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INTERNATIONAL/128: Mexiko - Vergewaltigungsopfer von Justiz im Stich gelassen (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 30. Juni 2014

Mexiko: Vergewaltigungsopfer von Justiz im Stich gelassen

von Daniela Pastrana


Bild: © Daniela Pastrana/IPS

Yakiri Rubí Rubio tötete ihren Vergewaltiger in Notwehr
Bild: © Daniela Pastrana/IPS

Mexiko-Stadt, 30. Juni (IPS) - "Ich möchte nur noch raus aus der Sache", sagt Yakiri Rubí Rubio. Die 21-jährige Mexikanerin steht vor Gericht, weil sie ihren Vergewaltiger getötet hat. Dass sie aus Notwehr handelte, wird zwar von niemandem bezweifelt. Dennoch drohen ihr 20 bis 60 Jahre Haft.

Rubio lebt in Tepito, einem der gefährlichsten Viertel von Mexiko-Stadt. Am Abend des 9. Dezembers 2013 befand sie sich auf dem Weg zu einer Freundin, als sie auf der Straße von zwei Männern mit dem Messer bedroht und auf einem Motorrad zu einem Hotel verschleppt wurde, wie das Opfer später der Polizei berichtete.

Beide Männer hätten sie geschlagen, danach sei sie von dem 90 Kilo schweren Miguel Angel Anaya vergewaltigt worden. Der Bruder des 37-Jährigen, Luis Omar Anaya, ging derweil nach draußen, um eine Zigarette zu rauchen. Als es Rubio gelang, ihren Peiniger mit dessen eigenem Messer im Bauch- und Halsbereich zu verletzen, floh dieser blutüberströmt auf seinem Motorrad.

Die junge Frau suchte umgehend Hilfe bei der Polizei. Blutend und halb nackt erreichte sie ein Büro der Staatanwaltschaft, das nur drei Häuserblöcke von dem Hotel entfernt ist. Während ihre Verletzungen - darunter eine 14 Zentimeter lange Schnittwunde am Arm - behandelt wurden, erschien Luis Omar Anaya und beschuldigte sie, seinen Bruder im Zuge eines Beziehungsstreites getötet zu haben.


"Legitime Notwehr, exzessive Gewalt"

Obwohl Rubios Verteidiger darauf hinwiesen, dass ihre Mandantin lesbisch ist, wurde sie verhaftet und in ein Frauengefängnis gesperrt. Drei Monate später erklärte ein Richter, dass sie "aus legitimer Notwehr exzessive Gewalt" angewendet habe und verhängte eine Kaution in Höhe von 10.000 US-Dollar, die ihre Familie mit großer Mühe aufbrachte.

Solange das Verfahren gegen Rubio nicht abgeschlossen ist, muss sie sich wöchentlich bei der Polizei melden. Sie traut sich nur noch in Begleitung ihrer Eltern aus dem Haus, weil sie und ihre Familie fortwährend bedroht werden. "Sie ist von einem Gefängnis in das nächste gekommen", meint dazu Marina Beltrán, ihr ehemaliges Kindermädchen.

Luis Omar Anaya bestreitet jegliche Beteiligung an der Entführung. Er behauptet, sich in seiner nahe dem Hotel gelegenen Wohnung aufgehalten zu haben, als sein schwerverletzter Bruder, dem Tode nahe, zu ihm gekommen sei.

Am 23. Juni dieses Jahres stellte Anaya bei einem Bundesrichter den Antrag, Rubios Freilassung auf Bewährung zu widerrufen. Darüber muss binnen 90 Tagen entschieden werden. Anayas Anwalt war nicht für eine Stellungnahme erreichbar.

Für Frauenrechtsorganisationen ist Rubio zur Symbolfigur des Kampfes gegen den Machismo im mexikanischen Justizwesen geworden. Es sei gang und gäbe, dass Frauen, die eine Vergewaltigung zur Anzeige brächten, verunglimpft würden, heißt es. "Tausende Frauen wurden missbraucht und getötet, doch ihre Mörder laufen frei herum. Doch ein Vergewaltigungsopfer, das in Notwehr handelt, kommt ins Gefängnis, während einer der Angreifer weiterhin in Freiheit lebt", kritisierte die Journalistin und Aktivistin Lydia Cacho.

In dem lateinamerikanischen Land mit etwa 118 Millionen Einwohnern werden statistisch gesehen jeden Tag mindestens sechs Frauen umgebracht. Bei den Gewalttaten handelt es sich zur Hälfte um Feminizide - aus Sexismus und Frauenhass begangene Morde an Frauen.

Der Begriff 'Feminizid' kam erstmals im Zusammenhang mit den Frauenmorden in Ciudad Juárez im nordmexikanischen Bundesstaat Chihuahua auf. In Chihuahua ist der Anteil von Frauenmorden um das 15-Fache höher als im weltweiten Durchschnitt. Und das Problem verschärft sich weiter. Laut dem Bericht 'Von Überlebenden zu Verteidigerinnen: Frauen trotzen der Gewalt in Mexiko, Honduras und Guatemala' nahm allein zwischen 2006 und 2012 die Zahl der Feminizide in Mexiko um 40 Prozent zu.


Verbreitete Straffreiheit

Jedes Jahr werden in Mexiko etwa 15.000 Vergewaltigungen bekannt, doch nur in ungefähr 2.000 Fällen kommt es tatsächlich zu einem Gerichtsverfahren. In weniger als 500 Fällen werden die Täter verurteilt, wie aus dem Report über Gewalt und Feminizide in Mexiko für den Zeitraum 1985 bis 2010 hervorgeht. Der Bericht wurde von dem mexikanischen Parlament, Regierungsbehörden und der UN-Organisation 'U.N. Women' erstellt.

Die tatsächliche Situation ist weit gravierender. Nach Informationen, die 'Amnesty International' im Juli 2012 dem UN-Ausschuss für die Beseitigung der Diskriminierung der Frau (CEDAW) vorlegte, erstatten lediglich zwölf bis 15 Prozent der vergewaltigten Frauen und Mädchen Anzeige. Amnesty liegen keine Beweise dafür vor, dass die Zahl der Vergewaltigungen zurückgeht oder dass mehr Täter verurteilt werden.

In Rubios Fall nahm sich die Staatsanwaltschaft neun Tage Zeit, um ein Ermittlungsverfahren einzuleiten und den Fall an eine Sonderbehörde zu verweisen, die Gewaltverbrechen an Frauen untersucht. Das Opfer wurde weder von einem Gynäkologen untersucht, noch erhielt es psychologische Unterstützung oder die 'Pille danach' zur Verhinderung einer unerwünschten Schwangerschaft, so wie es die Gesetze im Bundesdistrikt Mexiko-Stadt vorsehen.

Die Strafverteidigerin Ana Katiria Suárez, die Rubio in dem Verfahren unentgeltlich vertritt, führt die unterlassene Hilfeleistung auf den Machismo im Lande zurück. Vor allem bei weiblichen Vergewaltigungsopfern sei von "exzessiver Gewalt" bei legitimer Notwehr die Rede, sagt sie.

Als Präzedenzfall gilt ein Vorfall vom Februar 1996 im Bundesstaat Mexiko. Nach einer Party erschoss eine junge Frau einen Freund ihres Freundes, der sie vergewaltigen wollte. Ein Richter entschied dann, dass der stark alkoholisierte Angreifer nicht zurechnungsfähig gewesen sei. Die Frau, die deutlich weniger Alkohol im Blut hatte, wurde dagegen voll zur Verantwortung gezogen.


Schadenersatzforderungen der Täterfamilie

In Rubios Fall hat die Einstufung 'exzessive Gewalt' verhindert, dass sie von jeglicher Schuld freigesprochen wurde. Sie muss der Familie des Vergewaltigers nun mehr als 28.000 Dollar 'Schadenersatz' zahlen. Ihre Anzeige wegen Vergewaltigung wird dagegen derzeit nicht weiterverfolgt, weil die zuständige Staatsanwaltschaft der Ansicht ist, dass der Mann vollständig für seine Tat gebüßt hat. Rubio kann keine Entschädigung erwarten, und der zweite Angreifer muss nicht damit rechnen, zur Verantwortung gezogen zu werden.

Sechs Monate nach der Tat kämpfen Rubio und ihre Familie an zwei Fronten. Zum einen wollen sie erreichen, dass Rubio freigesprochen und entschädigt wird. Zum anderen wollen sie wieder zu einem normalen Leben ohne Angst zurückfinden. (Ende/IPS/ck/2014)


Links:

http://www.ipsnews.net/2014/06/mexico-rape-victims-face-prison-time-for-self-defence/
http://www.ipsnoticias.net/2014/06/ser-violada-en-mexico-puede-llevarte-a-la-carcel/

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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 30. Juni 2014
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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. Juli 2014