen Gewissen, den früheren, heutigen und zukünftigen Generationen [...] nimmt die vorliegende Verfassung, das Grundgesetz der Ukraine, an."

Die nominatio dei hat auch die Präambel der Verfassung der Republik Polen von 1997 zum Inhalt: "In Sorge um den Bestand und um die Zukunft unserer Heimat [...] beschließen wir, das Volk Polens - sämtliche Staatsbürger der Republik, ebenso diejenigen, die an Gott glauben, welcher Quelle der Wahrheit, der Gerechtigkeit, des Guten und des Schönen ist, wie auch diejenigen die diesen Glauben nicht teilen und diese universellen Werte aus anderen Quellen ableiten - [...] im Gefühl der Verantwortung vor Gott oder vor dem eigenen Gewissen die Verfassung der Republik Polen [...]."

Die Präambel der Verfassung der Republik Albanien von 1998 lautet insoweit: "Wir, das Volk Albaniens, auf unsere Geschichte stolz und uns ihrer bewusst, in Verantwortung für die Zukunft, im Glauben an Gott und/oder andere universelle Werte [...] beschließen diese Verfassung."

Drei europäische Länder, die Schweiz, Irland und Griechenland, kennen die invocatio dei. Sie hat aber je charakteristische Unterschiede.

In der Schweizer Verfassung lautet der Gottesanruf: "Im Namen Gottes des Allmächtigen!"

Die Präambel Irlands hat christlichen Charakter: "Im Namen der Allerheiligsten Dreifaltigkeit, von der alle Autorität kommt und auf die, als unserem letzten Ziel, alle Handlungen sowohl der Menschen wie der Staaten ausgerichtet sein müssen, anerkennen Wir, das Volk von Irland, in Demut alle unsere Verpflichtungen gegenüber unserem göttlichen Herrn, Jesus Christus, der unseren Vätern durch Jahrhunderte der Heimsuchung hindurch beigestanden hat [...]". Zur Religion erklärt Art. 44 näher: "(1) Der Staat anerkennt, dass dem allmächtigen Gotte die Huldigung öffentlicher Verehrung gebührt. Er erweist Seinem Namen Ehre und Achtung und ehrt die Religion."

Die Präambel der Verfassung der Republik Griechenland lautet: "Im Namen der Heiligen, Wesensgleichen und Unteilbaren Dreifaltigkeit." In Art. 3 Abs. 1 Satz 1 heißt es: "Vorherrschende Religion in Griechenland ist die der Östlich-Orthodoxen Kirche Christi." Es folgen in den Absätzen 1-3 nähere Bestimmungen über die ökumenische Verbindung mit anderen orthodoxen Kirchen, über die innere Kirchenverfassung, über die Unveränderbarkeit des Textes der Heiligen Schrift und des Genehmigungsvorbehalts leitender kirchlicher Instanzen für Übertragungen in eine andere Sprache.

Der Strauß der Präambeln mit Gottesbezug ist also bunt. In Deutschland ist die nominatio dei denkbar knapp. Es ist heute der Gottesbezug einer interreligiös-areligiösen Bevölkerung. Eignet ihm ein rechtlicher Charakter? Das dürfte schwerlich möglich sein. Die Präambel ist die des säkularen Grundgesetzes. Hier legt der nachfolgende Verfassungstext die Präambel aus. Dann aber kann die Nennung Gottes in ihr keine Rechtsverbindlichkeit in irgendeinem Sinne beanspruchen; auch die Ergebnisse der "negativen Auslegungen" des Gottesbezuges (Absage an Staatsallmacht; Absage an den Atheismus als Staatsform) sind dem Grundgesetz selbst inhärent (in den Aussagen zu den Grundrechten, zum Rechtsstaat und zu der demokratischen Staatsform).


Gottesbezug des Grundgesetzes

Doch ist eine Vertiefung unabwendbar: Erscheint eine Bejahung rechtlicher Konsequenzen, wie mager auch immer, nicht eher zwanghaft, weil die Präambel Eingang der Verfassung ist? Wird hier übersehen, dass es "Verfassung und Verfassungsrecht" gibt? Macht es nicht gerade das Gewicht des Bezuges auf Gott aus, dass er sich nicht in Münzen des Rechtslebens schlagen lässt? Eben dies minimiert eher den Gottesbezug. Gott in das Rechtsleben einzuführen (also Gott als Rechtsbegriff unter ungezählten anderen Rechtsbegriffen), macht ihn verfügbar. Man muss wissen, mit wem man es zu tun hat.

Blicken wir auf den Gottesbezug der Präambel, so hat sie als Ausdruck der verfassunggebenden Gewalt des Volkes Religion und religiöse Spiritualität als Bestandteil vielfältigen Lebens in Deutschland anerkannt. Darin liegt keine Rechtsgarantie. Wie wären auch ihre Konturen zu bestimmen? Garantien geben Art. 4, 7 Abs. 2-5, 140 GG und Gesetze des Bundes und der Länder.

In der Präambel handelt es sich um die Anerkennung einer Faktizität. Diese ist nach der Herrschaft des nationalsozialistischen Regimes als so bedeutsam angesehen worden, dass mit ihr der Text des Grundgesetzes beginnt.

Von "den Menschen", die die Präambel neben Gott als Adressat des Bewusstseins der Verantwortung aufführt, ist in den Kommentaren nicht allzu viel die Rede. Sie bieten nicht das Faszinosum eines Gottesbezuges. Aber Gott und Mensch stehen nicht enumerativ nebeneinander, sondern die Verantwortung vor Gott bekommt durch diejenige vor den Menschen überhaupt erst greifbaren Sinn. Anders als im Blick auf die Menschen ist Verantwortung vor Gott nicht zu bewähren. Es geht hier nicht um die Exklusivität der Beziehung zwischen Mensch und Gott wie in der Liturgie oder in der Gottesversenkung eines meditativen Ordens, sondern es geht um die Polis. In jeder Präambel geht es um eben diese. Denn sie eröffnet die Verfassung dieser Polis. Es bewährt sich die Verantwortung vor Gott in der Verantwortung vor den Menschen. Nur darin liegt der Sinn, dass die Präambel "das Deutsche Volk" mit dieser Verantwortung begabt.


"Vor Gott und den Menschen"

Den Mitgliedern des Parlamentarischen Rates wird es kaum bewusst gewesen sein, dass die ausführliche Gerichtserzählung des Neuen Testaments (Matth. 25, 31-46) die mitmenschliche Dimension als die entscheidende Kategorie von Gottesverbundenheit in eindeutigen tatbestandlichen Feststellungen kulminieren lässt: "Ich bin hungrig gewesen, und ihr habt mich gespeist. Ich bin durstig gewesen, und ihr habt mich getränkt. Ich bin ein Gast gewesen und ihr habt mich beherbergt. Ich bin nackt gewesen und ihr habt mich bekleidet. Ich bin krank gewesen und ihr habt mich besucht. Ich bin gefangen gewesen und ihr seid zu mir gekommen [...]. Was ihr getan habt einem unter diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan."

Dies ist der biblische unmittelbare Bezug zur "Verantwortung vor Gott und den Menschen". Eine Trennung der Verantwortung ist nicht möglich, unbestreitbar aber ist die religiöse Akzentuierung in der Verantwortung derjenigen Menschen, in deren Bewusstsein die Verantwortung vor Gott lebendig ist.

Der Verantwortungsgedanke geht indessen, als Verfassungsgedanke ernst genommen, über den in der neutestamentischen Perikope gekennzeichneten Sinn hinaus und umfasst die Reflexion der Langzeitperspektive jedweden politischen Handelns. Dies gehört zum "Gehalt der Präambel". Sie verpflichtet die politischen Organe und legitimiert zivilgesellschaftliches Handeln.

Das Missverständnis der Trennung der Glieder "vor Gott und den Menschen" kann sich ohnehin vor dem zweiten Glied der Präambel nicht behaupten, denn die Verantwortung für den "Frieden der Welt" ist die politische Aussage der in eins zu verstehenden Verantwortung "vor Gott und den Menschen".

Dies auch um des Folgenden willen. Der Präambel folgt unmittelbar Art. 1 Abs. 1 GG: "Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen, ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt."

Die Würde des Menschen ist die norma normans des Grundgesetzes. Dass die Präambel im Plural von "den Menschen" spricht und Art. 1 vom Singular "die Würde des Menschen", bezeichnet keine Differenz. Dort war es die Selbstverständlichkeit des Gegensatzes der Einzahl Gottes zur Mehrzahl der Menschen. Jetzt befinden wir uns auf dem Gebiete des Rechts und das, was die Präambel an Verantwortung vor Gott und den Menschen intendiert, bildet Art. 1 Abs. 1 GG als "Vorrang des Individuums in seiner Würde" gegenüber dem Allgemeinen des Staates aus.


Ernst Gottfried Mahrenholz (* 1929) war Richter des Bundesverfassungsgerichts (1989-1994) und Autor von Schriften vom Verfassungsrecht bis hin zum Staatskirchenrecht. Langfassung des Artikels im Sammelband Jahrbuch des öffentlichen Rechts, Bd. 57, Mohr Siebeck 2009.
mahrenholz@raplaw.de


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 9/2009, S. 65-68
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Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka und Thomas Meyer
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. November 2009