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INTERNATIONAL/112: Argentinien - Gerichte verhandeln Kindsraub während der Franco-Diktatur in Spanien (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 5. September 2013

Argentinien: Gerichte verhandeln Kindsraub während der Franco-Diktatur in Spanien

von Marcela Valente


Buenos Aires, 5. September (IPS) - Bald 40 Jahre sind seit dem Ende der Diktatur in Spanien vergangen, doch der unter dem Militärherrscher Francisco Franco (1939-1975) massenhaft betriebene Handel mit geraubten Babys liegt weiterhin im Dunkeln. Nun sollen argentinische Gerichte Licht in die Angelegenheit bringen.

"In meinem Land wurden die meisten Klagen abgewiesen. Deshalb haben wir uns dazu entschlossen, die argentinischen Gerichte anzurufen", sagte die Spanierin Soledad Luque. Ihr Zwillingsbruder Francisco war 1965 kurz nach seiner Geburt für tot erklärt worden, ohne dass sich die Eltern vom Tod des Sohnes selbst überzeugen konnten.

Luque hatte am 2. September im Zusammenhang mit einem Prozess über Menschenrechtsverletzungen während des spanischen Bürgerkrieges (1936-1939) und der Franco-Ära vor der argentinischen Richterin María Romilda Servini ausgesagt. Verbrechen gegen die Menschlichkeit können nach internationalem Recht überall auf der Welt geahndet werden.

Luque und ihr Bruder waren in der Entbindungsklinik 'Maternidad Provincial de O'Donnell' in der spanischen Hauptstadt Madrid zur Welt gekommen. Francisco musste länger im Brutkasten bleiben. Wenige Tage später wurden die Eltern informiert, dass der Sohn an Meningitis gestorben sei. Die Forderung der Familie nach einer Herausgabe der Leiche wurde mit der Begründung abgelehnt, diese sei bereits eingeäschert worden. Doch auch die Urne wurde den Eltern nie ausgehändigt.


Verfahren in Spanien eingestellt

Nachdem in den letzten Dekaden immer mehr solcher Fälle publik wurden, wollte Luque mehr über das Schicksal ihres Bruders erfahren. 2010 forderte sie die Staatsanwaltschaft der Provinz Madrid zur Aufnahme von Ermittlungen auf. Doch das Verfahren wurde binnen eines Jahres "mangels Beweisen" eingestellt.

Familien, die von den spanischen Gerichten ähnlich abgefertigt wurden, begannen sich daraufhin über die sozialen Netzwerke zu organisieren. Untersuchungen, die diese Organisationen auf der Grundlage offizieller Daten durchführten, ergaben, dass es zwischen 1960 und 1990 in Spanien etwa zu zwei Millionen Adoptionen gekommen war. In vielen Fällen sei Geld bezahlt worden.

Trotz der Schwierigkeit, genaue Angaben über die Zahl der involvierten Kinder zu machen, schätzen Juristen, dass 15 Prozent oder 300.000 Mädchen und Jungen kurz nach ihrer Geburt ihren Eltern weggenommen und an Adoptiveltern weitervermittelt wurden. "Mir machen die Zahlen Angst", meinte dazu Luque. "Vielleicht wurden sogar noch mehr Kinder geraubt. Wir haben die spanische Staatsanwaltschaft vergeblich um Auskunft gegeben."

Die Klägerseite verfolgt in Argentinien die Strategie, nachzuweisen, dass es sich bei den geraubten Kindern um die Nachkommen weiblicher Gefangener des Franco-Regimes handelt, die am Spanischen Bürgerkrieg auf der Seite der Republikaner gekämpft hatten. Luque zufolge geht man davon aus, dass es bis 1952 30.000 solcher Fälle waren. Für die Zeit danach sind reelle Schätzungen schwierig, zumal sich diese Verbrechensform, an der Institutionen der spanischen Regierung und der einflussreichen katholischen Kirche direkt beteiligt waren, auf Kinder armer Familien oder alleinerziehender Mütter konzentrierte.

Auf der Suche nach Francisco hat die Zwillingsschwester die Vereinigung 'Alle geraubten Kinder sind auch meine Kinder' gegründet. Am 2. September forderte sie die zuständige Richterin im Auftrag von insgesamt neun Organisationen auf, Licht in das Schicksal von hunderten spanischen Säuglingen zu bringen.

In Spanien gibt es eine Vielzahl von Organisationen von Angehörigen vermisster Kinder. Doch nicht alle wollen die Fälle in einen Zusammenhang mit den Verbrechen der Franco-Diktatur gestellt sehen. Sie streben die strafrechtliche Verfolgung der Kindsentführungen an. "Wir haben uns dem Fall zur Untersuchung der Gräuel der Franco-Ära angeschlossen, weil wir uns ebenfalls als Opfer sehen", meinte Luque, Teil einer Delegation Betroffener und Juristen einschließlich des in Madrid lebenden argentinischen Menschenrechtsanwalts Carlos Slepoy, die der argentinischen Richterin Rede und Antwort standen.

In Spanien wurden bereits tausende Klagen angestrengt, doch nur in einem einzigen Fall Fortschritte erzielt. Die katholische Nonne María Gómez, die wegen Kindsraub in den Wöchnerinnenstationen Santa Cristina und San Ramón in Madrid vor Gericht stand, wurde für schuldig befunden, starb aber noch vor Abschluss des Verfahrens.

Ziel des Argentinienbesuchs von Luque und ihren Mitstreitern ist die Wiederaufnahme des ursprünglichen Verfahrens zur Ahndung der Menschenrechtsverletzungen des Franco-Regimes. Die Rückschläge im Verlauf des Prozesses führt Slepov vor allem auf den fehlenden politischen Willen der spanischen Regierung zurück, Licht ins Dunkel zu bringen.


Kindsraub als ein Verbrechen der Franco-Ära

Das Verfahren war 2010 in Buenos Aires angestrengt worden, als die Familien zweier Hinrichtungsopfer des Frankismus auf der Grundlage der internationalen Gerichtsbarkeit Klage eingereicht hatten. Seitdem nimmt die Zahl der Kläger immer weiter zu.

Das Verfahren ist die Antwort argentinischer und spanischer Menschenrechtsorganisationen auf die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs Spaniens, den ehemaligen Richter Baltasar Garzón wegen Rechtsbeugung seines Amtes zu entheben, weil er den Verbleib von 113.000 Verschwundenen des spanischen Bürgerkriegs und der ersten Jahre unter Franco untersuchen wollte.

Servini forderte daraufhin Informationen von den spanischen Gerichten an. Als man ihr mitteilte, dass dort keine Menschenrechtsprozesse vorangebracht wurden, plante sie eine Reise nach Madrid. Doch Argentiniens Oberster Gerichtshof verweigerte der Richterin die beantragten Reisezuschüsse, woraufhin man sich schließlich auf eine Videokonferenz einigte.

Kläger und Zeugen fanden sich daraufhin in der argentinischen Botschaft ein, um ihre Aussage zu machen, während die Richterin ihre Fragen von Buenos Aires aus stellte. Doch eine Beschwerde des spanischen Außenministeriums bereitete den Anhörungen ein vorzeitiges Ende.


Argentinische Solidarität mit spanischen Angehörigen

Trotz aller Schwierigkeiten kommt das Verfahren in Argentinien aufgrund einer breiten Unterstützung durchaus voran, wie Slepoy versicherte. "Es ist das einzige auf der Welt, das sich die Aufklärung der Verbrechen der Franco-Zeit zum Ziel gesetzt hat. Deshalb erweckt es so hohe Erwartungen", betonte der argentinische Menschenrechtsanwalt.

Die spanische Delegation, die sich Anfang des Monats in Buenos Aires einfand, wurde herzlich willkommen geheißen. Am 28. August hatte das argentinische Abgeordnetenhaus mitgeteilt, dass es die Menschenrechtsverbrechen des Franco-Regimes und die Straflosigkeit für die Täter "energisch zurückweist".

Luque traf sich mit der Vorsitzenden der Großmütter der Plaza de Mayo, Estela Barnes de Carlotto. Der Menschenrechtsorganisation ist es gelungen, etwa 100 Frauen und Männer aufzuspüren, die als Kinder ihren während der argentinischen Militärdiktatur gefangenen Müttern weggenommen oder mit ihren Eltern verschleppt worden waren, um dann ein Leben unter falscher Identität zu leben.

Wie Luque betonte, gibt es einen gravierenden Unterschied zwischen dem argentinischen und dem spanischen Kindsraub. In Argentinien hätten sich die Unterdrücker aus den Reihen der Diktatur der Kinder bemächtigt. In Spanien hingegen hätten die Adoptiveltern nicht gewusst, dass die Kinder geraubt worden seien. Deshalb zielt das Verfahren der spanischen Angehörigen nicht auf die Adoptivfamilien, sondern auf die staatlichen und religiösen Strukturen, die die Kindsentführungen möglich machten. (Ende/IPS/kb/2013)


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http://www.ipsnews.net/2013/09/spanish-baby-theft-case-crosses-atlantic/
http://www.ipsnoticias.net/2013/09/denuncia-de-esquema-franquista-de-robo-de-bebes-cruza-el-oceano/

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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 5. September 2013
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. September 2013