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GRUNDGESETZ/104: Das Bundesverfassungsgericht als letzte Instanz deutscher Politik? (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 12/2009

Analyse
Das Bundesverfassungsgericht als letzte Instanz deutscher Politik?

Von Karsten Rudolph


Der aus einer unübersichtlicher werdenden Parteienlandschaft erwachsenden Entscheidungsschwäche der anderen beiden Gewalten steht eine gestärkte Stellung der Dritten Gewalt, v.a. des Bundesverfassungsgerichts gegenüber. Welche Konsequenzen hat diese Verschiebung für das politische System?


Dass politische Entscheidungsprozesse in modernen Gesellschaften kompliziert verlaufen, ist am Beispiel der für die Bürger anscheinend immer undurchsichtiger werdenden politischen Ordnung der Bundesrepublik und ihrer länger werdenden Verhandlungswege schon oft beklagt und ausgiebig beschrieben worden. In den seltensten Fällen wird allerdings die Rolle der Dritten Gewalt und insbesondere des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) im System der politischen Verflechtungen beleuchtet. Die Urteile hoher Gerichte und des höchsten Gerichtsfällen für die Beteiligten gleichsam vom Himmel, obwohl die gerichtliche Überprüfung gesetzgeberischen Handelns längst zu einer Selbstverständlichkeit geworden ist. Denn nicht selten folgt einem gewundenen Parcours aus Partei- und Fraktionsbeschlüssen, Koalitionsrunden, Vermittlungsergebnissen und Parlamentsentscheidungen eine Klagewelle, an deren Ende ein Urteilsspruch aus Karlsruhe steht.

Jüngstes Beispiel hierfür ist das Urteil des Bundessozialgerichts, in dem die Höhe der Hartz IV-Leistungen für Kinder als verfassungswidrig angenommen wird und das im Rahmen eines konkreten Normenkontrollverfahrens an das BVerfG zur letzten Entscheidung weiter gereicht wurde.

Weil sich mit einer Verfassungsbeschwerde prinzipiell jeder Bürger direkt an das höchste deutsche Gericht wenden kann, ist dieses schon mit einem überlasteten Amtsgericht verglichen worden. Obwohl über 95% der Tausenden von Verfassungsbeschwerden scheitern, die Jahr für Jahr in Karlsruhe eingehen, entfaltet dies keine abschreckende Wirkung. Ob die Verhängung von Strafgeld wegen missbräuchlicher Anrufung des BVerfG - wie kürzlich in einem asylrechtlichen Beschwerdeverfahren geschehen - die Flut der Beschwerden eindämmt, darf bezweifelt werden. Denn die Umdeutung von politischen Konflikten in Rechtsfragen ist für die deutsche politische Kultur charakteristisch; ein Gang nach Karlsruhe liegt deswegen stets nahe.

Wie auch immer: Karlsruhe ist das mächtigste Amtsgericht der Welt. Mehr als der Bundespräsident ist es Hüter der Verfassung. Es entscheidet über in Verfassungsfragen umgedeutete politische Konflikte und als politische Konfliktlagen gedeutete verfassungsrechtliche Streitfragen. In der rechtsstaatlichen Demokratie der Bundesrepublik sollte man es deshalb als das anerkennen, was es ist: als einen zentralen politischen Akteur, nicht nur mit Vetobefugnissen ausgestattet sondern auch mit Weisungsrechten.

Nicht nur, dass das Verfassungsgericht in der politischen Ordnung der Bundesrepublik eine Schlüsselstellung als oberes Verfassungsorgan besitzt, Recht in politischen Streitfragen spricht, Grundrechte neu schöpft, Gesetze überprüft oder auf die Einhaltung der Kompetenzordnung im föderalen System achtet. Es kann auch die Machtgewichte zwischen politischen Akteuren verschieben, so etwa in seinem AWACS-Urteil zwischen Regierung und Parlament. Oder in seinem letzten Urteil zum europäischen Vertragswerk: Hier hat es die Gewichte zugunsten des Parlaments und sich selbst verschoben.

Darüber hinaus ist das Verfassungsgericht in nahezu jedem konkreten Willens- und Entscheidungsbildungsprozess als stiller Akteur anwesend: Sei es, dass die Parteien oder Parlamente bislang ergangene oder aber mögliche Entscheidungen des Gerichts in ihre politische Auseinandersetzungen von vornherein mit einbeziehen, oder sei es, indem sie kaum verhüllt beabsichtigen, einmal gefasste Mehrheitsbeschlüsse in Karlsruhe gleich wieder zu Fall zu bringen oder unangenehme politische Entscheidungen auf Karlsruhe abzuwälzen suchen. Bisweilen greift Karlsruhe direkt in politische Verfahrenregeln ein, so als es am 13. Februar 2008 die jahrzehntelang unbeanstandet geltende Fünf-Prozent-Hürde bei den Kommunalwahlen in Schleswig-Holstein für verfassungswidrig erklärte.

Selbst bei der Formulierung politischer Zielsetzungen - den politischen Inhalten, mit denen Parteien und Parlamentsfraktionen oder Regierungen auftreten, um gesellschaftliche Verhältnisse nach ihren Wünschen und Interessen zu gestalten - ist Karlsruhe nicht wegzudenken. Allein dadurch, dass das Verfassungsgericht dem Gesetzgeber vermehrt konkrete Aufgaben zugewiesen hat, etwa indem es ihn zu einer verfassungskonformen Regelung der Vermögenssteuer anhält, greift Karlsruhe unmittelbar in die Definition von Inhalten der politischen Auseinandersetzung ein.

Der stark gewachsene Einfluss des BVerfG auf die Politik wurde in den letzten Jahren aber noch in anderer Hinsicht spürbar. 1998 verfügte Karlsruhe eine steuerliche Freistellung des Erziehungs- und Betreuungsaufwands für Eltern und gab dabei präzise Beträge und eine genaue zeitliche Stufung der Umsetzung seines Urteils vor. Der neu gewählte Bundestag verlor damit auf einen Schlag ein Fünftel des von ihm zu verabschiedenden Haushalts. Kaum Jemals zuvor hatte es einen tieferen Griff in die Kasse des Bundes und einen größeren Einschnitt in das Haushaltsrecht des Bundestages von außen gegeben.

2008 urteilten die Karlsruher Richter, der Sonderausgabenabzug von Krankenversicherungsbeiträgen müsse den existenznotwendigen Aufwand des Steuerpflichtigen berücksichtigen und es verpflichtete den Gesetzgeber, bis zum 1. Januar 2010 eine entsprechende steuerpolitische Neuregelung herbeizuführen. Die hierdurch erwarteten Einnahmeausfälle belaufen sich auf rund 9 Milliarden Euro, eine Summe, die an das Volumen des Haushalts von Sachsen-Anhalt heranreicht. Ebenfalls 2008 erklärte Karlsruhe die Neuregelung der Pendlerpauschale für unvereinbar mit dem Grundgesetz. 20 Millionen Pendler freuten sich über diese Entscheidung und dem Bundesgesetzgeber, der auf eine verfassungskonforme Regelung aus konjunkturpolitischen Gründen verzichtete, entgehen seitdem drei Milliarden Euro per anno. Die Kontrolle, ob das Geld der Steuerzahler sinnvoll verwendet wird, üben somit nicht nur die Abgeordneten sondern längst auch die Richter aus. Aus dem Recht der Gesetzesüberprüfung erwuchs der direkte Einfluss auf das eigentlich dem Parlament vorbehaltene Recht der Haushaltsplanung.

Bis zu Beginn der 80er Jahre lagen die politischen Verhältnisse so klar, wie die politische Beurteilung der höchstrichterlichen Entscheidungen: Entweder führte die Union oder die SPD die Bundesregierung und die Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat ordneten sich entlang der im Bundestag eingegangenen Koalition. Höchstrichterliche Urteile konnten leichthändig auf das Konto der einen oder der anderen Partei gebucht werden. Durch den Umbruch der Parteienlandschaft und eine Vervielfältigung der Koalitionsmuster wälzt sich das politische Gefüge um, in dem das BVerfG Recht spricht und es erweitert dessen Handlungsspielraum.

Schon heute wirkt das Verfassungsgericht wie ein Gewinner der Ausdifferenzierung der bundesdeutschen Parteienlandschaft. Je weniger politische Richtungen eindeutig zu erkennen sind, je schwerer politische Führung in einem Fünf- oder Sechs-Parteien-System durchzusetzen ist und je unklarer die politischen Fronten zwischen fünf und mehr Parteien verlaufen, umso stärker erscheinen die Entscheidungen des einen höchsten Gerichts. Die politikverdrossenen Bürgerinnen und Bürger finden allein schon am Glanz gemeinsam vorgetragener endgültiger Entscheidungen mehr Gefallen als an zähen Kompromissen zwischen mehreren Parteien, die im Ruch kurzfristig erzielter taktischer Vorteile oder der nur dilatorischen Behandlung grundlegender politischer Richtungsfragen stehen. Die Zersplitterung des Parteiensystems beugt gleichzeitig der Gefahr einer noch in den Beratungen zum Grundgesetz beschworenen Konzentration der politischen Macht und daraus entstehenden "Tyrannei der Mehrheit" vor, der ursprünglich vor allem durch einen starken Verfassungsgerichtshof begegnet werden sollte. Es bleibt eine offene, aber für unsere politische Ordnung nichtsdestoweniger fundamentale Frage, ob und inwieweit die Dritte Gewalt bestrebt sein wird, die aus einer unübersichtlicher werdenden Parteienlandschaft erwachsende Entscheidungsschwäche der anderen beiden Gewalten zu begegnen. Sie kann sich Zurückhaltung auferlegen oder ihre unbestrittene und gestärkte Stellung ausspielen.


Karsten Rudolph (* 1962) ist Privatdozent für Neuere und Neueste Geschichte an der Ruhr-Universität Bochum und Abgeordneter im Landtag von Nordrhein-Westfalen.
karsten.rudolph@landtag.nrw.de


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 12/2009, S. 13-15
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Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka und Thomas Meyer
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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. Februar 2010