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GRUNDGESETZ/102: Wie steht es um die Sicherheit für Opfer von Gewalt und Folter? (IPPNWforum)


IPPNWforum | 117|18 | 09
Mitteilungen der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges, Ärzte in sozialer Verantwortung e.V.

60 Jahre Grundgesetz
Wie steht es um die Sicherheit für Opfer von Gewalt und Folter?

Von Waltraud Wirtgen


Vier Jahre nach der Befreiung vom Nationalsozialismus verabschiedete der Parlamentarische Rat am 8. Mai 1949 das Grundgesetz. Nach der Nazigewaltherrschaft und dem Zweiten Weltkrieg mit vielen Millionen Toten, Verletzten, Erniedrigten und Geflüchteten sollte ein solch unsägliches Leid nie wieder möglich sein. Menschen sollten adäquat geschützt werden. An erster Stelle des Verfassungswerks mit 146 Artikeln steht daher der Schutz der Menschenwürde und die Grundrechte: die Würde des Menschen in Artikel 1, das Recht auf körperliche Unversehrtheit in Artikel 2 II und das Recht auf Asyl in Artikel 16.


Damit steht das Grundgesetz in einer Reihe mit den Bemühungen in den ersten Nachkriegsjahren, die Flüchtlingsrechte auch auf völkerrechtlicher Ebene zu installieren. Das Scheitern der Konferenz von Evian von 1938 war allen noch im Gedächtnis: damals haften 32 Staaten über Aufnahmequoten für die existenziell bedrohten jüdischen Flüchtlinge aus dem nationalsozialistischen Deutschland beraten. Doch die Staatenvertreter hatten sich weder auf die Aufnahme der Flüchtlinge, noch auf eine Erleichterung bei der Einwanderung einigen können - trotz der erkennbaren Lebensgefahr der Verfolgten.

Die Gründung der Vereinten Nationen 1945, die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte 1948 und die Magna Charta des Flüchtlingsrechts, das Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (Genfer Flüchtlingskonvention, GFK) von 1951 und eben auch das Grundgesetz: sie alle stehen für den Willen der Völkergemeinschaft, Lehren und Konsequenzen aus den Unrechtserfahrungen zu ziehen. Die neuen Festlegungen bedeuteten eine grundsätzliche Aussage für das Zusammenleben von Menschen. Sie wurden für viele Menschen in auswegloser Situation zu einer Hoffnung auf eine Besserung ihrer Lebenslage und auf Gerechtigkeit.

Anstelle eines adäquaten Schutzes und entsprechender Versorgung erleben aber Asylbewerber heute nach den eigentlichen traumatischen Ereignissen oft viele weitere retraumatisierende Situationen auf der Flucht und im Rahmen des Asylverfahrens in Deutschland. Nur drei Punkte seien hier beispielhaft angeführt, die eine Verletzung der Menschenwürde und der körperlichen Unversehrtheit bedeuten:

1. Nach frühzeitiger Ablehnung des Asylantrages mit drohender und z. T. auch durchgeführter Abschiebung und jeweils nur kurzfristigen Aufenthaltsverlängerungen während des Verfahrens sind Beratungen und psychotherapeutische Behandlungen beschränkt auf Kriseninterventionen. Eine Bearbeitung der traumatischen Erfahrungen ist nicht möglich. Auch verhindern fehlende Sprachmittler die psychiatrische Diagnostik. Zahlreiche Asylbewerber begehen Selbstmord oder Selbstmordversuche.

2. Medizinische Leistungen sind nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylblG)) beschränkt auf eine Notfallbehandlung, das bedeutet Ausschluss der zumeist chronischen, traumatisch bedingten Erkrankungen.

3. Die Unterbringung in Sammelunterkünften erinnert an Lager im Herkunftsland. Ohne Rückzugsmöglichkeit ist das neue Leben in Deutschland meist verbunden mit einem hohen Lärmpegel und schlechten hygienischen Verhältnissen. Nächtliche Polizeirazzien in den Unterkünften und das Miterleben der zwangsweisen Abschiebung von Mitbewohnern am frühen Morgen sind weiter traumatisierend.


Hinzu kommen Arbeitsverbot, fehlende integrative Unterstützung und Fremdenfeindlichkeit. Nicht selten ist von besonders schutzbedürftigen und nun erneut tief verletzten Flüchtlingen zu hören: Wir wollten nach Deutschland, wegen der Demokratie und dem dort herrschenden Recht, aber die letzte Zeit in Deutschland war fast schlimmer als alles zuvor.

EU-Richtlinien wie z.B. Richtlinie 2003/9/EG sehen vor, dass Mitgliedstaaten die spezielle Situation von solchen Personen zu berücksichtigen haben, die Folter, Vergewaltigung oder sonstige schwere Formen psychischer, physischer oder sexueller Gewalt erlitten haben. Die Staaten haben dafür Sorge zu tragen, dass diese Personen die erforderliche medizinische und sonstige Hilfe erhalten. Bisher finden diese Richtlinien im Asylverfahren jedoch keine Berücksichtigung.

Durch Zuwendung und Anerkennung des erlittenen Leids und Unrechts, durch Schutz und Sicherheit und durch professionelle Behandlung könnten schwere seelische Verletzungen bei Kindern und Erwachsenen geheilt oder gelindert werden. Aus Opfern können Überlebende werden, die ihr Leben und ihre Zukunft meistern. Es stünde Deutschland gut an, wenn es die vor 60 Jahren im Grundgesetz festgeschriebenen Grundrechte in jeder Hinsicht umsetzen würde, wenn es Vorbild dafür wäre, wie Menschenrechte nach innen und außen vertreten und gelebt werden können.


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Quelle:
IPPNWforum | 117|18 | 09, S. 31
Herausgeber:
Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges,
Ärzte in sozialer Verantwortung e.V. (IPPNW), Sektion Deutschland
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veröffentlicht im Schattenblick zum 19. Dezember 2009