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INTERNATIONAL/088: Argentinien - Empörung über Freisprüche im Verón-Menschenhandelsverfahren (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 12. Dezember 2012

Argentinien: Empörung über Freisprüche im Verón-Menschenhandelsverfahren

von Marcela Valente



Buenos Aires, 12. Dezember (IPS) - In Argentinien sind im Entführungsfall María de los Ángeles 'Marita' Verón alle 13 Angeklagten aus Mangel an Beweisen freigesprochen worden. Das Urteil sorgt landesweit für Empörung. Die Klägerin und Mutter des Opfers, Susana Trimarco, will nun politisch gegen die verantwortlichen Richter vorgehen, denen sie Bestechlichkeit vorwirft.

Mit vier Stunden Verspätung wurde das Urteil am 11. Dezember von einem Gericht in der nordwestargentinischen Provinz Tucumán verkündet. Da den drei zuständigen Richtern offenbar bewusst war, dass ihre Entscheidung Proteste auslösen würde, verlasen sie auch einen Teil der Begründung, die sie eigentlich erst am 18. Dezember hätten vorlegen müssen.

Ihnen zufolge konnte die Anklage nicht glaubhaft nachweisen, dass die Entführung der jungen Frau tatsächlich stattgefunden hat. Ebenso wenig habe es für eine Verurteilung der Angeklagten wegen Förderung der Prostitution gereicht. Marita Verón war zum Zeitpunkt ihres Verschwindens 2002 23 Jahre alt. Bisherigen Erkenntnissen zufolge wurde sie von Menschenhändlern in die Prostitution gezwungen.

Die Anhörungen in dem mündlichen und öffentlichen Verfahren waren am 8. Februar in Tucumán angelaufen, der Provinz, in der das Opfer verschleppt wurde. Seither sind mehr als 100 Personen als Zeugen aufgetreten, darunter auch zehn Frauen, die selbst aus der Zwangsprostitution befreit werden konnten. Diese wollen Marita Verón in einem Bordell in der Nachbarprovinz La Rioja gesehen und gesprochen haben.


Richtern Konsequenzen angedroht

Trimarco hatte auf die Verurteilung aller Angeklagten gehofft, für die die Staatsanwaltschaft zwölf- bis 26-jährige Haftstrafen gefordert hatte. Sie verließ den Gerichtssaal noch vor Verlesung der Urteilsbegründung. Sie werde keine Ruhe geben, bis die drei Richter, die sie als Verbrecher bezeichnete, ihrer Ämter enthoben würden, sagte sie. Die Angeklagten selbst weinten vor Erleichterung.

"Dieses Urteil ist ein klares Indiz für das Zusammenspiel von Justiz und Menschenhandel", sagte Fabiana Túñez von Haus der Begegnung, einer Organisation gegen Mädchen- und Frauenhandel. "Mit dem Urteil wird der Straflosigkeit Vorschub geleistet. So wie es in fast allen Fällen geschlechtsspezifischer Gewalt der Fall ist, hat die Justiz einmal mehr den aus den Fängen von Menschenhändlern befreiten Opfern keinen Glauben geschenkt."

Die Frauenorganisation will mit einer Kundgebung gegen das Urteil protestieren und Maßnahmen zum Schutz der ehemaligen Sexsklavinnen einfordern. Das Urteil hat diese Frauen in eine tiefe Verzweiflung und Angst gestürzt, wie Trimarco berichtete.

Marita Verón hatte am 3. April 2002 ihre Wohnung verlassen, um einen Frauenarzt aufzusuchen. Seitdem ist sie verschwunden. Zeugen zufolge wurde sie entführt, vergewaltigt, unter Drogen gesetzt und in La Rioja in die Prostitution gezwungen. Angeblich wurde ihr Aussehen verändert und soll ein Kind von einem ihrer Entführer haben.

Drei Tage nach ihrem Verschwinden hatte sich bei ihrer Mutter ein anonymer Anrufer gemeldet, dem zufolge Marita Verón von zwei Männern brutal in einen Leihwagen der Firma 'Cinco estrellas' gestoßen worden war. Der mutmaßliche Fahrer befand sich unter den 13 Angeklagten.

Daniel Verón, der Vater des Entführungsopfers, hatte seine Tochter bis zu seinem Tod vergeblich gesucht. Auch seine Frau ließ nicht locker. Ihre Bemühungen, die Tochter zu finden, haben sie in Argentinien zu einer Berühmtheit gemacht. Sie wurden in einer erfolgreichen Telenovela und einem Dokumentarfilm verarbeitet. In mühevoller Kleinarbeit hatte Trimarco Beweismittel zusammengetragen, um die sechs Frauen und sieben Männer wegen Freiheitsberaubung und Förderung der Prostitution vor Gericht zu bringen.

Dass die Anklage nicht auf Menschenhandel lautete, lag daran, dass ein entsprechendes Gesetz erst 2008 verabschiedet wurde. Trimarco hat mit ihrer María-de-los-Angeles-Stiftung den Menschenhandel in Argentinien sozial und politisch sichtbar gemacht und zahlreiche Politiker, Justizbeamte und Polizisten wegen Beteiligung an den Verbrechen angezeigt. Darüber hinaus recherchierte sie selbst - verkleidet - im Milieu und befreite auf diese Weise 129 junge Frauen aus der Prostitution.

Auch ging Trimarco Hinweisen nach, denen zufolge ihre Tochter nach Spanien verbracht worden sei. Bei zwei Razzien von Interpol in Madrid konnten Dutzende Lateinamerikanerinnen aus der Prostitution befreit werden. Doch Marita Verón war nicht dabei.

Der Fall Verón hat zu zahlreichen Maßnahmen gegen den Menschenhandel geführt. Auch das Gesetz von 2008 gehört dazu. Frauenorganisationen zufolge hat es jedoch den Makel, dass es zwischen Opfern unter und über 18 Jahren unterscheidet. Die Kritik hat dazu geführt, dass ein neues Gesetz formuliert wurde, das aber nie im Parlament debattiert und diesen Monat ad acta gelegt wurde.


Fortschritte bei der Befreiung der Opfer

Túñez zufolge konnten erhebliche Fortschritte bei der Befreiung von Opfern des Frauenhandels erzielt werden. Es seien besondere Abteilungen gegen den Frauenhandel eingerichtet und Aufklärungsprogramme durchgeführt worden. Dennoch geht der Mädchen- und Frauenhandel vor allem in den ärmsten Provinzen im Norden des Landes weiter. Dort werden die Opfer zur Sexarbeit in Bordellen gezwungen, die als Bars, sogenannte 'whiskerias', getarnt sind.

"Wenn im Verón-Fall schon ein solches Urteil gefällt wird, was haben die weniger prominenten Familien anderer Opfer von der Justiz zu erwarten?", fragt Túñez. (Ende/IPS/kb/2012)


Links:

http://www.lacasadelencuentro.org/
http://www.fundacionmariadelosangeles.org/esp/home.htm
http://www.ipsnoticias.net/nota.asp?idnews=102068

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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. Dezember 2012